Corona-Update: Strategien für den stationären Einzelhandel, für Städte und Kommunen
Insight
Dranbleiben
Ingmar Behrens
Am 7. April 2021 hat der GCSP aus seinem GCSP digital Studio in Hamburg bei der Carl Group ein 90-minütiges Live-Gespräch mit dem Virologen und Epidemiologen Prof. Dr. Klaus Stöhr zur Corona-Krise und der Situation des Einzelhandels geführt. Wie bewertet der medizinische Fachmann die Einschätzung des Robert Koch-Instituts, dass die Gefahr, sich beim Einkaufen im stationären Einzelhandel mit Corona zu infizieren, niedrig ist und daher eine Öffnung von Geschäften bei Einhaltung der Hygiene- und Sicherheitsmaßnahmen möglich wäre?
Professor Stöhr, welche Entwicklungen lassen sich aus der aktuellen Lage ableiten? Trauen Sie sich zu, in die Zukunft zu schauen?
Prof. Dr. Klaus Stöhr: Allerdings! Was künftig eintreten wird, sehen wir jetzt ja schon in Israel. Wenn die älteren Altersgruppen durchgeimpft sind, wird auch der Infektionsdruck auf die jüngeren, vor allem auf die Kinder und Schüler geringer. Das liegt daran, dass die Eltern häufiger die Infektion an die Kinder weitergeben, als dass die Kinder die Eltern infizieren. Ich gehe deshalb davon aus, dass im Juni, sobald das Impfangebot angenommen wurde, sich die Situation dramatisch verbessern wird. Im Herbst sind aber immer noch Ausbrüche möglich. Etwa in Schulen oder Kindergärten. Diese Ausbrüche gehen dann wiederum auf asymptomatische Kinder zurück. Grundsätzlich gehe ich aber davon aus, dass sich die Situation wirklich sichtbar und schnell entspannen wird, wenn die Impfungen greifen. Und ich kann eigentlich keinen Grund sehen, warum dann ab September oder Oktober auch nur daran gedacht werden könnte, den Einzelhandel noch zu beschränken.
… Es kann gut sein, dass noch Rest-Maßnahmen bleiben werden. Vielleicht eine geringere Anzahl an Personen, die ins Geschäft dürfen, aber die sind dann auch entweder alle geimpft oder haben zumindest ein Impfangebot gehabt. Oder sie haben Antikörper. Man wird sicherlich bei denjenigen, die nicht geimpft sind, innerhalb eines gewissen Zeitraums noch überlegen, was man mit ihnen macht. Jetzt stellt sich die Frage wieder, wenn man den Geimpften die Rechte nicht wieder zurückgibt, benachteiligt man sie dann? Oder erzeugt man dadurch Impfdruck und vielleicht sogar Zwangsimpfungsdruck?
›Wir machen jetzt noch zwei bis drei Wochen zu. Politisch kann man nur gewinnen, wenn man es durchkriegt.‹
Auf welche Indikatoren könnten wir unsere »Orientierungsmatrix« verlässlicher stützen? Was könnte man für Konzepte vorschlagen?
Ich glaube schon, dass man auf regionaler und lokaler Ebene arbeiten muss. Es gibt auch viele Landräte, die für sich selbst entscheiden. Es gibt auch Ministerpräsidenten, die sagen: Okay, wir machen es jetzt als Modellprojekt. Und ich bin mir sicher, dass auch die Modellprojekte stärker Fuß fassen.
Wir sehen aber natürlich auch politische Gegenströmungen. So mancher sagt: Wir machen jetzt noch zwei bis drei Wochen zu. Politisch kann man nur gewinnen, wenn man es durchkriegt. Armin Laschet wird es vielleicht nicht durchkriegen, aber wenn man es schafft und die Zahlen fallen hinterher, kann man sagen, das war wegen meines Brücken-Lockdowns. Und sollten die Zahlen wieder steigen, kann man dennoch sagen, wenn ich das nicht gemacht hätte, wäre es noch schlimmer geworden. Politisch gesehen kann man nicht viel falsch machen.
… Aber 3 Monate Lockdown kosten 50 Milliarden Euro. Und in Ihrem Bereich noch viel mehr. Mit einem Ampelsystem kommt man nicht weiter. Man sollte Projekte fördern, die auch beispielhaft sind. In Tübingen benötigt man noch mehr Geld, um zu belegen, dass man diese Öffnungsschritte sicher umsetzten kann. Da hat man 30 bis 35 Tausend Tests pro Woche gemacht bei einer Population von 89 Tausend Einwohnern. Außerdem sind noch Besucher dazugekommen. Aber da war die Testintensität dreißigmal so hoch wie im Rest Deutschlands. Und man hat viele positiv getestete Fälle abgeschöpft. Die Leute konnten sich isolieren, wenn sie wieder zu Hause waren. Aber die Geschäfte waren auf.
›Von der inkompletten Datenlage her würde ich es so sehen: Familie, Freundeskreis, Arbeitsplatz und alles andere kommt dann hinterher.‹
Mit welcher Strategie könnte der Einzelhandel jetzt Lockerung und Öffnungen erreichen?
Wir wissen nicht, wie groß der Anteil des Einzelhandels an der Verbreitung des Virus ist, vor allem nicht, in welchen Altersgruppen diese Infektionen verstärkt auftreten und inwiefern der Einzelhandel auch zur Infektion der vulnerablen Todesfällen beiträgt. Wie viele Einkaufsstunden summieren sich irgendwann mal zu einem Tod? Das wäre die Frage gewesen. Und bei welchem Hygienekonzept? Das hätte man untersuchen können. Diese Zahlen liegen aber auch heute nicht vor. Ich habe sie nicht, andere haben sie höchstwahrscheinlich auch nicht. Wir wissen ja noch nicht mal, wo die Hauptansteckungsgefahr ist. Es gibt Inzidenzzahlen, vom RKI eine Publikation, dass einige Zahlen von den Gesundheitsämtern abgegriffen werden, wo man einigermaßen mit Sicherheit sagen kann, das sind Familien, Freundeskreis und Arbeitsplatz. Das weiß man. Und der Einzelhandelsbereich kommt irgendwann danach.
… Aber ohne klare Zahlen kann ich Ihre Frage nicht beantworten. Von der inkompletten Datenlage her würde ich es so sehen: Familie, Freundeskreis, Arbeitsplatz und alles andere kommt dann hinterher. Aber in Tübingen macht man ja jetzt eine Studie, und ich könnte mir gut vorstellen, dass man mit solchen Pilotstudien auch in anderen Städten Ihr Interesse mit Daten belegen kann, was das Öffnen des Einzelhandels und dessen Einfluss aufs Infektionsgeschehen hinterlegen könnte. Ich könnte mir gut vorstellen, dass man auch in anderen Städten aktiv wird und sagt: Gebt uns 50.000 Euro, die wir für die PCR-Tests brauchen und dann testen wir die Menschen zwei bis drei Wochen lang. Danach werden wir sehen, in wieweit das Öffnen unserer Stadt zu Infektionen beigetragen hat. Hat man solche Daten, können der Bürgermeister oder Landrat des nächsten Kreises oder Bundeslandes sagen: Guck mal, bei denen hat das so und so funktioniert, bei uns ist das auch machbar.
… Was können Sie als Verband tatsächlich tun, um die Öffnung voranzubringen? Was nicht funktioniert, sind zusätzliche Stellungnahmen, Untersuchungen, die in einzelnen Geschäften durchgeführt werden. Also so etwas wie die Wirkungen von Lüftungen, Aerosolen und so weiter. Was funktionieren könnte, wären Konzepte, die eingebunden sind in das Gesamtkonzept einer Region … Kleine Projekte können helfen, zu verallgemeinern. Dass man sagt, guck mal, hier hat das funktioniert, ich habe ein ähnliches Konzept.
Aber der Einzelhandel für sich? Man sollte über verschiedene Wege versuchen, etwas anzuleiern – etwa über die Landräte, über die regionalen und lokalen Player. Vielleicht versuchen, kleine Projekte zu starten und wissenschaftlich zu begleiten. Ich glaube, das könnte der Weg vorwärts sein.
Das Gespräch führte
Ingmar Behrens,
Bevollmächtigter des German Council of Shopping Places
Prof. Dr. Klaus Stöhr ist Virologe und Epidemiologe und war u.a. viele Jahre Leiter des Globalen Influenza-Programmes und SARS-Forschungskoordinator der Weltgesundheitsorganisation, WHO.