Der schwierige Spagat der Währungshüter

Aktuelles
Handel
Richard Haimann
Die Inflationsrate ist so hoch wie seit 40 Jahren nicht mehr. Die US-Notenbank will mit harten Zinsschritten die Teuerung eindämmen, die Europäische Zentralbank hingegen noch abwarten – auch aus Rücksicht auf die hohe Staatsverschuldung. EZB-Präsidentin Christine Lagarde möchte keinesfalls den wirtschaftlichen Aufschwung abwürgen und die teils hochverschuldeten Länder der Eurozone durch höhere Zinsen belasten. Den Handel stellt die Inflation vor neue Herausforderungen. In Südeuropa schränken Verbraucher ihren Konsum bereits ein. In Deutschland ist das noch nicht der Fall
Studium in Harvard, Princeton und der London School of Economics, Karriereschritte bei der Chase Manhattan Bank und im US-Finanzministerium: Als Präsident Jimmy Carter am 25. Juli 1979 Paul Volcker zum Präsidenten der Federal Reserve Bank ernennt, holt er einen versierten Ökonomen an die Spitze der Notenbank, um ein Krebsgeschwür zu bekämpfen, das immer mächtiger im US-Finanzsystem wuchert. Die Inflationsrate steht bei 14,8 Prozent. Die Teuerung frisst die Ersparnisse der Amerikaner auf. Unternehmen ringen um ihre Margen, weil Gewerkschaften immer höhere Lohnforderungen durchsetzen und die Konsumenten sich immer stärker verschulden, in der Annahme, dass ein heute aufgenommener Kredit mit dem Lohn von morgen leicht zu tilgen ist.
Teuerung außer Kontrolle
Volcker greift nicht zum Florett, sondern zum Breitschwert: Er hebt den Leitzins in raschen Schritten auf 20 Prozent an. Es ist eine Rosskur für die US-Wirtschaft und die Bürger des Landes. »Der Lebensstandard der Amerikaner muss vorübergehend sinken«, gibt der Notenbankchef als Devise aus.
Der Zinssatz für Konsumentenkredite schnellt auf 21,5 Prozent in die Höhe. Banken finden auf diesem Niveau kaum noch Abnehmer für Darlehen. Die Konsumenten schränken sich drastisch ein. Unternehmen stoppen Investitionen. Die Arbeitslosenrate explodiert von fünf auf mehr als zehn Prozent. Für zwei lange Jahre versinkt die Konjunkturlokomotive der Welt in der Rezession.
Bis 1983 hat Volcker die Inflationsrate auf 3,2 Prozent gedrückt. Drei Jahre später notiert sie nur noch bei 1,9 Prozent. Die US-Wirtschaft ist da längst wieder auf Wachstumskurs. 1988 beträgt die Erwerbslosenquote nur noch 5,49 Prozent und sinkt in den folgenden Jahren sogar unter die Marke von vier Prozent.
Was Volcker vor mehr als vier Dekaden geleistet hat, könnte nun wieder nötig werden. Ob in Europa oder den USA: Beiderseits des Atlantiks scheint die Teuerung erneut außer Kontrolle. Im Euroraum ist die jährliche Inflationsrate im März auf 7,5 Prozent gestiegen. In den Vereinigten Staaten sind es zu diesem Zeitpunkt sogar 8,5 Prozent.
Jerome Powell, der gegenwärtige Mann an der Spitze der Federal Reserve Bank, erwägt nun, ebenso energisch vorzugehen wie Volcker vor 43 Jahren. Im März hat Powell erstmals seit Beginn der Corona-Pandemie den Leitzins wieder um 25 Basispunkte angehoben. Jetzt Anfang Mai sogar um weitere 50 Basispunkte auf die Spanne von 0,75 bis ein Prozent. Und Powell will die Zügel weiter straffen: »Wir werden die nötigen Schritte unternehmen, um eine Rückkehr zur Preisstabilität zu garantieren«, sagt der Fed-Präsident. »Die Inflation ist viel zu hoch.«
Madame Lagarde: »externer Schock«
Ganz anders reagiert bislang Powells Kollegin an der Spitze der Europäischen Zentralbank, Christine Lagarde. Zuletzt am 30. März dämpft sie bei einer Rede im klimatisierten Glaspalast der zypriotischen Nationalbank in Nikosia Erwartungen an eine harte Reaktion der EZB, die den Leitzins bislang weiterhin bei Null Prozent hält. »Etwaige Anpassungen der Leitzinsen werden nur graduell erfolgen«, sagt Lagarde.
Was die Euro-Währungshüter zögern lässt: Die Mehrheit der Mitglieder im EZB-Direktorium werten den starken Anstieg der Teuerung als »externen Schock«, hervorgerufen durch die rasche Erholung der globalen Konjunktur nach deren tiefem Einbruch zu Beginn der Corona-Pandemie. Mit dem harten Lockdown in China reißen vor zwei Jahren die weltweiten Lieferketten. Als in Europa und Nordamerika die Wirtschaft im vergangenen Jahr mit Macht wieder Fahrt aufnimmt, können Schifffahrtskonzerne die auf Reede liegenden Frachter nicht so schnell wieder flott bekommen, wie der Bedarf an Transportkapazitäten zunimmt. Ölförderstellen, im Jahr zuvor aufgrund des drastisch gesunkenen Bedarfs geschlossen, müssen erst wieder in Betrieb genommen werden. Container, in der Rezession des Jahres 2020 an diversen Orte der Welt gelagert, müssen nun erst dorthin gebracht werden, wo die Warenproduktion erfolgt.
Das bekommen auch Unternehmen in der Exportnation Deutschland massiv zu spüren. Die Frachtraten explodieren, Vorprodukte und Rohstoffe kommen nur mit Verzögerung ins Land, Ausfuhren verteuern und verzögern sich. »Probleme in globalen Lieferketten und hohe Logistikkosten verdunkeln den Konjunkturhimmel und haben in der Folge massive Auswirkungen auf die Exporte«, bilanziert Joachim Lang, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), im vergangenen Herbst.
Das Risiko-Barometer des Versicherungskonzerns Allianz bewertet im vergangenen Jahr die Gefahren durch die gerissenen Lieferketten für die deutsche Wirtschaft mit 50 Prozent deutlich höher als jene durch die Pandemie selbst, die bei 35 Prozent verortet werden.
Verschärft wird die Lage noch im Frühjahr 2021 als am 23. März das Containerschiff »Ever Given« im Suezkanal durch starken Wind an der Uferböschung aufläuft und die wichtige Frachtroute sechs Tage lang blockiert. Mehr als 20.000 Schiffe bringen Jahr für Jahr Waren von Fernost über den 164 Kilometer langen Kanal nach Europa, mehr als zwölf Prozent des globalen Seehandels verlaufen durch das Nadelöhr. »Die Blockade des Suezkanals durch die ›Ever Given‹ verursachte nicht nur einen Verlust, der für die gesamte Dauer der Havarie auf bis zu zehn Milliarden US-Dollar geschätzt wird«, sagt Professor Günther Maihold, stellvertretender Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. »Sie verschärfte auch die ohnehin schon angespannte Lage der weltweiten Handelsströme und Liefernetzwerke.«
Sorge um Stabilität der Eurozone
Was die EZB zudem vor einem Zinsschritt zögern lässt, ist die Sorge um die Stabilität der Eurozone. Im Verlauf der Pandemie steigt die Staatsverschuldung deutlich, weil Regierungen mit milliardenschweren Zuschüssen und Kurzarbeitergeld Unternehmen während der Lockdowns massiv unter die Arme greifen. Zwar bleiben so die Arbeitslosenraten niedrig. Die Staaten haben jedoch deutlich höhere Verbindlichkeiten als vor dem Seuchenzug.
Allein in Deutschland, dem Wirtschaftsmotor der gemeinsamen Währungszone, steigt die Schuldenlast von Bund, Gliedstaaten und Kommunen in den ersten beiden Jahren der Pandemie um weitere 384,8 Milliarden Euro auf 69,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, des Gesamtwerts aller erzeugten Güter, Waren und Dienstleistungen. In Frankreich addiert sich die Staatsverschuldung zu Beginn dieses Jahres gar auf 116 Prozent, in Italiens sogar auf 155,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
»Der Krieg in der Ukraine treibt die Euro-Staaten nun noch tiefer in die Kreide«, sagt Bernhard Köhler, CEO der Immobilieninvestment-Beratungsgesellschaft Swisslake Capital. »Zum einen versorgen sie Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine, zum anderen bewaffnen sie das Land und rüsten selbst auf.« Bundeskanzler Olaf Scholz pumpt 100 Milliarden Euro in die Bundeswehr. Italiens Ministerpräsident Mario Draghi hat die jährlichen Militärausgaben von 1,4 auf 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts angehoben, was in diesem Jahr zusätzlichen Ausgaben von 12 Milliarden Euro entspricht. Auch Belgien, Dänemark, Frankreich, Griechenland und die Niederlande wollen mehr Kapital in ihr Militär stecken.
Teuerung in den USA stärker als in Europa
Hebt die EZB die Leitzinsen an, müssten die Länder der Eurozone deutlich mehr Geld für Zins und Tilgung ihrer Staatsanleihen aufbringen. Angesichts der hohen Schuldenlast Italiens könnten gar neue Ängste vor einer Staatspleite die Finanzmärkte erschüttern. Vor einem »schwierigen Spagat« sieht Thomas Romig, Leiter Portfolio Management beim Luxemburger Asset Manager Assenagon, die Euro-Zentralbanker. »Die Währungshüter wollen keinesfalls den wirtschaftlichen Aufschwung abwürgen und die teils hochverschuldeten Länder der Eurozone durch höhere Zinsen belasten.« Deshalb müsse die EZB zugleich »die Zinsen niedrig halten und gleichzeitig glaubwürdig kommunizieren, Preisstabilität gemäß ihrem Mandat zu gewährleisten«, sagt Romig.
Deshalb rechnen längst nicht alle Banken in der Eurozone mit mit einer Anhebung der Leitzinsen in den kommenden Monaten. Dies zeigt das jüngste Stimmungsbarometer des Stuttgarter Finanzierungsberaters BF.direkt. Danach erwarteten Mitte Februar nur 40 der 100 befragten Manager von Banken und Finanzdienstleistern, die mit der Vergabe und Abwicklung von Immobilienkrediten für institutionelle Investoren betraut sind, »steigende Finanzierungskosten«, sagt Manuel Köppel, CFO der BF.direkt. »Der Anteil der Experten, der weiterhin stagnierende Kosten sieht, ist zwar um ein Viertel gesunken«, habe aber noch immer 56 Prozent betragen.
Das liegt auch daran, dass die Inflation sich vornehmlich im Dollarraum ausbreitet und von dort bislang nur in die Eurozone überschwappt. Denn die wesentlichen Preistreiber – Gas, Öl und Agrarrohstoffe wie Weizen – werden weltweit in der US-Währung gehandelt. Und gerade diese Güter sind aufgrund der Verknappung durch den Ukraine-Krieg noch teurer geworden. Das Land am Schwarzen Meer ist der größte Weizenproduzent der Welt. Das Londoner Research-Unternehmen Capital Economics erwartet, dass der Ölpreis in diesem Jahr im Durchschnitt etwa 55 Prozent oberhalb der Werte von 2021 liegen und der Gaspreis in Europa sogar um rund 140 Prozent anziehen wird. Für Weizen prognostizieren die britischen Ökonomen einen Preisanstieg von etwa 40 Prozent.
Deshalb fällt in den USA die Teuerung um 100 Basispunkte stärker aus als in der Eurozone, während andere Währungsräume bislang kaum betroffen sind. In der Schweiz notiert die Inflation im März bei lediglich 2,4 Prozent, in China bei 1,5 Prozent und in Japan gar nur bei 0,8 Prozent.
Die Ökonomin Monika Schnitzer von der Ludwig-Maximilians-Universität in München, seit 2020 Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und damit eine der fünf Wirtschaftsweisen im Land, fordert dennoch eine Leitzinserhöhung der EZB. »Wenn jeder davon ausgeht, dass die Inflation immer schlimmer wird, ist die Wirtschaft massiv verunsichert.« Reagieren Gewerkschaften mit massiven Forderungen nach Gehaltserhöhungen, könne eine gefährliche Lohn-Preis-Spirale in Gang gesetzt werden.
Deutscher Modehandel legt beim Umsatz zu
Derzeit sieht es jedoch eher so aus, als würden sich Europas Verbraucher eher im Konsum beschränken und nicht nach höheren Löhnen rufen – was den Handel vor Probleme stellt. Bereits im vierten Quartal vergangenen Jahres, als die Inflation erstmals seit vier Jahrzehnten wieder ihr hässliches Haupt regte, bekam der Modehandel dies zu spüren. »In der Summe lagen die monatlichen Umsätze in Europa im letzten Drei-Monatszeitraum 2021 noch immer mehr als 10 zehn Prozent beziehungsweise 1,7 Milliarden Euro unter dem Niveau von 2019«, bilanziert Aurélien Duthoit, Branchenexperte bei Allianz Trade. »Der Nachhol-Boom ging am europäischen Mode-Handel vielerorts vorbei, insbesondere in Italien und Spanien.« Lediglich die deutschen Mode-Händler schlugen sich relativ gut: »Hierzulande lagen die monatlichen Umsätze im vierten Quartal des Vorjahres lediglich 1,3 Prozent beziehungsweise 63 Millionen Euro unterhalb der Werte von 2019«, sagt Duthoit.
Gespart wird vielleicht nicht so sehr im Handel wie bei der Unterhaltung. Beispielhaft zeigt das Netflix. Das US-Medienunternehmen, das mit dem kostenpflichtigen Streaming von Filmen und Serien über das Internet sein Geld verdient, hat im ersten Quartal dieses Jahres weltweit 200.000 Abonnenten verloren. Und der US-Medienkonzern Warner Bros Discovery sah sich im April gezwungen, seinen Nachrichten-Streamingdienst CNN Plus wieder einzustellen – nach nicht einmal einem Monat. Nur 150.000 Nutzer konnten in den ersten zwei Wochen gewonnen werden, berichtet das Online-Newsportal Nieman Lab. Zu wenig, um den Nachrichtendienst bei einer knapp kalkulierten Monatsgebühr von drei US-Dollar profitabel zu machen.
Das sinkende Interesse an Streamingdiensten zeige, dass »Konsumenten sich bei ihren Freizeitausgaben einschränken, um wichtige Rechnungen zahlen zu können«, sagt Mark Dowding, Chefstratege bei der Londoner Investmentgesellschaft BlueBay Asset Management. Statt an Kinderbekleidung zu sparen, verzichten Familien lieber auf ein Netflix-Abo, das bis zu 17,99 Euro im Monat kostet. »Für manche Verbraucher«, sagt Dowding, »dürfte es zudem wichtiger sein, jetzt da die Corona-Maßnahmen vorbei sind, mehr Geld für Einkäufe und Gastronomiebesuche zu haben, als sich ein Streaming-Abo zu leisten.«
Ein Beitrag von
Richard Haimann,
freier Wirtschaftsjournalist