Der Handel in der Pandemie – eine Zwischenbilanz

Handel in der Pandemie
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Handel und Immobilien
Dranbleiben

Joachim Stumpf

Die Coronakrise ist eine beispiellose gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Im Handel hat sie zwar den Trend zur Digitalisierung beschleunigt, aber auch Schwachpunkte aufgedeckt. Schlimmer als Frequenz- und Umsatzverluste wiegt bei Händlern, Immobilieneigentümern und Kommunen zurzeit die Unklarheit, wie es weitergehen soll. Was wird nach der Pandemie bleiben, und welche Lehren können wir aus ihr ziehen?

Non-Food-Flächen gehen stark zurück und müssen substituiert werden

Man muss es klar und deutlich sagen, auch wenn es weh tut: Der deutsche Einzelhandel hatte schon vor Corona einen Flächenüberhang an Nonfood-Flächen. Dazu, dass viele dieser Flächen unausweichlich verschwinden werden, tragen mehrere Faktoren bei. Erstens wird der Online-Handel weiterhin stärker wachsen als das stationäre Geschäft. Zweitens werden längerfristig immer mehr stationäre Konzepte mit digitalen Präsentationsmöglichkeiten ergänzt und dadurch physische Flächen ersetzt. Und drittens verkleinern viele Filialisten ihre Filialnetze, weil sie in aller Eile Investitionen in vernachlässigte Digitalkanäle nachholen und feststellen, dass die stationäre Expansion der vergangenen Jahre zu Übertreibungen geführt hat. Es gibt aber auch Branchen, die in der Pandemie deutlich dazugewonnen haben. Neben dem Lebensmitteleinzelhandel profitieren vor allem Anbieter von Wohneinrichtungen, Gartenzubehör und DIY vom neuen Ausgabenverhalten der Kunden. Die Fahrradbranche und andere Teilbranchen wie Fitnessgeräte haben eine regelrechte Sonderkonjunktur erfahren. Dagegen sind die Bereiche Fashion und Schuhe, die schon zuvor vor großen Herausforderungen standen, auch auf längere Sicht die großen Verlierer der Pandemie. Weil deren Flächenanteile in Innenstädten, Shopping Centern und Warenhäusern vor Corona besonders hoch waren, sind diese Standorte beziehungsweise Betriebsformen überdurchschnittlich stark betroffen.

Der Druck auf die Mieten auf der Highstreet und in den Shopping Centern steigt

Die aufgezeigten Gründe für den Rückzug beziehungsweise die Verkleinerung von Nonfood-Mietern und das Fehlen von Markteintritten neuer Konzepte aus dem In- und Ausland sorgen schon seit mehreren Jahren für erschwerte Nachvermietungen, zumal modeaffine Einzelhändler und Gastronomen unter allen Nutzungsarten die höchsten Mieten bezahlen konnten. In der Folge wird der Druck auf die Mieten zwar weiter erhöht, allerdings sind nicht alle Standorte gleichermaßen betroffen.

Die Mieten in den Top 7 kommen erst jetzt und mit etwas Verzögerung unter Druck und sind den Frequenz- und Flächenleistungsrückgängen nachgelagert, die auch ohne Pandemie stattgefunden hätten. Hinzu kommt, dass der Handel in den Top 7 durch eine sehr vorteilhafte Demografie, eine relativ hohe Kaufkraft und vor allem auch durch den Städte-Tourismus (wenn er denn wieder stattfindet) teilweise abgefedert wird. Im Ergebnis wird es immer Nachfrage nach attraktiven stationären Anlaufstellen für Kunden geben. Wo der Handel hingegen nicht mehr funktioniert, können auch vertikale Nachnutzungen ohne Retail mit hohem Mietniveau umgesetzt werden, soweit die notwendige Investitionsbereitschaft besteht. Die Mietentwicklung liegt über dem Niveau der Frequenzentwicklung, da in den vergangenen Jahren eine Verbesserung der Conversion Rate zu verzeichnen war, wodurch der Frequenzrückgang etwas kompensiert werden konnte. Anders sieht die Lage in den B-, C-, D-Städten aus. Dort hat die Mietenkorrektur bereits ab 2010 eingesetzt. Die Mietprognosen für diese Standorte bleiben deutlich noch unter dem Niveau von 2010.

Durch das gesunkene Mietniveau werden allerdings auch Flächen für Handelskonzepte interessant, die die bislang hohen Mieten nicht erwirtschaften konnten und jetzt die Chance sehen, aus der Peripherie oder B-Lage in die A-Lage umzusiedeln. Insgesamt wird die räumliche Ausdehnung der A-Lagen enger gefasst.

In A-Centern, worunter Dominanz-Center mit höchster Anziehungskraft und überregionaler Ausstrahlung zu verstehen sind, haben sich die Mieten besser entwickelt als die Frequenzen. Nachvermietungen waren zum Teil auch schon nach 2010 niedriger, aber bis 2015 wurde dieser Effekt durch indexierte Mietanpassungen überkompensiert. Wir gehen davon aus, dass aufgrund der Anziehungskraft dieser Center, auch bei Nachnutzungen außerhalb des reinen Retail, die Frequenzen weitestgehend gehalten werden können. Die Mieten werden zwar auch dort unter Druck geraten, aber sie sinken nicht unter das Mietniveau von 2010.

Fachmärkte und Nahversorgungszentren bleiben stabil – aber das Mobilitätsverhalten ändert sich

Bei allen anderen Centern, hier als B-Center bezeichnet, sind schon seit viel längerer Zeit Anpassungen erforderlich. Die Mieten sind dort stärker gesunken als die Frequenzen, da häufig eine Substitution von Nonfood-Retail durch Nahversorger erfolgte. Diese erzeugen zwar eine höhere Frequenz, aber kein höheres Mietniveau.

Die Mieten für Fachmärkte und Nahversorgungszentren bleiben vergleichsweise stabil, geraten aber teilweise bei der Substitution von Obergeschossflächen oder beim Auszug von beispielweise Textilmärkten oder SB-Warenhäusern mit ehemals hohen Mietvertragsabschlüssen unter Druck. Die Stabilität liegt vor allem an den hohen Anteilen der nahversorgungsfokussierten Händler an diesen Standorten. Gleichzeitig werden Neuansiedlungen entsprechender Immobilien weiterhin eher restriktiv behandelt, weshalb Investoren wenig betriebstypengleiche Verdrängung fürchten müssen. Dennoch werden sich auch die meist autointensiven Standorte in den Randlagen an das veränderte Mobilitätsverhalten und die wachsende Distanzsensibilität der Kunden anpassen müssen – Erreichbarkeit und Nähe werden als Lagekriterien immer bedeutender.

Die Konsequenz: Wir brauchen Nachnutzungen für den Nonfood-Handel in Innenstädten und Shopping Centern

Der Handel ist ein elementarer Bestandteil einer attraktiven Innenstadt, er ist dort auch in Zukunft nicht wegzudenken. Allerdings wird er sich immer stärker daran messen lassen müssen, ob er attraktive Konzepte schaffen kann. Von allein werden die Kunden jedenfalls nicht mehr in die Geschäfte kommen. Eine große Herausforderung für das Handelsmanagement stellt besonders die Verzahnung attraktiver stationärer Erlebnisse mit digitalen Kanälen dar.

Gefragt sind aber auch die Städte. Sie müssen jetzt mit den Immobilienbesitzern Konzepte entwickeln, wie man gemeinsam einen dauerhaften Leerstand in den Innenstädten verhindern und die City attraktiv für die Kunden halten will. Die Vorzeichen dafür sind zwar erschwert, so haben besonders die Warenhäuser ihre Magnetfunktion für die Zentren längst verloren. Ihre Zukunft dürfte daher eher einer viel stärkeren Mischnutzung gehören. Gleichzeitig bietet sich den Städten damit aber auch die Chance, einzigartige Nutzungsmixe in den bislang viel zu sehr auf Handel fokussierten Innenstädten zu realisieren.  Auf diese Weise können neue Anziehungspunkte für Kunden und Einwohner mithilfe handelsferner, aber attraktiver Nutzungen entstehen.

Eine Nebenwirkung dieser Durchmischung wäre, dass mit ihr im Grunde Nutzungen in die Stadt zurückkehren, die zuvor vom Handel verdrängt wurden. Die Vielfalt alternativer Nutzungen ist groß: Gastronomie, Freizeit, Fitness, Gesundheit (Ärzte, Spezialkliniken, Dialysezentren, Reha-Kliniken), Logistik (vor allem Mikro-Hubs), Büros, öffentliche Verwaltung, Bildungseinrichtungen, Bibliotheken, Kitas, Hotels, Konferenzeinrichtungen, Co-Working, und Wohnungen (z.B. Mikro-Apartments, Seniorenwohnen, Studentenwohnen, Serviced Apartments) sind nur die bekanntesten Alternativen.

Eine Durchmischung ist allerdings kein Patentrezept, das alle Probleme eines Standorts lösen kann, sondern muss immer sehr standort- und objektabhängig gedacht werden. Darüber hinaus gilt es, mit Blick auf die Kombinationsmöglichkeiten das Potenzial möglicher Kopplungen zu nutzen. Eine Befragung von Mietern aus dem Handel zeigt, welche »Nachbarn« die Handelsunternehmen in gemischten Objekten besonders favorisieren.

Shopping Center können Vorbild der Innenstädte sein

Wie sich Innenstadt-Nutzungen neu planen und umsetzen lassen, können sich die Kommunen von den Shopping Centern abschauen, die teilweise schon seit Langem vor ganz ähnlichen Herausforderungen stehen. Viele von ihnen befinden sich schon seit vielen Jahren in einem Transformationsprozess und sind bei der Substitution von Non-Food-Handelsflächen mit anderen Nutzungen weiter als die Innenstädte, die sie umgeben.

Natürlich hinkt der Vergleich ein wenig: Anders als in der Kommune gibt es in Shopping Centern eine Eigentümerkongruenz, kurze Entscheidungswege und Flächenflexibilität. Dennoch kann die Expertise der Center deutlich zur Wiederbelebung der Innenstädte beitragen, wenn man sie lässt. Center-Manager wissen am besten, wie man Nachfragepotenziale im Markt und Flächenpotenziale im Objekt erkennt und wie man die richtige Nutzung für einen Ort findet. Sie wissen, wie für einen Branchen- und Nutzungsmix eine kraftvolle Positionierung gefunden wird. Durch die geschickte Anordnung wichtiger Ankermieter gelingt es ihnen, die Frequenz im Objekt gut zu verteilen. Und sie wissen, wie Kopplungseffekte eingesetzt werden müssen, um Räume intelligent zu beleben. Natürlich sind die Stakeholder einer Innenstadt weitaus heterogener und weniger formell organisiert als ein Shopping Center. Dennoch kann der individuelle Lösungsfindungsprozess von einer Vielfalt der Perspektiven profitieren, zu der auch die Center gehören.

Die coronabedingten Lageverschiebungen werden sich wieder normalisieren

In Bezug auf die Einkaufslagen ist die Pandemie kein Trendbeschleuniger, sondern vorübergehender Trendumkehrer: Die stärksten Lagen »Prä-Corona« – die Fußgängerzonen in den Top-Lagen, Höchstfrequenzimmobilien wie Flughäfen und überregionale Shopping Center – litten und leiden während der Lockdowns am stärksten unter Frequenzrückgängen. Ihnen fehlen die Touristen aus dem In- und vor allem Ausland.

Die Besucher von Sport- und Kulturveranstaltungen fehlen ebenso. Die Schließung der Gas­tronomie verstärkt in der Corona-Krise die negative Entwicklung dieser Handels-Hotspots. Während vor der Pandemie die Einzelhandelszentralität vor allem in größeren Städten stieg, kaufen mittlerweile wieder mehr Menschen in der Nähe ihres Wohnorts ein. Der Einkaufsbummel in der nächstgrößeren Stadt blieb oft aus, wodurch die Bedeutung der kleineren und mittleren Städte als Handelsstandorte wieder zugenommen hat. Davon profitiert aktuell der mittelständische Handel, der dort überdurchschnittlich stark vertreten ist und aufgrund seiner Flexibilität und kurzen Entscheidungswege mit unkonventioneller Kundenansprache die Nähe der Kunden nutzt. Starke regionale Anbieter werden über die Krise hinaus davon profitieren. Ansonsten ist das aber nur eine Momentaufnahme, mittel- und langfristig wird sich der Druck auf kleinere Ortszentren wieder erhöhen.

Ausblick: Eine positive Vision für die Innenstadt ist möglich

Während Fachmarkt- und Nahversorgungszentren weiter stabil bleiben, wächst insbesondere in der Innenstadt der Druck auf Händler und Mieten. Gleichzeitig bieten sich innovativen und starken Handelskonzepten dadurch Opportunitäten – vorausgesetzt die Immobilienwirtschaft kann den neuen Mieteransprüchen gerecht werden. Dennoch: Wir müssen uns an den Gedanken gewöhnen, dass wir den Handel in den Innenstädten zukünftig wesentlich kleiner denken müssen als bisher. Die wichtigste Herausforderung, der sich Immobilieneigentümer und Kommunen stellen müssen, ist daher die Frage, wie wir erodierende Handelsbranchen in den Innenstädten nachhaltig substituieren können. Ein Patentrezept für die Um- und Nachnutzung von Non-Food-Retail-Flächen in den Zentren kann es aber nicht geben. Zwar wird vieles auf ein Mehr an Nutzungsdurchmischungen auf Stadtebene und auf Objektebene hinauslaufen. Jede Mischnutzung muss jedoch standortbedingt ganz individuell betrachtet und geplant werden. Die zwei wichtigsten Handlungsfelder für Innenstadt-Entscheider müssen daher sein: Erstens die Immobilienwirtschaft frühzeitig in die Bildung einer neuen Vision für unsere Zentren einzubinden und zweitens den ordnungsrechtlichen Rahmen für Um- und Mischnutzungen auszuweiten.

Die Potenziale für Nachnutzungen sind zwar je nach Stadtkategorie unterschiedlich, allerdings gibt es auch drei wesentliche Faustregeln, an denen man sich orientieren kann: (1) Je größer die Stadt, umso vielfältiger sind die Nachnutzungsmöglichkeiten (Büro, Hotel, Logistik) und -potenziale der Immobilien. (2) Je kleiner die Stadt, umso bedeutender ist die Nahversorgung als Anker. (3) Je attraktiver der Ortskern, umso höher die Nachnutzungswahrscheinlichkeiten. Für die Händler kommt es derweil darauf an, dass sie ihre analogen und digitalen Kanäle weiter verzahnen, stationäre Erlebnisse schaffen und ihre Capture- und Conversion-Rates erhöhen.

Ein Gastbeitrag von
Joachim Stumpf,
Geschäftsführer, BBE Handelsberatung &
IPH Handelsimmobilien