Deutschland im europäischen Umfeld

Friedrich Merz
Der CDU-Bundesvorsitzende Friedrich Merz verkündet seinen Wahlsieg. © Felix Wolf / Alamy Stock Foto

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Restart

Richard Haimann

Null Wirtschaftswachstum, Zollkonflikte mit den USA und wieder anziehende Inflation. Geopolitische Herausforderungen, die eine Neubewertung alter Bündnisse erfordern, machen das Ganze nicht einfacher. Deutschland muss auf nationaler Ebene gleich mehrere Krisen gleichzeitig in den Griff bekommen – und seine Rolle in einem neu definierten Europa finden. Die künftige Koalition in Berlin könnte sich bessere Startbedingungen wünschen. Aber ihre Chancen stehen gar nicht so schlecht, die Schwierigkeiten zu bewältigen.

Peter Leibinger, Präsident des BDI Bundesverbands der Deutschen Industrie, fordert von der Bundesregierung „einen wirklichen Neubeginn“ im Ringen gegen die „gefährliche Abwärtsspirale aus ausbleibenden Investitionen und Wachstumsschwäche“. Marie-Christine Ostermann, Präsidentin des Verbands „Die Familienunternehmer“, ruft nach einer „Wirtschaftswende“. Und Dr. Alexander von Preen, Präsident des HDE Handelsverbands Deutschland, verlangt „entschlossenes Handeln, damit wieder Planungssicherheit und Zuversicht einkehren“.

Flut von Herausforderungen

Die neue Regierungskoalition in Berlin steht vor einer Flut von Herausforderungen. Die bedeutendste: Im Feuerkessel der einstigen konjunkturellen Zuglokomotive Europas lodern keine Flammen mehr, vielmehr glimmt nur noch bescheidene Glut. Deutschlands Wirtschaft stagniert – seit einer halben Dekade. Das Bruttoinlandsprodukt, die Summe aller produzierten Güter und erbrachten Dienstleistungen, sei „in den vergangenen fünf Jahren real insgesamt um lediglich 0,1 Prozent gewachsen“, bilanzieren die Wirtschaftsweisen in ihrem jüngsten Gutachten. Die gegenwärtige Rezession sei „die längste Wirtschaftskrise in der Geschichte in der Bundesrepublik“, sagt Gesamtmetall-Hauptgeschäfts­führer Oliver Zander. „Deutschland befindet sich in einer quälend langen Stagnationsphase“, analysiert Andreas Scheuerle, Ökonom der DekaBank, dem Wertpapierhaus der Sparkassen-Finanzgruppe.

Europa wird erwachsen

Hinzu kommt eine völlige Neuadjustierung der globalen politischen Verhältnisse. Die USA, Deutschlands bedeutendster Handelspartner der Bundesrepublik, belegt unter ihrem neuen Präsidenten Donald Trump hiesige Exporte und die anderer Länder nicht nur mit hohen Zöllen. Friedrich Merz sieht seine Aufgabe klar vor sich: Für ihn werde es „absolute Priorität haben, Europa Schritt für Schritt so zu stärken, dass wir Unabhängigkeit erreichen von den USA“, sagt der CDU-Bundesvorsitzende und mutmaßlich künftige Kanzler. Der Trump-Regierung sei das Schicksal Europas „weitgehend gleichgültig“. Denn auch als bisherige militärische Schutzmacht Westeuropas wenden sich die USA immer weiter ab und Russland zu. Deren Machthaber Wladimir Putin führt seit drei Jahren einen Krieg gegen die Ukraine – der eigentlich eine einst auf drei Tage angesetzte „militärische Spezialoperation“ sein sollte. Der Kreml-Chef weitet auch seine Attacken in Form hybrider Angriffe immer weiter auf ganz Europa aus: Strom- und Datenkabel zwischen Skandinavien, Deutschland und dem Baltikum werden auf mysteriöse Weise gekappt. In sozialen Medien verbreiten Internet-Trolle aus St. Petersburg und Moskau Propaganda gegen die EU.

Inflationszyklus noch nicht besiegt

Zudem ist die Teuerung nicht gebannt. Im Gegenteil. „Seit September vergangenen Jahres ist die Inflation diesseits und jenseits des Atlantiks wieder gestiegen – in den USA von 2,4 auf 3,0 Prozent, in der Eurozone von 1,7 auf 2,5 Prozent“, warnt Kurt Neuwirth, Geschäftsführer der auf Immobilieninvestoren fokussierten Finanzierungs-Beratungsgesellschaft Neuwirth Finance in Starnberg. Die Federal Reserve Bank habe deshalb bereits vorerst auf weitere Leitzins-Senkungen verzichtet. Die EZB sollte ihr folgen, rät Neuwirth: „Der Inflationszyklus ist noch nicht besiegt.“

Hoffnung auf Wachstumsimpulse

Doch aus dieser Symphonie in Moll kann ein Crescendo in Dur erwachsen. Und es gibt erste Anzeichen, dass der Grundton die dafür nötige Terz nach oben nimmt. Der Neustart in Berlin weckt Hoffnungen auf Wachstumsimpulse für Deutschlands Wirtschaft – und damit auch den Handel. Das jüngste Stimmungsbarometer des ifo-Instituts zeigt, dass die Stimmung in der Exportindustrie wieder steigt – von minus 7,3 Zähler im Januar auf nur noch minus fünf Punkte im Februar. „In der Automobilbranche haben sich die Exportaussichten merklich aufgehellt“, sagt Klaus Wohlrabe, Leiter der ifo-Umfragen. „Auch die Hersteller von elektrischer Ausrüstung blicken vorsichtig optimistisch auf die kommenden drei Monate.“ Pessimistisch seien hingegen noch die Hersteller von Textilien und Bekleidung für ihr Exportgeschäft.

Die EU ist nicht wehrlos

Der Einzelhandel konnte im vergangenen Jahr nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes seinen Umsatz real – also preisbereinigt – um immerhin 1,1 Prozent steigern; nominal betrug der Zuwachs 2,5 Prozent. Der HDE ermittelte für 2024 einen nominalen Umsatzanstieg von 2,2 Prozent, preisbereinigt von 0,9 Prozent. Für dieses Jahr erwartet der Verband ein nominales Wachstum von zwei Prozent, preisbereinigt von 0,5 Prozent. „Positiv auswirken könnten sich steigende Realeinkommen und eine moderate Inflation“, sagt Olaf Roik, Bereichsleiter Wirtschaftspolitik beim HDE. Auf der Risikoseite hingegen drohe „eine mögliche spürbare Eintrübung am Arbeitsmarkt mit einem Anstieg der Arbeitslosigkeit“. Dazu würde es kommen, wenn Trump massive Zölle auf europäische Waren verhängt. Unternehmen, die in größerem Umfang in die USA exportieren, könnten dann gezwungen sein, ihre Fertigung herunterzufahren und Mitarbeitende zu entlassen. Doch die EU ist nicht wehrlos. Trump liebe zwar den Auftritt als „Bully“ – zu Deutsch Mobber – meint der frühere republikanische Kongressabgeordnete Adam Kinzinger, der zu den prominentesten innerparteilichen Kritikern des neuen US-Präsidenten zählt. „Aber dieser Kerl gibt nach, wenn man ihm die Stirn bietet.“

Starker Auftritt angesagt

Tatsächlich drohte Trump in seiner ersten Amtszeit mit hohen Zöllen auf Importe aus der EU, zog aber zurück, als Brüssel Gegenzölle auf Bourbon-Whiskey, Harley-Davidson-Motorräder und Jeans made in the USA verhängte. Diese Karte könnte die EU nun erneut ziehen – und gleichzeitig an anderer Stelle Entgegenkommen signalisieren. Beispielsweise durch niedrigere Zölle bei der Einfuhr von Automobilen aus den USA. Die EU erhebt auf diese derzeit zehn Prozent, während der Zollsatz für eingeführte Fahrzeuge in den Vereinigten Staaten bislang nur 2,5 Prozent betrug. Die EU müsse dafür stark auftreten, sagt Kinzinger. Deutschland als stärkste Wirtschaftsnation der Staatengemeinschaft müsse „eine sehr wichtige Rolle dabei spielen, die europäische Koalition anzuführen“, sagt der Republikaner. „Es wäre nicht im deutschen Interesse, vor Trump zu kuschen.“

Reform der Schuldenbremse

Um die Wirtschaft anzukurbeln, plädiert Bundesbank-Chef Joachim Nagel für eine Reform der Schuldenbremse. „Wir befinden uns in einer anderen Umgebung als noch vor 15 Jahren, als die Schuldenbremse quasi das Tageslicht erblickt hat.“ Der Fokus müsse „auf den Investitionen“ liegen, sagt Nagel. Es gebe „Handlungsbedarf bei der staatlichen Infrastruktur und der nachhaltigen Finanzierung der Verteidigungsausgaben“. Innenpolitisch sieht HDE-Präsident Dr. Alexander von Preen die neue Regierung vor einer weiteren Herausforderung. Wähler müssten von der AFD zurückgewonnen werden. „Dass eine Partei, die ganz offen die Axt an Weltoffenheit und internationalen Austausch legt, zweitstärkste Partei geworden ist, halte ich für brandgefährlich“, so Preen. „Der Einzelhandel braucht mehr internationale Kooperation, nicht weniger – alles andere gefährdet die Branche in ihren Grundfesten.“


Richard Haimann
Freier Journalist