Das fragile Gespinst globaler Lieferketten

Globale Lieferketten
Globale Lieferketten erweisen sich als störanfällig unter Pandemie-Bedingungen © enanuchit – stock.adobe.com

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Hubertus Siegfried

In der Pandemie haben die einzelnen Elemente internationaler Lieferketten nicht mehr ineinander gegriffen. Hersteller und Händler haben schmerzlich die Risiken der Fertigung in Fernost erfahren. Die gute Nachricht: Die Instandsetzung der maritimen Transporte gewinnt merklich an Schwung – die Frachtkosten haben sich in den vergangenen sechs Wochen beinahe halbiert

Am 11. August dieses Jahres herrscht Stille auf dem riesigen Areal des Hafens in Ningbo-Zhoushan. Kein Container wird bewegt. Kein Lastwagen fährt. Kein Schiff legt ab. Nachdem bei einem Arbeiter eine Covid-19-Erkrankung diagnostiziert wurde, hat Chinas Regierung den Hafen geschlossen, zehntausende Menschen stehen unter Quarantäne. Erst 14 Tage später geht der Seeport wieder in Betrieb. Hunderte Schiffe und zehntausende Container sind in dieser Zeit für den globalen Warentransport blockiert.

Beijing setzt seit Beginn der Corona-Pandemie auf eine rigorose Eindämmungsstrategie. Als Anfang 2020 die ersten Krankheitsfälle in der Millionenmetropole Wuhan registriert werden, wird die Großstadt und die sie umgebende Provinz Hubei komplett in den Lockdown versetzt, bald darauf das ganze Land. Menschen müssen in ihren Wohnungen verharren, Fabriken schließen. China, die Werkbank der Welt, stellt die Produktion ein. Das fragile Gespinst der globalen Lieferketten reißt. Unternehmen, die ihre Fertigung nach Fernost ausgelagert haben, um Kosten zu senken, sind von ihren Fabriken abgeschnitten.

Eine Hafenschließung dauert Stunden, eine Wiederinbetriebnahme viele Monate

Die Auswirkungen auf die globale Wirtschaft sind gravierend. Beispielhaft zeigt dies die Schließung des Hafens von Ningbo-Zhoushan. Als im August das Transport-Nadelöhr gesperrt wird, müssen hunderte Fabriken in China ihre Fertigung einstellen. Zum einen, weil sie keine Vorprodukte mehr erhalten. Zum anderen, weil Lagerkapazitäten fehlen, um produzierte Güter vorübergehend aufzubewahren. Es dauert nur Stunden, um einen Hafen dicht zu machen, jedoch Monate, um die gerissenen Lieferketten wieder in Gang zu setzen.

Die Konsequenzen spürt man auch in Europa – gerade jetzt im Weihnachtsgeschäft, der umsatzstärksten Zeit des Jahres. »Die Störungen in den Lieferketten wirken sich auf den Spielwaren-Einzelhandel aus«, sagt Steffen Kahnt, Geschäftsführer des Handelsverbands Spielwaren. »Bei überdurchschnittlich beliebten Produkten kann es zu Engpässen kommen.« Florian Sieber, Chef der Fürther Spielwaren-Gruppe Simba-Dickie, warnt im Gespräch mit dem Handelsblatt: »Bestimmte Artikel werden womöglich erst nach Weihnachten ihren Weg in die Geschäfte finden.«

Tatsächlich sind sämtliche Industriezweige in Deutschland betroffen – von den Automobilherstellern bis hin zu den Verpackungsproduzenten. Selbst bei Plastikvorprodukten für die Herstellung von Waschmittelflaschen ist die Lage angespannt. »Die Situation ist außergewöhnlich«, sagt Michael Weigelt aus der Geschäftsführung des Gesamtverbands der Kunststoff verarbeitenden Industrie. Fahrzeughersteller »mussten bereits mehrfach Produktionslinien für mehrere Wochen anhalten, weil essenzielle Bauteile, insbesondere Steuergeräte, nicht rechtzeitig geliefert werden konnten«, sagt Eckehart Rotter, Sprecher des VDA Verbands der Deutschen Automobilindustrie.

»Zwar müssen wir keine Hungersnot erwarten«, sagt Alexander Heine, Vorstand des Container-Transportspezialisten CM Logistik Gruppe in Stuhr bei Bremen. »Jedoch bekommen die Verbraucher jetzt an der einen oder anderen Stelle Einblick darin, wie fragil die weltweiten Lieferketten sind.«

Reparaturprozess dauert bis heute an

Als das Sars-CoV-2-Virus im Frühjahr 2020 die Welt vorübergehend zum Stillstand bringt, werden Schiffe auf Reede gelegt, Container an Land geparkt, Bergwerke stillgelegt. Als die globale Wirtschaft wieder anläuft, müssen Frachter erst wieder flottgemacht, Container zu den Fabriken transportiert, Minen hochgefahren werden. Es ist ein Reparaturprozess, der sich bis heute hinzieht. »Da besonders die asiatischen Lieferketten schwächeln, fehlt es dort an seltenen Erden für die Produktion von Mikro-Chips, die Hersteller andernorts auf dem Planeten benötigen«, sagt Heine. »Gehen dann ganze Häfen wieder in Quarantäne, führt das zu neuen Einbrüchen in der Versorgung.«

Wo die maritimen Handelswege noch beeinträchtigt sind, müssen Unternehmen um die knappen Transportkapazitäten wetteifern, höhere Frachtraten stemmen und Konsumenten für begehrte Waren tiefer in die Tasche greifen. Ablesen lässt sich dies an den unterschiedlichen Kosten für ein und dasselbe Produkt in unterschiedlichen Ländern. Das zeigt eine Analyse des Berliner Elektronikgeräte-Vermieters Grover.

Danach werden Nintendo-Switch-Spielekonsolen in Fachgeschäften in Deutschland, Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden, derzeit in einer Preisspanne von 285 bis 320 Euro, jeweils ohne Mehrwertsteuer, angeboten. Damit profitieren die Konsumenten in den kaufkraftstärksten Ländern Europas von den bereits weitgehend wieder intakten Frachtwegen auf der Hauptroute von Fernost zu den Häfen in Antwerpen, Hamburg, London und Rotterdam.

Mehr Fabriken in Europa

Deutlich mehr müssen hingegen Verbraucher in den Mittelmeerstaaten für die Spielekonsolen des japanischen Herstellers zahlen, weil noch nicht genügend Frachtkapazitäten zur Versorgung dieser kleineren Märkte zur Verfügung stehen. In Italien, was zum Teil per Lastkraftwagen oder Güterzug von Rotterdam aus versorgt wird, kostet der Switch 330 Euro, in Griechenland sind es 350 Euro und in Ägypten sogar 360 Euro. Noch besser als nach Nordeuropa sind die maritimen Handelswege von Fernost nach Nordamerika wieder in Schuss gebracht worden. In den USA kostet die Spielekonsole lediglich 264 Euro, in Kanada 268 Euro. »Auch wenn diese Studie die Aufmerksamkeit auf die Gegenwart lenken soll, werden die Herausforderungen bezüglich der Lieferketten in den kommenden Jahren weiterhin relevant sein«, sagt Giacomo Dalle Vedove, Vice President International and Growth bei Grover. Um die Abhängigkeit von den langen Seefrachtrouten – und den Jahr für Jahr anfallenden Berg an Elektroschrott – zu verringern, sollte überlegt werden, aus den Materialien weggeworfener Altprodukte in Europa neue Waren zu fertigen. »Eine Kreislaufwirtschaft würde dazu beitragen, den Druck von Lieferkettenproblemen in der Zukunft zu verringern, und kann eine innovative Lösung für die Herausforderungen der Branche bieten«, sagt Dalle Vedove.

Chip-Hersteller haben bereits begonnen, neue Fabriken in Europa in die Höhe zu ziehen, um sich von Herstellern in Fernost ein Stück weit unabhängig zu machen. Der US-Halbleiter-Produzent Intel hat jüngst angekündigt, in den kommenden Jahren acht neue Werke in Europa zu eröffnen, um Automobilhersteller in Deutschland, Frankreich, Italien, Tschechien und Spanien zuverlässig mit Chips versorgen zu können. Intel-Vorstandschef Pat Gelsinger hat sich dazu bereits mit Vertretern der EU-Kommission getroffen und Gespräche mit Ex-Kanzlerin Angela Merkel geführt.

Der deutsche Konkurrent Infineon hat bereits Mitte September den Grundstein für ein neues Halbleiterwerk im österreichischen Villach gelegt. Für 1,6 Milliarden Euro soll in der 63.000-Einwohner-Stadt in Kärnten eine vollautomatisierte Produktionsstätte entstehen, die genügend Chips für die Fertigung von 25 Millionen Elektrofahrzeuge pro Jahr ausstoßen soll.

Lagerhaltung ausbauen, Anzahl der Zulieferer erhöhen

Andere Unternehmenslenker setzen auf eine andere Strategie, wie eine ifo-Umfrage unter 5.000 Konzernen und mittelständischen Betrieben zeigt. »Viele Firmen planen, ihre Lagerhaltung auszubauen und die Anzahl ihrer Zulieferer zu erhöhen«, sagt Lisandra Flach, Leiterin des ifo Zentrums für Außenwirtschaft. Von den befragten Industrieunternehmen hätten 44 Prozent angegeben, ihre Beschaffungsmodalitäten ausweiten zu wollen. Bei den Großhändlern liege dieser Wert bei 35 Prozent, beim Einzelhandel bei 27 Prozent. Hingegen wolle »nur jedes zehnte Unternehmen in Zukunft vermehrt auf heimische Lieferketten setzen.«

Dass die meisten Unternehmen davon absehen, in großem Stil die Fertigung nach Europa zurückzuholen, dürfte auch daran liegen, dass die Lieferketten langsam wieder in Takt kommen. Ablesen lässt sich das am Baltic Dry Index. Das von der Londoner Warentransportbörse Baltic Exchange erstellte Barometer zeigt die Entwicklung der maritimen Frachtkosten. Die haben sich demnach zwar von Ende Dezember 2019 bis zum Herbst dieses Jahres vervierfacht. Seither sind sie jedoch um 44 Prozent gesunken. »Die Kosten für den Warentransport auf den Meeren haben sich binnen sechs Wochen fast halbiert«, sagt Bernhard Köhler, Vorstand der Beratungsgesellschaft Swiss Lake Capital in Pfäffikon. Das deute zum einen darauf hin, dass der Anstieg der Inflation bald ein Ende finden werde. Zum anderen zeige der deutliche Rückgang der Frachtkosten in so kurzer Zeit, dass »die Instandsetzung der maritimen Frachtrouten deutlich an Schwung gewonnen hat«.


Ein Beitrag von
Hubertus Siegfried,
freier Journalist