Alles an einem Ort

»Ehrenveedel«
»Ehrenveedel« © ehrenveedel.com

Herausforderung

Richard Haimann

Arbeiten, Einkaufen, Wohnen – in neuen Mischquartieren sollen Menschen fast alles finden, was sie zum Leben benötigen. Stadtplaner wollen so die Verkehrsbelastung in den Städten reduzieren und lebenswerte Wohnstätten der Zukunft schaffen. Für den stationären Einzelhandel bieten die modernen Viertel neue Chancen

Köln-Ehrenfeld – das sind Bürgerhäuser aus der Gründerzeit und Industriedenkmäler, das ist das 102 Meter in den Himmel ragende Herkules-Wohnhochhaus und das sind polnische und türkische Lebensmittelgeschäfte, italienische, portugiesische und spanische Restaurants. Wo früher Automobilbauer und Chemiebetriebe, Glashersteller und Elektrotechnikunternehmen im Westen der Rheinmetropole Zehntausenden Arbeit gaben, blüht heute ein lebendiger, multikultureller Stadtteil – der nun noch einmal kräftig wächst.

Überdurchschnittliche Kaufkraft der Anwohner

Auf dem 70.000 Quadratmeter großen Areal des ehemaligen Güterbahnhofs wird seit 2017 mit dem »Ehrenveedel« ein neues »Viertel im Viertel« in die Höhe gezogen – mit 500 Wohnungen und 25.000 Quadratmetern Bruttogeschossfläche für Büros, Geschäfte und Restaurants. Hinzu kommen eine Kindertagesstätte, ein Spielplatz und ein kleiner Park. Geschaffen werde ein »lebendiges Quartier« mit »guter Durchmischung«, sagt Klaus Küppers, Leiter der Kölner Niederlassung des Projektentwicklers Pandion, der den Großteil der einstigen Gleisanlagen bebaut.

»Solche Mischquartiere sind der neueste Trend«, sagt Günter Vornholz, Professor für Immobilienökonomie an der EBZ Business School in Bochum. »Stadtplaner forcieren die Idee von Wohnen, Arbeiten, Einkaufen und Freizeit an einem Ort, um die Städte vom Autoverkehr und den damit verbundenen Schadstoffemissionen zu entlasten.« Dies sei eine vollkommene Abkehr von der seit Ende des Zweiten Weltkriegs favorisierten Trennung separater Wohn-, Arbeits- und Einkaufsquartiere bei der Stadtplanung.

»Diesen Mischquartieren gehört die Zukunft«, sagt Andreas Schulten, Vorstand der Berliner Immobilienforschungsgesellschaft bulwiengesa. »Immer mehr Menschen wollen so nahe ihrer Arbeitsstätte wohnen, dass sie diese zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichen können.« Der stationäre Facheinzelhandel – von Boutiquen mit hochwertigen Textilkollektionen über Sportfachgeschäfte bis hin zu Juwelieren – zähle zu den Gewinnern des Trends. »Die Bewohner der Mischquartiere verfügen meist über eine überdurchschnittliche Kaufkraft«, sagt Schulten. »Auf den kurzen Wegen von der Arbeit nach Hause haben sie häufig Zeit, um zur Entspannung durch die Ladengeschäfte zu bummeln.«

»Stadtentwicklungen sind lang­wierige Prozesse, die stetig angepasst werden sollten«

Das »Ehrenveedel« ist denn auch nicht das einzige neue Mischquartier. In Berlin investiert der DAX-Konzern Siemens 600 Millionen Euro, um auf seinem einstigen Werksgelände im Osten Spandaus die »Siemensstadt 2.0« zu schaffen. Auf einer Fläche von 70 Hektar soll eine »neue Arbeits- und Lebenswelt« mit Wohnungen, Büros, Forschungslaboren, Hightech-Produktionsanlagen sowie Einzelhandelsgeschäften und Restaurants erweckt werden. »Wir wollen Industrie 4.0 auch im sozio-ökonomischen Umfeld führend gestalten«, sagt Siemens-Vorstandschef Joe Kaeser. »Dazu gehört ein vernetztes Ökosystem mit flexiblen Arbeitsbedingungen, gesellschaftlicher Integration und bezahlbarem Wohnraum.« Zur Zukunft gehöre die »Integration von Wohnen und Arbeiten in einem Viertel – attraktive Wohnungen, von denen aus der Arbeitsplatz zu Fuß, mit dem Rad oder mit innovativen Mobilitätskonzepten erreicht werden kann«, sagt Stefan Kögl, General Manager für das Projekt »Siemensstadt 2.0«. Wenn es auch kein »Shopping-Areal« geben wird, sind doch auch einige Geschäfte geplant. Diskutiert wird über Vollsortimenter bis Bio-Laden. Ob es allerdings 2030, wenn das Quartier Form angenommen haben wird, noch ausgesprochene Bioläden geben wird oder nicht ohnehin schon alles grundsätzlich »bio« sei, beschäftigt Kögl genauso wie die Frage, auf welcher Grundlage man heutzutage ein Viertel für morgen plant. »Wir gehen beispielsweise von einer Zahl an Autostellplätzen aus, die sich am aktuellem Bedarf ausrichtet, dabei dürften wir in zehn Jahren vermutlich viel weniger Plätze benötigen als heutzutage«, so Kögl. »Stadtentwicklungen sind langwierige Prozesse, die stetig angepasst werden sollten. Deshalb müssen wir auch flexibel bleiben bei unseren Planungen – und uns viel häufiger Rat von jüngeren Leuten einholen, weil sie völlig anders als wir denken.«

In der Schweiz ist das »Erdgeschoss« streng geregelt

Auch die Provinz hat der Trend erreicht: Im oberbayerischen Landsberg am Lech lässt der Starnberger Projektentwickler ehret + klein seit dem vergangenen Jahr das neue Mischquartier »Am Papierbach« entstehen. Auf einer 57.000 Qua­dratmeter messenden Gewerbebrache direkt neben der historischen Altstadt sollen mehr als 30 Immobilien mit 658 Wohnungen, Büroflächen und Arztpraxen errichtet werden. Dazu kommen ein Hotel und ein Kulturzentrum sowie zwei Kindertagesstätten. Für den Einzelhandel ist hier reichlich Raum eingeplant. »In fast allen Gebäuden des Areals sind Ladenflächen in den Erdgeschossen vorgesehen«, verkündet Geschäftsführer Michael Ehret. »Sie stellen eine optimale Versorgung sicher und schaffen ein lebendiges Umfeld.«

Damit wird »Am Papierbach« realisiert, was in der Schweiz in den meisten Kantonen seit 2016 Pflicht ist: Dort müssen seither sämtliche Erdgeschossflächen in neuen Wohnhäusern vollständig an Ladengeschäfte, Gastronomiebetriebe, Arztpraxen oder Fitnesscenter vermietet werden. Die Auflage sei eine Konsequenz aus den Bausünden früherer Jahre, in denen Hoch- und Mehrfamilienhäuser errichtet wurden, die nur aus Wohnungen bestanden, sagt Robert Weinert, Researcher der Immobilienberatungsgesellschaft Wüest Partner in Zürich. »In diesen Quartieren fehlte der Raum für jegliche Infrastruktur.« Es habe keine Einkaufsmöglichkeiten gegeben, keinen Allgemeinmediziner in direkter Nähe. »Nicht einmal eine Beiz«, wie die Schweizer ihre traditionellen Bier- und Weinkneipen nennen, sagt Weinert. »Wer in solchen Anlagen wohnt, ist gezwungen, selbst für die Grundversorgung weite Wege auf sich zu nehmen«.

Das war auch in Deutschland in der Vergangenheit der Fall. »In den großen Plattenbausiedlungen, die bis in die 1980er Jahre hinein errichtet wurden, gab es kaum Infrastruktur«, sagt Immobilienforscher Schulten. »Es waren reine Schlaf­quartiere.« Das sei mit ein Grund dafür, dass etliche der damals errichteten Großwohnsiedlungen wie Osterholz-Tenever in Bremen, Mümmelmannsberg und Steilshoop in Hamburg oder die Gropiusstadt in Berlin zu sozialen Brennpunkten verkamen. Wer dorthin zog, war auf Bus, Straßenbahn und vor allem auf das eigene Auto angewiesen. Nicht nur, um zur Arbeit zu gelangen. »Für den wöchentlichen Großeinkauf wurden Fachmarktzentren auf die grüne Wiese am Stadtrand gesetzt«, sagt Schulten. »Für das Erlebnis-Shopping waren die Zentren der Städte da.«

Jedes zehnte Einzelhandelsgeschäft vor dem Aus?

Zwar waren die Wohnungen in diesen Trabantenstädten modern und boten mit Zentralheizung, großen Badezimmern und Fahrstühlen einen Komfort, der in den Vor- und frühen Nachkriegsbauten mit der Waschküche im Keller nicht zu finden war. Doch die große Entfernung zu Arbeit und Einkaufsmöglichkeiten trieb bald die ersten Mieter wieder fort. Zurück blieben Familien mit geringem Einkommen und Bezieher von Sozialhilfe. Wer es sich leisten konnte, erwarb ein Eigenheim oder mietete eine Wohnung in den neuen Wohn- und Geschäftshäusern, die ab Mitte der 1970er Jahre in den Stadt­zentren errichtet wurden – samt Räumlichkeiten für Ladengeschäfte in den Erdgeschossen.

In den vergangenen zehn Jahren ist es für Besitzer dieser Mischimmobilien jedoch immer schwieriger geworden, diese Flächen zu vermieten. Zahlreiche Inhaber von Fachgeschäften fanden bei Eintritt ins Rentenalter keine Nachfolger und schlossen die Pforten. Andere erlagen der Konkurrenz durch Internetanbieter. Zurück blieben leere Geschäftsflächen oder Spielhallen und Ein-Euro-Shops. Die Situation könnte sich in den kommenden Jahren weiter verschlimmern, sagt Schulten. Halte der gegenwärtige Trend an, »steht mindestens jedes zehnte Einzelhandelsgeschäft innerhalb der nächsten zehn Jahre vor dem Aus«.

Quersubventionierung von Ladenmieten

Die Entwicklung muss sich in den neuen Mischquartieren jedoch nicht wiederholen. Nicht nur, weil dort kaufkräftige Konsumenten wohnen, die durch die Nähe zu ihrem Arbeitsplatz mehr Zeit haben, um im eigenen Viertel einkaufen zu gehen. »In den USA eröffnen immer mehr Online-Händler stationäre Geschäfte in direkter Nähe von Wohnsiedlungen ihrer Kunden«, sagt Schulten. »Sie erhoffen sich dadurch höhere Umsätze und eine Reduktion der hohen Retourquoten.«

Nach Berechnungen der Forschungsgruppe Retourenmanagement der Otto-Friedrich-Universität Bamberg wurden in Deutschland im Jahr 2018 etwa 280 Millionen Pakete und rund 490 Millionen Artikel retourniert. Zu den am häufigsten zurückgesandten Artikeln bei Online-Bestellungen zählen hierzulande Bekleidung und Schuhe. Bei der globalen Konsumtenbefragung von Statista gaben im vergangenen Jahr 32 Prozent der Befragten an, Textilien in den vergangenen zwölf Monaten zurückgesandt zu haben, 17 Prozent waren so mit bestellten Schuhen verfahren.

Retouren sind nicht nur eine Belastung für Online-Händler, sondern auch für deren Kunden. »Sie müssen die Ware zeitaufwändig zu einer Versandstelle bringen«, sagt Schulten. »Das eröffnet Chancen für Einzelhändler, die hochwertige Textilien und Schuhe direkt in Mischquartieren anbieten.« Das setze allerdings auch voraus, dass die Geschäftsflächen zu tragbaren Mieten angeboten werden. Möglich sei dies »durch Quersubventionierung aus anderen Mieten«, sagt Schulten. Oder durch eine geschickte Vermarktung des Quartiers, mit der auch auswärtige Käufer angelockt werden.

Projektentwickler wie ehret + klein, die in neuen Quartieren auf Geschäftsflächen in den Erdgeschossen setzen, stehen in jedem Fall vor einer Herausforderung: »Eine Blaupause für erfolgreiche Erdgeschosse gibt es nicht«, sagt Geschäftsführer Ehret. »Als Projektentwickler müssen wir extrem gut zuhören, hinschauen und verstehen, damit wir die individuellen Bedürfnisse eines Standortes erfüllen.«

Zudem gelte es in diesen neuen Mischquartieren »potenzielle Konflikte erfolgreich zu unterbinden«, sagt Immobilienökonom Vornholz. »An einem Ort zu arbeiten, einzukaufen und zu wohnen klingt zwar zunächst sehr angenehm, kann aber schnell nervig werden, wenn die Abendruhe durch Kneipenlärm gestört wird und am frühen Morgen Lieferwagen die Geschäfte ansteuern.«

Ein Beitrag von
Richard Haimann,
freier Journalist