Bei der Ehre des guten Kaufmanns

Luca Bartolomeo Pacioli
Jacopo de' Barbari: Portrait des Luca Bartolomeo Pacioli (um 1495) mit Studierendem, Museo di Capodimonte, Neapel, Italien © Chiorbone da Frittole – commons.wikimedia.org

Fair Future

Richard Haimann

Was kleine Unternehmen und Umweltschutzverbände angeschoben haben, ist längst Leitmotiv für viele große Konzerne und wird von Regierungen massiv unterstützt: Environmental Social Governance – »umwelt- und sozial gerechte Unternehmensführung«, kurz ESG – soll nun auch dazu beitragen, Europa und die USA klimagerecht umzubauen und der Konjunktur einen riesigen Wachstumsschub zu verpassen. Die Idee dahinter war bereits Grundgedanke der »ehrbaren Kaufleute« der Hanse

Franziskanermönch, Mathematiker, Wirtschaftswissenschaftler: Luca Bartolomeo de Pacioli, 1447 in Borgo San Sepolcro in der Toskana geboren, lehrt an den Universitäten von Mailand und Perugia die Kenntnisse der Rechenkünste und der von ihm mitentwickelten doppelten Buchführung. Und er beschreibt das Geheimnis des Erfolgs der italienischen Händler in dieser frühen Epoche der Neuzeit: »Es gibt nichts Höheres als das Wort des guten Kaufmanns.«

Vereinbarungen zwischen zwei Händlern müssten nicht in schriftlichen Verträgen fixiert werden, schildert Pacioli. Sie würden schlicht mit dem Eide bekräftigt: »Bei der Ehre des wahren Kaufmanns.« Es ist ein Ehrenkodex, der bald darauf auch zur pragmatischen Geschäftsmoral der Händler im Verbund der Deutschen Hanse wird. Jener von Städten und Unternehmern geschaffenen nordeuropäischen Großmacht, die den Handel rund um die Ostsee für Jahrhunderte kontrolliert. Für ihre Mitglieder gilt »das Wort des ehrbaren Kaufmanns«.

Es ist ein Leitbild, das bald nicht nur für die Treue zu mündlich gegebenen Versprechen steht. Zur Aufrichtigkeit kommen Fleiß, Entschlossenheit, aber auch Maßhalten in der Lebensführung hinzu. Mit der Entstehung des europäischen Bürgertums wird der Kanon an Tugenden noch größer. Ehrbare Kaufleute gewähren ihren Beschäftigten das nötige Geld zum Lebensunterhalt, wenn diese alt und nicht mehr arbeitsfähig sind. Und sie übernehmen immer mehr Verantwortung für die Gesellschaft. Sie stiften Schulen, Armenhäuser und Spitäler. Sie schaffen Museen und fördern die Künste.

US-Vorbild »New Deal«

Was vor mehr als sechs Jahrhunderten seinen Anfang nahm, entwickelt sich heutzutage zum globalen Leitbild des Unternehmertums, zusammengefasst unter den englischen Begriffen: Corporate Social Responsibility (CSR), zu deutsch: Unternehmerische Sozialverantwortung oder Environmental Social Governance – umwelt- und sozial gerechte Unternehmensführung, gemeinhin mit ESG abgekürzt.

Es geht um Tugenden, die Abhilfe schaffen sollen gegen die Herausforderungen der modernen Welt: Klimawandel, Umweltzerstörung, die immer weiter auseinanderklaffende Schere zwischen Arm und Reich, die ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern in vergleichbaren Positionen.

Es ist eine Idee, die inzwischen nicht nur von Regierungen unterstützt, sondern aktiv vorangetragen wird. Die EU-Kommission will mit dem 750 Milliarden Euro schweren »europäischen grünen Deal« Europa aus den Wirtschaftsverwerfungen reißen, die im Zuge der Corona-Pandemie entstanden sind. US-Präsident Joe Biden hat gar ein 4.000 Milliarden US-Dollar umfassendes Infrastrukturprogramm aufgelegt, um die Vereinigten Staaten aus der Epoche von Kohle und Öl zu führen. In Fünf-Dollar-Noten übereinandergelegt würde der Stapel knapp den Mount Everest überragen.

Vorbild sind für Brüssel und Washington der »New Deal«, das massive Reformprogramm, das US-Präsident Franklin Delano Roosevelt 1933 aufgelegt hat, um die USA aus der Großen Depression zu führen. »Der europäische Green Deal ist unsere Wirtschaftsstrategie«, sagt EU-Klimakommissar Frans Timmermans. »Nur nachhaltiges Wirtschaften wird auf Dauer noch Gewinne und Arbeitsplätze liefern.«

Zukunftstechnologien garantieren die besten Geschäfte

Es sind Konjunkturprogramme, die der Weltwirtschaft einen kräftigen Wachstumsschub bescheren werden – auch deutschen Unternehmen. »Die hiesige Automobilindustrie mit ihren neuen Elektromobilen wird massiv vom Umbau der Wirtschaft auf Nachhaltigkeit profitieren«, sagt DekaBank-Chefvolkswirt Ulrich Kater. Diese Einschätzung stützt auch eine Studie der Unternehmensberatung PricewaterhouseCoopers (PwC). Danach wird das Marktpotenzial alternativer Antriebe rasant zulegen: »Allein für die deutschen Autohersteller könnte sich das erzielbare Marktvolumen von heute rund zwölf Milliarden Euro auf bis zu 84 Milliarden Euro im Jahr 2030 versiebenfachen.«

Doch Gewinner werde es überall auf dem Globus geben, sagt Kater: Zu ihnen zählen asiatische, europäische und nordamerikanische Hersteller von Komponenten für Batterien, Ladestationen und Stromnetze. Hinzu kommen Elektrokonzerne, Netzwerk- und Digitalisierungsspezialisten, Strom- und Wasserversorger, die bessere Leitungsnetze erhalten werden, Hersteller von Solar- und Windkraftanlagen – und generell die Bauindustrie. Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser und öffentliche Gebäude sollen modernisiert und erweitert werden. »Indirekte Gewinner werden auch die Banken sein«, sagt Chefökonom Kater. »Die Infrastrukturpakete werden zu einem leichten Zinsanstieg führen, der den Geldinstituten höhere Margen bei der Kreditvergabe bescheren wird.«

Denn die von der EU-Kommission und der US-Regierung vergebenen Milliarden-Pakete sollen massiv durch privates Kapital aufgestockt werden. Fonds werden dafür Geld bei Anlegern einwerben und sich obendrein Finanzierungen bei Banken beschaffen. Das Bundeskabinett hat deshalb im Mai die »nachhaltige Finanzstrategie« beschlossen. Mit ihr soll die Finanzwirtschaft auf den Schutz von Menschenrechten, Klima- und Umweltschutz ausgerichtet werden.

»Klimaschutz und Nachhaltigkeit werden zum Leitmotiv«, sagt Bundesfinanzminister und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz. »Die Strategie ist ein wichtiger Hebel für die Modernisierung unserer Volkswirtschaft«, sagt Bundesumweltministerin Svenja Schulze. »Viele Investoren haben längst verstanden, dass sie mit nachhaltigen Zukunftstechnologien langfristig die besten Geschäfte machen.«

»ESG ist das dominierende Investmentthema unserer Zeit«

Bereits seit März gilt das ESG-Reporting für Immobilienfonds. Kapitalverwaltungsgesellschaften müssen nun regelmäßig ihre Anleger über die Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsrisiken bei Investitionsentscheidungen sowie über die ESG-Ausrichtung ihrer Fonds berichten. »Die Offenlegungsverordnung macht Investitionen in nachhaltige Anlagen transparent und leistet auf diesem Weg ihren Beitrag zur Erreichung der Klimaschutzziele der EU«, sagt Andreas Mattner, Präsident des Zentralen Immobilien Ausschuss (ZIA), dem Spitzenverband der deutschen Immobilienwirtschaft.

Nach einer Umfrage der Berliner Ratingagentur Scope unter den führenden Immobilienfondsanbietern in Deutschland planen 80 Prozent von ihnen, in den kommenden zwei Jahren nachhaltige Immobilienanlageprodukte aufzulegen. »ESG ist das dominierende Investmentthema unserer Zeit – und macht auch vor den offenen Immobilienfonds nicht halt«, sagt Scope-Analystin Sonja Knorr.

Was heute höchste Regierungsweihen genießt, haben vor mehr als 25 Jahren Outdoor-Unternehmen und Umweltschutzorganisationen angeschoben. Die schwedische Marke Klättermusen und Patagonia aus den USA beginnen damals Naturschutzprojekte zu sponsern und stellen auf ökologisch angebaute Baumwolle um, damit Pestizide nicht mehr die Landschaft schädigen. Mit Erfolg: Kunden wissen das ökologische Engagement zu schätzen. Beide Marken genießen bald Kultstatus. Immer mehr Mitbewerber springen auf den neuen Trend auf – auch hierzulande. 2015 wird der Tettnanger Bergsportausrüster Vaude von der Stiftung Deutscher Nachhaltigkeitspreis als »Deutschlands nachhaltigste Marke« prämiert.

Kurz vor der Jahrtausendwende beginnen britische Einzelhandelskonzerne sich mit Macht für ESG zu engagieren. Unternehmen wie Tesco und Sainsbury‘s gründen 1998 die Ethical Trading Initiative. Konzerne wie Unilever kommen hinzu. Ziel ist es,  die Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten im Inland und insbesondere für die Arbeiterinnen in den Produktionsbetrieben in Asien zu verbessern sowie die Natur zu schützen. Tesco stellt sich selbst diese Ziele: Das Unternehmen wolle »ein großartiger Arbeitgeber« sein, die »Auswirkungen unserer Tätigkeit auf die Umwelt reduzieren« und »verantwortlich Handel treiben«.

Vorangetrieben wird CSR zugleich durch immer stärkeren Druck von außen. Nichtregierungsorganisationen wie die Christliche Initiative Romero und die Clean Clothes Campaign, die Kampagne für saubere Kleidung, und internationale Frauenverbände wie Femnet machen sich für Arbeiterinnen in den Textilfabriken von Dritt-Welt-Ländern stark. Sie fordern Löhne, die ausreichen, um den Lebensunterhalt von Familien zu bestreiten. Umweltorganisationen wie Greenpeace starten massive Kampagnen zum Schutz von Fauna und Flora.

Lebenswerte Welt für Die Enkelkinder

Schließlich entdeckt auch die Finanzbranche das Thema. Fondsmanager bemerken, dass nach ESG-Kriterien geführte Unternehmen Umsätze, Gewinne und Dividenden stärker steigern als Mitbewerber, die auf herkömmliche Weise ihren Geschäften nachgehen. Zunächst beginnen Fonds, stärker in Aktien von Konzernen mit ESG-Leitlinien zu investieren. Bald legen sie neue Investmentvehikel auf, die ausschließlich in Papiere solcher Unternehmen gehen. Das lockt in Scharen Anleger, die ordentliche Renditen ohne schlechtes Gewissen erzielen wollen. Das nun in die Aktien von ESG-konformen Unternehmen strömende Kapital treibt deren Börsenkurse überdurchschnittlich in die Höhe.

»Bei nachhaltigen Geldanlagen investieren Anleger in Unternehmen, die ressourcenschonend arbeiten und hohe Standards bei ökologischen und sozialen Aspekten sowie der Unternehmensführung haben«, sagt Samir Zakaria, Investmentexperte der Berliner Vermögensverwaltung Hansen & Heinrich. »Nachhaltiges Investieren kann somit einen maßgeblichen Einfluss auf die Umwelt und die Lebensbedingungen zukünftiger Generationen haben.« Das beherzigen vor allem vermögende ältere Anleger, die ihren Enkeln eine lebenswerte Welt hinterlassen wollen.

Norwegens Staatsfonds zeigt, wie es geht

Massiv getrieben werden ESG-Investments schließlich auch von Staatsfonds. Allen voran der Statens Pensjonsfond Norwegens, mit 1.024 Milliarden Euro der größte öffentliche Investor der Welt. Über ihn werden die staatlichen Gewinne aus der Ölförderung für die Altersvorsorge der 5,4 Millionen Einwohner des skandinavischen Landes angelegt. Doch Aktien von Ölgesellschaften finden sich in seinem Portfolio ebenso wenig wie Papiere von Unternehmen, die Arbeitnehmerrechte missachten, Waffen produzieren oder die Umwelt durch ihre Tätigkeit belasten. Ein vom Finanzministerium bestellter fünfköpfiger Ethikrat prüft jedes Investment. Dem Ertrag schadet dies nicht. Im Gegenteil: Im von der Corona-Pandemie gezeichneten vergangenen Jahr erwirtschaftet der Statens Pensjonsfond eine Rendite von 10,9 Prozent. Der deutsche Leitindex DAX kommt in dieser Zeit nur auf ein kleines Plus von 3,7 Prozent.

Ein Beitrag von
Richard Haimann,
freier Journalist