»Bei uns sind Investoren König. Dann rollen wir auch den roten Teppich aus …«

Dr. Hans Werner Klee
Dr. Hans Werner Klee

Interview
Vision

Susanne Osadnik

Dr. Hans Werner Klee, Stadtdirektor und Kämmerer von Herne, über den positiven Image-Wechsel der Ruhrgebietsstadt, unternehmerisches Denken in der Verwaltung, und wie man brach liegende Innenstädte wieder mit Leben füllt

 

Wenn die Wirtschaftswoche anlässlich ihres jährlichen Städterankings »Das Wunder von Herne« titelt, ist das für Sie ein Anlass zur Freude oder ein Ärgernis?
Dr. Hans Werner Klee: In erster Linie sind wir natürlich froh darüber, dass Herne positive Erwähnung findet. Für gewöhnlich wurde entweder gar nicht über uns berichtet oder wenn doch, dann im Zusammenhang mit weniger erfreulichen Entwicklungen. Aber dass wir zurzeit so viel Berücksichtigung in der Presse finden, hat natürlich etwas damit zu tun, dass sich Herne so stark entwickelt.

Herne glänzt mit Zahlen, die darauf hinweisen, dass es im Ruhrgebiet nicht nur Abwanderungstendenzen gibt. Nach Herne hat es in den vergangenen Jahren auffällig viele junge Leute gezogen. Was lockt sie an?
Wir haben in Herne einen Schwerpunkt an Ausbildungszentren unterschiedlicher Krankenhausgruppen. Und auch die Steag als großer Stromerzeuger hat hier bei uns ein Ausbildungszentrum eingerichtet. Allein dadurch haben wir eine relativ hohe Zahl an jungen Menschen.

Der Anteil der Azubis an dem sozialversicherungspflichtig Beschäftigten kletterte von 2015  bis 2020 um 6,8 Prozent. Gleichzeitig gibt es sehr viele Schulabbrecher. Wie passt das zusammen?
Historisch gibt es in Herne eine relativ hohe Quote an Schulabgängern ohne Schulabschluss. Deshalb suchen wir stetig nach strategischen Partnern, um das in den Griff zu bekommen. So arbeiten wir zurzeit an einer Partnerschaft mit einer Privatschule aus Berlin, die sich auf dieses potenzielle Klientel spezialisiert hat. Das Ziel ist natürlich, möglichst vielen zu einem qualifizierten Abschluss zu verhelfen. Ohne Schulabschluss geht heutzutage nun mal gar nichts mehr auf dem Arbeitsmarkt, und wir wissen, dass diese jungen Leute das Sozialsystem über Jahrzehnte belasten, wenn wir nicht vorher die Weichen in eine andere Richtung stellen. Insofern ist unser Engagement gut investiertes Geld. Gemeinsam mit der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen haben wir auch ein System entwickelt, um junge Talente zu identifizieren und zu fördern, um sie bis zum Abitur zu führen. Es gibt Familien, in denen hat seit Generationen niemand das Abitur angestrebt. Das wollen wir ändern und das Bildungsniveau insgesamt anheben.

Wenn alte Industrien wegfallen, wie das im gesamten Ruhrgebiet der Fall ist, müssen Alternativen geschaffen werden, wenn man die Menschen vor Ort halten will. Wie sehen die Strategien für Herne aus?
Wir sind – abgesehen von einigen Dependancen – keine Hochschulstadt. Aber NRW hat die dichteste Hochschullandschaft Europas. Und wir haben uns immer gefragt, wo bleiben all die Absolventen? Viele haben das Ruhrgebiet wieder verlassen. Aber inzwischen beobachten wir einen Wandel. Die Unternehmen kommen zu den Hochschulen und Studenten und werben um sie. Ein gutes Beispiel dafür ist Mark 51°7, das riesige ehemalige Opel-Areal im Osten Bochums, auf dem sich die unterschiedlichsten Unternehmen angesiedelt haben. Man findet dort innovative Logistik, Hochschulaktivitäten  und genauso Unternehmen, die in technologieorientierte und wissensbasierte Arbeit im Kontext der Hochschulschwerpunkte investieren. Die Vernetzung von Industrie-, Forschungs- und Ausbildungskultur funktioniert durch die räumliche Nähe der Wirtschaft zu Lehre und Forschung. Der Erfolg gründet sich aber auch darauf, dass sich das Areal nahtlos in den Stadtteil einfügt und nicht irgendwo in der Peripherie liegt. Das ist auch für uns eine Strategie.

Wie wollen Sie das angehen – auch angesichts knapper finanzieller Mittel?
Herne ist ein Standort mit einem still gelegten Kraftwerk und einem Kraftwerk, das umgestellt wird von Steinkohleverstromung auf Gas. Durch den Ausstieg aus der Kohleverstromung wird im Rahmen des Kohleausstiegsgesetzes Fördergeld vergeben. Für die betroffenen Standorte im Ruhrgebiet sind das insgesamt 662 Millionen Euro bis 2038. Diese Fördermittel werden aber nicht erst Jahre nach der Stilllegung fließen, sondern schon im Vorfeld, sodass man schon jetzt aktiv werden kann. Darauf setzen wir auch in Herne und wollen mit diesen Mitteln verstärkt Hochschul- und Forschungsaktivitäten vor Ort ansiedeln. Denn das wird zwangsläufig auch Unternehmen anziehen.

Was muss man den Unternehmen bieten?
Bei uns sind Investoren König. Und dann rollen wir auch den roten Teppich aus, und es ist Chefsache, sich um das Unternehmen zu kümmern. Wir versuchen natürlich auch stets, alles miteinander zu vernetzen. Beispielsweise werden in Herne rein elektrisch angetriebene Nutzfahrzeuge produziert. Tropos Motors. Die konnten wir aufgrund unseres Engagements und der Vernetzung mit Hochschulaktivitäten für uns gewinnen.

Die Stadt Monheim am Rhein hat sich mit niedrigen Steuer-Hebesätzen, die seit einigen Jahren bei 250 Prozent liegen, ins Gespräch gebracht ...
Die Hebesätze in Herne liegen bei der Gewerbesteuer doppelt so hoch und bei der Grundsteuer B dreimal so hoch. Dies ist aus meiner Sicht viel zu hoch. Aber sie sind die Konsequenz einer Konsolidierungspolitik der vergangenen zehn Jahre. Das Land hat für finanzschwache Kommunen – mit Schwerpunkt auch im Ruhrgebiet – einen sogenannten Stärkungspakt aufgelegt und uns finanzielle Hilfen zur Verfügung gestellt, aber wir mussten im Gegenzug auch Konsolidierungsleistungen bringen. Um zum Haushaltsausgleich zu kommen, waren Steuererhöhungen somit das allerletzte notwendige Mittel. Die derzeitigen Hebesätze sind die entsprechende Konsequenz.

Und noch immer kämpft Herne mit Altschulden …
Unsere Altschulden in Herne liegen bei rund 500 Millionen Euro – aber das ist das Ergebnis der vergangenen 15 Jahre und die resultieren daraus, dass in Düsseldorf und Berlin Gesetze formuliert wurden, die wir bezahlen müssen. Das betrifft bei uns vornehmlich die Auswirkungen der Sozialgesetzgebung, die zu permanent steigenden Kosten führt. Mittlerweile machen die Transferaufwendungen knapp die Hälfte der städtischen Gesamtaufwendungen aus. Das funktioniert so aber nicht mehr. So gibt es schon erste Ansätze auf Bundes- und Landesebene, Städte und Kommunen damit nicht mehr allein zu lassen und bei der Abtragung der Altschulden zu unterstützen. Allerdings zwischen der Erkenntnis und dem Handeln vergeht viel zu viel Zeit.

Das trifft auch auf viele andere Ebenen zu. Sie haben beispielsweise ihre eigene Verwaltung ins Visier genommen und auf Vordermann gebracht ...
Wir haben einige Tochtergesellschaften gegründet, mit dem Ziel, flexibler und schneller zu handeln und stärker unternehmerisches Denken in die Verwaltung zu integrieren. Unsere Stadtentwicklungsgesellschaft hat beispielsweise nur fünf Mitarbeiter, was kurze Entscheidungswege und damit schnelles Handeln bedeutet. Neben dem großen Tanker Verwaltung haben wir somit ein kleines Schnellboot geschaffen. Eines unserer ersten Projekte war die einstige Karstadt-Immobilie, die wir erworben haben. Damals stand das Gebäude bereits mehr als sieben Jahre leer. Kurz vor der Zwangsversteigerung haben wir uns entschieden, die stadtbildprägende Schlüssel-Immobilie zu kaufen – auch, weil wir verhindern wollten, dass angesichts des geringen Kaufpreises sich ein Glücksritter daran versucht und wir keinen Einfluss darauf haben, was letztendlich daraus entsteht.

Entstanden sind die Neuen Höfe, die als gelungene Revitalisierung auch bundesweit Beachtung unter Immobilienexperten gefunden haben. War das die Initialzündung für weitere Entwicklungen?
Die Innenstadt, wie wir sie jetzt kennen, wird in zwei Jahren anders aussehen. Das City-Center am oberen Ende der Bahnhofstraße wurde von einem Investor gekauft und saniert. Zusätzlich hat er ein daneben stehendes Gebäude erworben und realisiert dort zurzeit den Europagarten – eine multifunktionale Immobilie mit Einzelhandel, Büro und Kita. Und gegenüber der Neuen Höfe hat ein Herner Investor das alte Stadtwerke-Haus am Robert-Brauner-Platz übernommen und hat dort ein neues Wohn- und Geschäftshaus realisiert. Wir sehen am Platz schon jetzt viel Außengastronomie und werden den gesamten Platz neu entwickeln mit viel Grün und Wasser, um die Aufenthaltsqualität zu erhöhen und mehr Menschen zum Verweilen zu bewegen. Außerdem ist für uns wichtig, die Funktionstrennung nach und nach aufzuheben. Wir sehen das Ergebnis schon sehr gut bei den Neuen Höfe Herne, die einst nur mehrgeschossige Einzelhandelsimmobilie war und jetzt ganz unterschiedlich genutzt wird. Durch Fitnesscenter, Gastronomie, Einzelhandel und auch Büronutzung haben wir plötzlich allein durch die dort Arbeitenden rund 300 Menschen mehr in der Innenstadt, die auch einkaufen gehen. Im City-Center gab es vor der Sanierung 15 Prozent Leerstand – und jetzt gibt es Vollvermietung.

Wo sehen Sie beim Warenangebot in der Innenstadt noch Entwicklungspotenzial?
Wir haben sicherlich noch Aufholbedarf, etwa im Bereich Bekleidung. Da fehlt noch ein Baltz (das größte inhabergeführte Modehaus im Ruhrgebiet; Anmerkg. d. Red.). Grundsätzlich hat man heutzutage ja in jeder Stadt ähnlichen Ladenbesatz. Und die Ketten analysieren ganz genau, wo sie einen Laden eröffnen. Wir in Herne können dabei mit etwas punkten, das nicht mehr viele Innenstädte im Ruhrgebiet aufweisen: hervorragende Fassadenstrukturen, die konsequent aufbereitet werden. Und die zusätzliche Kaufkraft, die sich mit zusätzlichen Mitarbeitern und Bewohnern und auch Studierenden einstellt, wird eine enorme Sogwirkung auf die untere Bahnhofstraße haben.   Das haben neben lokalen auch auswärtige Investoren erkannt und setzen auf weitere Entwicklung.

Wie geht es mit dem Herner Stadtteil Wanne weiter, in dem ebenfalls schon viele Millionen Euro investiert wurden?
Wir werden an der Einkaufsstraße ein neues Rathausquartier schaffen. Unsere städtische Wohnungsbaugesellschaft hat schon einige Schlüssel-Immobilien aufgekauft. Und wir werden auch städtische Flächen mit einbringen. Mit der Entwicklung werden sicherlich 15.000 bis 20.000 Quadratmeter Mietfläche realisiert und zwischen 70 und 100 Millionen Euro in Quartiersentwicklung und die Aufwertung der Innenstadt investiert. Wanne ist für uns aber ein noch viel größeres Entwicklungsgebiet. Da gibt es die zentral in der Stadt gelegene Fläche des Bergwerks General Blumenthal. Unsere Vision für das Gebiet sieht eine Kombination aus Hochschulforschung, technologischer Entwicklung und Produktion vor, eine Techno Ruhr International. Langsam konkretisiert sich diese Idee. Eine Schwierigkeit war beispielsweise die Zugänglichkeit des Geländes, das auch von der Innenstadt durch die ICE-Bahngleise getrennt ist. Eine Lösung zeichnet sich ab: Eine verkehrstechnische Erschließung des Entwicklungsareals kann durch eine Seilbahn geschaffen werden und zwar über die Gleise des Hauptbahnhofs hinweg. Das ist erstmals eine moderne und ökologisch sinnvolle Anbindung an die Wanner Innenstadt.

Innovationen zu Lande, in der Luft … bleibt das Wasser in Herne. Davon gibt es ja auch genügend.
Wir sind dabei, einen Masterplan »Wasserlagen« aufzulegen. Dabei beziehen wir auch die Bürgerinnen und Bürger mit ein. Ein Online-Workshop im Februar hat gezeigt, dass man in Herne den unterschiedlichen Ideen gegenüber sehr aufgeschlossen ist. Grundsätzlich sollen die vorhandenen Flächen für Wohnen, Arbeiten und Naherholung genutzt werden, also eine Mischung aus Bebauung und Grünflächen aufweisen. Vor allem die Grünflächen und der Kanal sollen für die Bürgerinnen und Bürger besser zugänglich werden und hohen Erholungswert bieten. Gleichzeitig wollen wir die Vielfalt der angrenzenden Stadtviertel erhalten und den Mobilitätswandel fördern, in dem Fuß- und Radwege eine wichtige Rolle spielen. Der Favorit der Herner Bevölkerung ist eine Variante, bei der große zusammenhängende Grünflächen entstehen und Gebiete festgelegt werden, in denen gebaut werden kann, aber auch immer wieder kleine grüne Bereiche wie Gärten und Straßenbäume ihren Platz finden würden. Für ein erstes Wohnprojekt rund um die ehemalige Dannekampschule am Rhein-Herne-Kanal ist schon ein Investor mit einer konkreten Planung ausgewählt.

Wie hoch schätzen Sie den künftigen Bedarf für Wohnen ein?
Der Bedarfsplan zeigt, dass wir rund 250 Wohnungen jährlich bauen sollten. In der Vergangenheit ist relativ wenig gebaut worden. Über unsere Stadtentwicklungsgesellschaft bringen wir sukzessive eine Reihe von Baugebieten an den Start, unter anderem das bereits beschriebene Wohnen am Wasser, aber auch weitere Projekte. Für Quartiersentwicklungen auf drei ehemaligen Sportplätzen haben sich jeweils Investoren mit zukunftsweisenden Wohnprojekten durchgesetzt. Hier ist für jeden Geldbeutel etwas dabei. Ganz aktuell haben wir auf einem ehemaligen Sportplatz in bester Lage am Herner Stadtgarten rund 20 Einfamilienhaus-Grundstücke vermarktet, der Spitzenpreis pro Quadratmeter ist vierstellig. Im unteren Preissegment realisiert die Deutsche Reihenhaus zurzeit ein größeres Bauprojekt mit 70 Häusern, ein zweites Wohnprojekt mit rund 100 Wohneinheiten hat sie in der Planung. Abgeschlossen haben wir auch eine kleinere Stadtteilentwicklung auf einem ehemaligen Sportplatz in Horsthausen mit 40 Reihenhäusern, Senioreneinrichtungen mit betreutem Wohnen und ein bisschen Einzelhandel im Wohnumfeld. Zukünftig werden wir diese Entwicklungen noch stärker mit Digitalisierung und neuen Mobilitätsformen verknüpfen.

Wo steht Herne in einem Deutschland-Ranking in 20 Jahren?
Herne ist geografisch gesehen das Herz des Ruhrgebietes und wird als solches immer auch den Puls der Region mitbestimmen – vor allem vor dem Hintergrund unserer zahlreichen Aktivitäten, die langfristig auf die Schaffung von zukunftsweisenden Arbeitsplätzen, gute Verkehrsanbindung und ein lebenswertes Umfeld ausgerichtet sind – gemäß unserem Motto – mit Grün, mit Wasser, mitten drin. Wir handeln aber nicht nur kommunal oder regional, sondern verfolgen auch eine internationale Ausrichtung, indem wir die Verbindungen zu unseren Partnerstädten weiter ausbauen. Im vergangenen Monat war eine mongolische Delegation zu Gast bei uns. Die auf Infrastrukturbau spezialisierte Heitkamp Unternehmensgruppe, die hier in Herne ihren Hauptsitz hat, wird mit dem mongolischen Straßenverband eine wirtschaftliche Kooperation aufbauen. Die Zusammenarbeit ist ausgerichtet auf qualifizierte Arbeitskräfte für das Unternehmen, Hospitation und Austausch von Fachspezialisten und Know-How-Transfer von neuen Methoden in Straßen- und Brückenbau in die Mongolei. Aber auch unsere Partnerschaft mit der chinesischen Millionenstadt Luzhou wird Herne international bekannter machen.  Wir betreiben hier in Herne über eine städtische Tochtergesellschaft auch einen trimodalen Containerterminal. Das Ende der Seidenstraße liegt somit nicht ausschließlich in Duisburg, sondern durchaus auch bei uns. Wir haben immer wieder auch einige chinesische Züge hier und ich gehe davon aus, dass es nach Abklingen der Pandemie auch wieder verstärkt diese Aktivitäten auf der Schiene geben wird. Daneben gibt es auch andere Wirtschaftsbeziehungen. In Herne hat ein in der Region sehr bekannter Spirituosenproduzent seinen Sitz. Und in Luzhou steht die älteste Destillerie Chinas. Der Schnaps aus Luzhou soll die meist getrunkene Spirituose der Welt sein und in keiner chinesischen Hausbar fehlen. Selbst Mao Zedong soll seinen Baiju geliebt haben. Da gibt es natürlich Anknüpfungspunkte zwischen Herne und Luzhou und man darf gespannt sein, wie sich das entwickeln wird.


Das Interview führte
Susanne Osadnik,
Chefredaktion
Shopping Places* Magazine