Am Himmel hoch, da grünt es sehr

Urban-Gardening
Urban-Gardening über den Dächern der Stadt © AYAimages – stock.adobe.com

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Hubertus Siegfried

Vertikale Gärten auf den Dächern von Gebäuden und in alten Fabrikhallen sollen Menschen in den Städten mit frischen Beeren, Kräutern und Salat versorgen und zugleich die Umwelt schützen. In den USA sind erste Unternehmen bereits an der Börse notiert. Auch in Deutschland hält die alternative Anbaumethode nun Einzug – und soll nebenbei dazu beitragen, Verbraucher wieder in die Stadtzentren zu locken

 

Vier Stockwerke über dem Erdboden ist sie zu finden: Die mögliche Zukunft der Landwirtschaft – und das mitten im Ruhrgebiet. Seit 2019 werden am Altmarkt in Oberhausen in luftiger Höhe Beeren, Kräuter und Salat angebaut. In einem modernen Gewächshaus, errichtet auf dem Dach des vor drei Jahren neu gebauten Jobcenters. Ein »vertikaler Garten«, der auch als Attraktion dienen soll, um Menschen in die Altstadt und die Geschäfte rund um die neugotische Herz-Jesu-Kirche zu locken. »Urbanität entsteht nicht durch Konsum, sondern durch die Leute, die in der Stadt sind«, sagt Wilfried Kuehn, Partner bei Kuehn Malvezzi, einem Berliner Architekturbüro, das zusammen mit dem ebenfalls in der Bundeshauptstadt ansässigen Landschaftsarchitektur-Atelier Le Balto den Hybriden aus Bürogebäude und Gewächshaus entworfen hat.

Oberhausen goes green

Der Altmarkt war einst der zentrale Platz in der Stadt an Ruhr und Emscher. Sonntags flanierten Bürger nach dem Gottesdienst rund um die klassizistische Säule mit der vergoldeten Siegesgöttin Nike an der Spitze. Unter der Woche besuchten sie die Cafés, Geschäfte und Warenhäuser – bis Oberhausen am Ende des Zweiten Weltkrieg nur noch ein Trümmerfeld ist. »Verdrehte Bahngleise, zerstörte Gebäude, Bombenkrater« – so schildert die Dauerausstellung in der städtischen Gedenkhalle zur Geschichte des Nationalsozialismus in der Region den Anblick am 11. April 1945 als amerikanische Truppen einrücken. 56 Prozent aller Wohnungen waren zerstört; tausende beschädigt. Wo zuvor Ladengeschäfte und Kaufhäuser standen, füllte das Grundwasser nun Bombenkrater.

Beim Wiederaufbau geht es zunächst darum, neue Wohnungen zu schaffen. Die Bergarbeiter brauchen ein Dach über dem Kopf, damit sie die Steinkohle aus dem Boden schürfen, um die Hochöfen der Stahlerzeuger für das Wirtschaftswunder zu befeuern – bis von 1958 an das billige Öl die Kohle als Energieträger verdrängt, immer mehr Zechen schließen und zehntausende Kumpel ihre Arbeit verlieren.

Der Handel fasst im Herzen Oberhausens nie wieder richtig Fuß. Immer mehr Geschäfte siedeln sich in den neuen Einkaufszentren an. 1971 eröffnet mit dem 44.000 Quadratmeter Verkaufsfläche messenden Bero Center das erste geschlossene Shopping Center im Ruhrgebiet. Drei Kilometer entfernt steht das 1996 vollendete Westfield Centro, mit 830.000 Quadratmeter Betriebsfläche Europas größtes Shopping- und Freizeitzentrum.

Jetzt soll die Agraroase auf dem Dach des Jobcenters den Marktplatz im Herzen der einstigen Stahlstadt an Ruhr und Emscher wieder zu einem Treffpunkt machen. 100.000 Salatköpfe, 200.000 Kräutertöpfe und 500 Kilogramm Erdbeeren werden pro Jahr in dem 940 Quadratmeter messenden Areal geerntet. Verkauft werden sie bei »Tagen des offenen Dachgartens« vor Ort und an ein Catering-Unternehmen, das unter anderem die Kantine der Stadtsparkasse versorgt. »Während der Lockdowns in der Pandemie, als die meisten Bürobeschäftigten im Homeoffice waren, haben wir mit den Ernteerträgen soziale Tafeln versorgt«, sagt Elita Wiegand, Sprecherin des Projekts.

Weitere 160 Quadratmeter des Dachgartens nutzt das Fraunhofer-Institut für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik UmSichT, um ideale Anbaumethoden für die »vertikale Landwirtschaft« zu erforschen. Die gilt als Modell der Zukunft. »Die Versorgung mit Lebensmitteln in den Städten ist künftig eine enorme Herausforderung, weil die Anbauflächen begrenzt sind«, sagt Wolfgang Grüne, geschäftsführender Gesellschafter der Firma Exner Grüne Innovation, die den Dachgarten betreut. Die urbane Produktion sei dafür eine Lösung. »Ressourcen werden geschont, weil die Transportwege wegfallen, der CO2-Verbrauch geringer ausfällt und der Energieeinsatz effizient ist«, sagt Grüne.

Herausforderung: Ernährung der Stadtbevölkerung

Aktuell leben 7,96 Milliarden Menschen auf der Erde. Im Jahr 2050 werden es 9,7 Milliarden sein – 22 Prozent mehr als heute, prognostizieren die Demographieforscher der Vereinten Nationen. Weitere 1,74 Milliarden Erdenbewohner, mehr als ein Fünftel der heutigen Weltbevölkerung, zu ernähren – das stellt die globale Agrarwirtschaft vor massive Herausforderungen. Fruchtbare Ackerböden sind schon heute knapp und werden durch den Klimawandel zu einem noch rareren Gut. In Südeuropa, dem Süden der USA sowie in Teilen Asiens und Australiens führen die immer länger werdenden Dürreperioden zur fortschreitenden Versteppung bislang ertragreicher Landschaften. In nördlicheren Gefilden schwemmt immer öfter Starkregen die fruchtbaren Ackerkrumen fort.

Wettbewerbsvorteil dank Petersilie

Hinzu kommt, dass die Lebensmittelversorgung in heutiger Form immense Transportwege und dadurch einen hohen Kraftstoffeinsatz benötigt. »Es ergibt keinen Sinn, dass wir in Holland oder Spanien Tomaten produzieren und diese mit Lastkraftwagen nach Berlin, München oder Hamburg bringen«, sagt Grün. Würden Nahrungsmittel in »vertikalen Farmen« am Rande von Großstädten für deren Bewohner erzeugt, könnten Transportkosten und Schadstoffemissionen erheblich verringert werden.

In Deutschland ist der professionelle Anbau von Nahrungsmitteln in Dachgärten in urbanen Räumen noch ein sehr zartes Pflänzchen. Zusätzlich zum Altmarktgarten in Oberhausen ist derzeit ein weiteres Projekt in Herne in Planung. Der irische Investor Greenman will in einem Berliner Fachmarktzentrum seines Fonds Greenman Open bis zum ersten Quartal nächsten Jahres zwei jeweils neun Meter hohe Gewächshaustürme als Vertikale Farm errichten, die von seiner Tochtergesellschaft Potager Farm betrieben werden sollen. »Wir wollen eine der nachhaltigsten vertikalen Landwirtschaftsanlagen Deutschlands schaffen«, sagt Mario Gatineau, Geschäftsführer von Potager Farm. Angebaut werden sollen Petersilie, Schnittlauch, Basilikum und Blattgemüse wie Rucola und Senfblätter, um sie anschließend täglich frisch in den Supermärkten des Fachmarktzentrums zu verkaufen. »Die vertikale Farm wird so dem Fachmarktzentrum des Fonds und seinen Mietern einen Wettbewerbsvorteil verschaffen«, sagt Gatineau.

Vertical Farming: Milliarden-Geschäft in den USA

In den USA ist das »Vertical Farming« bereits ein milliardenschweres Geschäft. Allein die in New York ansässige Gesellschaft AeroFarms steigerte vergangenes Jahr den Umsatz mit den von ihr in luftiger Höhe produzierten Agrarprodukten auf knapp vier Millionen US-Dollar von zuvor 2,5 Millionen US-Dollar in 2020. Der börsennotierte Mitbewerber Appharvest setzte 2021 gar mehr als 8,9 Millionen US-Dollar um.

In vertikalen Farmen werden Pflanzen nicht in Erde angebaut. Sie gedeihen in einem sogenannten hydroponischen System. Das Wort setzt sich aus den griechischen Begriffen für Wasser – hydro – und Arbeit – ponos – zusammen. Die Wurzeln der Pflanzen hängen in einer Nährstofflösung, die sie mit den nötigen Mineralien versorgt. »Kräuter und Blattgemüse wachsen dadurch schneller«, sagt Exner-Chef Grüne. »Salatköpfe können wir dadurch in fünf bis acht Wochen ernten.«

Die Anbaumethode bietet noch einen weiteren Vorteil: Sie spart Wasser. Um ein Kilogramm Tomaten klassisch im Erdreich auf einem Feld anzubauen, werden 400 Liter des kostbaren Nass benötigt. Beim hydroponischen Anbau sind es nur 70 Liter – eine Einsparung von 82,5 Prozent. Damit ist es möglich, mithilfe der Hydroponie Pflanzen auch in Regionen mit geringem Wasservorkommen anzubauen. Etwa in Teilen der Sahelzone oder in den Trockengebieten Südeuropas und im Süden der USA.

Die Vorteile des hydroponischen Anbaus beschreibt der US-Wissenschaftler William Frederick Gericke, Botanik-Professor an der University of California, bereits 1929 in einem Artikel für das American Journal of Botany. Sein Fazit: Durch diese Methode könnten »Millionen Menschen auf Böden ernährt werden, die bislang nur Kakteen und ein paar Feigenbäume hervorgebracht haben«.

Detroit: Salat statt Autos

Neben Gericke forschen zu jener Zeit eine Reihe weiterer Botaniker an der Pflanzenzucht in Nährlösungen – ohne bei der Agrarwirtschaft Beachtung zu finden. Das ändert sich erst, als die US-Weltraumbehörde NASA für die Versorgung der As­tronauten und Wissenschaftler auf der Internationale Weltraumstation Space Station die Anbaumethode perfektioniert. Junge Start-up-Firmen in den USA greifen die Entwicklung auf und schaffen um die Jahrtausendwende die ersten vertikalen Farmen. Nicht im kalifornischen Technologie-Mekka, dem Silicon Valley, sondern in aufgegebenen ehemaligen Automobilfabriken in Detroit, wo die Miete pro Quadratmeter nur Cent-Beträge kostet.

Aus einem dieser Start-Ups ist heute »Planted Detroit« geworden. Eine Vertikale Farm im einst heruntergekommenen Hafen- und Industrieviertel an der Lafayette Street, das in den vergangenen Jahren in eine bevorzugte Wohngegend verwandelt wurde. Abnehmer für Gemüse, Salatköpfe und Beeren findet das Unternehmen nun quasi vor der Tür. In den Bioläden und Wochenmärkten sowie in den Restaurants, die zwischen Detroit River und Elmwood Central Park entstanden sind.

»Viele Erzeugerbetriebe vertreiben Gemüse und Salat nur als Nebenprodukte, weil sie voll auf die Fleisch- und Milchproduktion konzentriert sind«, sagt Petro Drakopoulos, Chefkoch im Detroiter Nobelrestaurant Republic Tavern. Das spiegele sich in der Qualität und im Geschmack wider. Bei Planted sei das anders, sagt Drakopoulos. »Hier werden Nahrungsmittel mit der gleichen Sorgfalt und Fürsorge und in der gleichen Qualität angebaut, die ich für jedes meiner Gerichte aufbringe.«

Hydroponischer Anbau reduziert Gefahr politischer Unruhen

Die gute Qualität sei einzig und allein eine Folge der kurzen Lieferzeiten, sagt Planted-Detroit-Gründer und Geschäftsführer Tom Adamczyk. »Wir ernten unsere Pflanzen täglich und liefern sie innerhalb der nächsten Stunden aus.« Der klassischen Agrarwirtschaft sei es nicht möglich, Kunden auch nur mit annähernd derart frischen Produkten zu versorgen. Bis geerntete Feldfrüchte aus den südlichen Staaten der USA oder Mexiko in Lastkraftwagen in die Supermärkte im Norden des Landes gelangen, würden oftmals sechs bis sieben Tage vergehen, sagt Adamczyk. »Dass die Salatblätter dann kurz nach dem Kauf welk werden, ist da keine Überraschung.«

Während es in Deutschland und den USA beim vertikalen Farming vor allem um die Frische und Qualität geht, drängen die FAO, die Ernährungsorganisation der Vereinten Nationen, und der Internationale Währungsfonds (IWF) aus einem ganz anderen Grund auf eine Ausweitung des hydroponischen Anbaus – insbesondere in den Schwellenländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. Dort steigen seit Jahren die Lebensmittelpreise, weil Ackerflächen vor allem zum Anbau von Exportprodukten genutzt werden: Kaffee, Kakao und Tee sowie Südfrüchte für die Märkte in Europa und Nordamerika.

Das aber kann die sozialen Strukturen in diesen Ländern erschüttern und den internationalen Terrorismus stärken, zeigt eine IWF-Studie, erstellt von Rabak Arezki, bis vor Kurzem Chefökonom der Weltbank für die Region Naher Osten und Nordafrika, und Markus Brueckner, Wirtschaftsforscher der Australian National University in Canberra. »In Ländern mit niedrigem Einkommen«, schreiben Arezki und Brueckner, »führt ein Anstieg der Lebensmittelpreise um zehn Prozent zu einer Verdoppelung regierungsfeindlicher Proteste.«


Ein Beitrag von
Hubertus Siegfried,
freier Journalist