Abschied von der Monokultur

Genf in der Schweiz
Genf in der Schweiz © Erich Westendarp – pixabay.com

Handel und Immobilien
Konsum

Richard Haimann

Auch der Schweizer Einzelhandel kämpft sich durch die coronabedingte Handelskrise. Viele Unternehmen haben bereits Konkurs angemeldet. Klassische Retail-Objekte werden immer unwirtschaftlicher. Inzwischen setzt sich die Erkenntnis durch: Die Zukunft gehört gemischt genutzten Immobilien


Wo bis Ende Januar 2020 der »Manor«, eine Filiale der größten Schweizer Warenhauskette Manor AG, in der Zürcher Bahnhofstraße seine Waren feilbot, ragen heute Gerüste in den Himmel der Limmatstadt. Jahrelang hat der Mietstreit zwischen dem Warenhauskonzern als Nutzer und der Swiss Life als Eigentümerin Schlagzeilen gemacht und Gerichte beschäftigt. Nun, nach dem Auszug des Eigentümers, zu dem auch Modelabels wie Aigle, Gant und Lacoste gehören, investiert der Versicherungskonzern mehr als 100 Millionen Franken, verbaut 5.500 Kubikmeter Beton und 650 Tonnen Stahl, um dem markanten Gebäude bis 2023 neues Leben einzuhauchen.

Wo zuvor Textilien, Kochtöpfe und Parfümerie-Artikel verkauft wurden, entsteht eine Multi-use-Immobilie mit Boutiquen und Restaurants im Erdgeschoss sowie dem ersten Stock. In den drei Geschossen darüber wird es exklusive Büroräume mit insgesamt 5.600 Quadratmetern geben. Die Eröffnung ist für den Herbst übernächsten Jahres geplant.

Der Umbau steht beispielhaft für einen neuen Trend in den Zentren der Großstädte rund um den Globus. Einst reine Retailliegenschaften werden – zur Gänze oder in Teilen – neuen Nutzungen zugeführt. Ein weiteres Beispiel dafür ist das Zürcher Edel-Warenhaus Jelmoli, das 2019 seine vierte Etage an die Pallas-Kliniken vermietet hat. Auf 900 Quadratmetern werden seither Schönheitsoperationen angeboten. Nach dem Shoppen kurz die Lippen mit Botox spritzen oder Falten liften lassen? An der Bahnhofstraße in Zürich ist das kein Problem.

»In Europa sind wir damit der Vorreiter«

»Jelmoli und Pallas-Kliniken treffen den Nerv der Zeit«, sagt René Zahnd, CEO der Jelmoli-Mutter Swiss Prime Site. »Beide Partner verbinden perfekt die Elemente der Tradition und Innovation sowie der Kundennähe und Exklusivität.« In asiatischen Metropolen gebe es seit Jahren Kooperationen zwischen Shopping-Destinationen und Schönheitskliniken. »In Europa sind wir damit Vorreiter«, sagt Zahnd.

Getrieben wird der Trend vom wachsenden E-Commerce. Weil immer mehr Menschen Waren über das Internet ordern, werden weniger Retailflächen für den stationären Handel benötigt. Es ist eine Entwicklung, die die Corona-Pandemie mit den fast rund um den Globus verhängten Lockdowns samt zeitweiser Schließung von Geschäften noch verstärkt hat. Nach Berechnungen des Handelsverbands Swiss haben Konsumenten im vergangenen Jahr Waren im Gesamtwert von 13,1 Milliarden Franken über das Internet bestellt – ein Plus von 2,8 Milliarden Franken oder 27,2 Prozent gegenüber 2019. In der EU steigerten Online-Anbieter nach Berechnungen der europäischen Statistikbehörde Eurostat ihren Umsatz 2020 um 12,7 Prozent auf 717 Milliarden Euro.

Die Konkurrenz aus dem Netz macht es für den stationären Einzelhandel immer schwieriger, noch genügend Erträge zu erzielen, um die hohen Mieten für Ladenflächen zu zahlen. Nach einer Analyse des Wirtschaftsinformationsdienstes Dun & Bradstreet Schweiz in Urdorf gingen von Januar bis Mai dieses Jahres schweizweit 1.634 Unternehmen in ein Insolvenzverfahren. Das ist – trotz der Corona-Krise – lediglich eine Steigerung von vier Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Und dennoch möglicherweise nur die Ruhe vor dem Sturm: »Es scheint, als ob die staatlichen Finanzspritzen nach wie vor ihre Wirkung entfalten und die Liquidität vieler Unternehmen sicherstellen, sodass sich die zu erwartende Konkurswelle zeitlich noch weiter in die Zukunft verschiebt«, schreiben Dun & Bradstreet-Analysten. Zudem registrierten sie deutliche regionale Unterschiede: Während die Zahl der Konkurse in der Ostschweiz gegenüber dem Vorjahreszeitraum um elf Prozent abnahm, »kam es in der Romandie zu einem Zuwachs von 21 Prozent«.

In Bern, Basel, Genf und Zürich brechen die Mieten ein

In Genf waren deshalb Immobilieneigentümer 2020 gezwungen, bei Neu- und Anschlussverträgen ihre Mietzinsforderungen deutlich zu reduzieren. »An der Rue du Rhone, der Shoppingmeile in Genf, sind die Ladenmieten im Verlauf des vergangenen Jahres um 7,4 Prozent auf 5.000 Franken pro Quadratmeter und Jahr gesunken«, sagt Robert Weinert, Leiter Immo-Monitoring bei der Beratungsgesellschaft Wüest Partner. In Bern gingen die Mieten in dieser Zeit sogar um 12,5 Prozent von 2.400 Franken pro Quadratmeter und Jahr auf nur noch 2.100 Franken zurück. In Basel sanken sie von 2.900 auf 2.800 Franken und in Lausanne von 2.300 auf 2.200 Franken. In Zürich hingegen begannen die Mieten sich nach einem vorübergehenden Rückgang im Sommer vergangenen Jahres im vierten Quartal bei 8.100 Franken pro Quadratmeter wieder zu stabilisieren. 2018 zahlten Nutzer in der Limmatstadt jedoch noch bis zu 9.300 Franken.

Immer mehr Eigentümer fürchten daher, dass die Mieterträge ihrer Retail-Liegenschaften in den kommenden Jahren sinken werden. »Erste Akteure machen sich deshalb daran, diese Immobilien in Mixed-use-Objekte umzuwandeln«, sagt Thomas Veraguth, Head CIO Swiss & Global Real Estate Strategy der UBS. Entstehen würden dabei zumeist Liegenschaften, die Flächen für Einzelhändler, Gastronomen, Büronutzer sowie zum Teil auch für das Wohnen bieten – Immobilien für die moderne Großstadt. »Weder E-Commerce-Anbieter, noch Videokonferenzdienstleister wie Zoom können die Zentrumsfunktion einer Stadt dauerhaft ersetzen«, sagt Veraguth. »Menschen benötigen persönliche Kontakte bei der Arbeit sowie Geschäfte, in denen sie Waren haptisch erfahren und Kleidungsstücke anprobieren können, und sie benötigen Unterhaltung, von der Beiz (Kneipe auf Schweizerisch, Anmerk. d. Red.) bis zum Kino.«

»Den Cappuccino gibt’s höchstens to go«

Ähnlich sieht das Stefan Schillinger, Managing Partner des Münchner Projektentwicklers und Immobilien Asset Managers Accumulata Real Estate: Während der Corona-Pandemie hätten die Innenstädte noch stärker »unter ihrer Monokultur aus austauschbaren Retailflächen immer gleicher Filialisten gelitten«. In Deutschland, wo die Geschäfte während der Lockdowns sehr viel länger geschlossen waren als in der Schweiz, hat das zu einem massiven Blutzoll bei Einzelhändlern und ihren Vermietern geführt. Bis zu 300.000 Quadratmeter Leerstand bei Ladenflächen allein im Ruhrgebiet hat die regionale Wirtschaftsförderungsgesellschaft Business Metropole Ruhr in einer Studie ausgemacht. »Die Innenstadt in ihrer bisherigen Form ist tot«, sagt Schillinger.  »Eingekauft wird immer öfter online, Umsätze brechen ein, Mitarbeiter werden entlassen, Filialen geschlossen, Restaurants setzen auf Lieferdienste, den Cappuccino gibt’s höchstens to go.« Es brauche Wohnungen, Büroflächen und alternative Mietkonzepte für bisherige Retailliegenschaften sowie Pop-up-Stores, Kitas, betreute Indoorspielplätze oder Cafés, die zugleich als Atelier genutzt werden, anstelle der »x-ten Filiale einer Kette«, so Schillinger.

Mehr investieren, weniger Rendite erwirtschaften

Für die Eigentümer der Retailliegenschaften bedeutet das: Sie müssen investieren und zugleich ihre Renditeerwartungen zurückschrauben. »Die sinkenden Innenstadtmieten für Ladenflächen lassen sich aktuell nicht aufhalten«, sagt Schillinger. Und Betreiber alternativer Konzepte könnten sich die Mieten für Geschäftsflächen in Innenstadtlagen nicht leisten.

Die Innenstädte wiederzubeleben und dabei auch einen Interessensausgleich zwischen Einzelhändlern und Immobilieneigentümern zu schaffen, müsste eigentlich ureigenste Aufgabe der Stadtverwaltungen sein. »Die aber zeigen kaum Eigeninitiative, sondern warten darauf, dass Projektentwickler Revitalisierungen anstoßen«, sagt UBS-Stratege Veraguth. Doch die treten meist erst auf den Plan, wenn Retail-Liegenschaften so stark von Leerstand oder schrumpfenden Mieten geplagt sind, dass deren Eigentümer die Objekte weit unter dem früheren Marktwert verkaufen. Wenn die Besitzer nicht selbst über genügend Eigenkapital und Kreditlinien verfügen, um den Umbau in die eigene Hand zu nehmen…


Ein Beitrag von
Richard Haimann,
freier Journalist