Dicke Bretter beim Klimaschutz

Manfred Fischedick
Professor Dr.-Ing. Manfred Fischedick © Wuppertal Institut

Interview
Tacheles

Vincent Müller

Nachhaltigkeit ist in der Gesellschaft und nicht zuletzt in der Retail-Branche Megatrend. Wo steht Deutschland in Sachen Klimaschutz? Professor Dr. Manfred Fischedick vom Wuppertal Institut hat die Lage im Interview für uns eingeordnet.

Sprechen wir Tacheles über Klima- und Energiepolitik. Mit Blick auf die Gewinnerparteien der Europawahl wird klar: Die Bevölkerung ist sich nicht so ganz einig über den Umgang mit Klimaschutz, und insbesondere die Parteien, die gerade weniger Klimaschutzmaßnahmen versprechen, haben sehr viele Stimmen bekommen. Können Sie uns da vielleicht einmal kurz auf den neuesten wissenschaftlichen Stand bringen?

Wenn man auf das Weltklima schaut, sieht man, dass die globalen Treibhausgasemissionen, die für den Temperaturanstieg verantwortlich sind, weiter steigen. Nicht mehr ganz so schnell, wie es in früheren Zeiten der Fall gewesen ist, was auch daran liegt, dass viele Länder mittlerweile Klimaschutzmaßnahmen ergriffen haben oder dass Technologien, die zufälligerweise einen Beitrag zum Klimaschutz leisten, so günstig geworden sind. Das betrifft insbesondere die erneuerbaren Energien, die Solarenergie, die Windenergie, auch der Umstieg auf Elektromobilität in China. Das hilft alles, um die Treibhausgasemissionen zu reduzieren. Im Moment steigen sie aber noch an. Wir sind im Moment auf einem 2,4- oder 2,5-Grad-Kurs. Das heißt, am Ende des Jahrhunderts wird die Erhöhung der Weltmitteltemperatur bei etwa eben diesen 2,5 Grad Celsius oberhalb des vorindustriellen Niveaus landen. Und das ist  natürlich deutlich über der Marke, die wir uns politisch eigentlich in Paris 2015 als Vereinte Nationen gesetzt haben. Wir sind noch nicht da, wo wir sein wollen. Die Tendenzen gehen langsam in die richtige Richtung, aber viel zu langsam.

Ist es überhaupt noch möglich, das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen?

Also rein praktisch gesehen nicht, weil das noch verfügbare Restbudget in wenigen Jahren aufgebraucht sein wird. Insofern muss man realistisch sagen, die 1,5 Grad haben wir durch zu wenig Handeln in der Vergangenheit verpasst. Aber das heißt nicht, dass man den Kopf in den Sand stecken sollte, sondern so nah wie möglich an den 1,5 Grad dranbleiben. Im Nachhinein sollte man schauen, dass man in eine Art Reparaturbetrieb reinkommt, was einfacher ist, je näher man an den 1,5 Grad ist.  Aber wir sind heute in einer besseren Situation als vielleicht noch vor fünf oder zehn Jahren. Die Technologien, die man braucht, sind mehr oder weniger alle da. Wir sind kostengünstiger geworden. Wir haben eine viel breitere Dynamik weltweit. Wir haben Allianzen zwischen Industrie- und Umweltverbänden, die wir vor fünf Jahren noch nicht hatten. Also die Rahmenbedingungen, dass wir jetzt etwas tun könnten, sind besser. Wir müssen nur jetzt zum Punkt kommen.

Jetzt sind wir ja nun in Deutschland, und deutsche Politik muss sich mit den deutschen Emissionen beschäftigen. Wir haben uns das Klimaschutzziel 2030 gesteckt. Wie sieht es damit aus?

Ich glaube, man muss insgesamt im Klimaschutzbereich sagen, dass wir überall dicke Bretter zu bohren haben. Das gilt auch für Deutschland. Die jüngsten Zahlen aus dem letzten Jahr: Es ist in Deutschland möglich gewesen zwischen 1990 und 2023, die Treibhausgasemissionen um 46 Prozent zu verringern. Das ist erstmal eine stattliche Größenordnung. Aber 2023 hatten wir Sondersituationen. Wir hatten eine schleppende Konjunktur. Wir hatten einen relativ warmen Winter. Wir hatten ein Jahr, wo sehr viel Strom importiert und nicht exportiert wurde. Das heißt, eine ganze Reihe von Maßnahmen sind nicht struktureller Art, sondern sind Sonderbedingungen gewesen. Also, in 33 Jahren haben wir 46 Prozent Treibhausgasemissionen gemindert – jetzt wollen wir in den verbleibenden sechs Jahren noch um knapp 30 Prozent mindern. Das zeigt: Wir müssen deutlich schneller werden und die Geschwindigkeit verdoppeln oder verdreifachen. Das ist zwar möglich, es ist aber ein dickes Brett. Und wenn man in den Projektionsbericht der Bundesregierung reinschaut, dann wird man sich vermutlich sehr nah an das 65-Prozent-Ziel heranrobben können, wenn es optimal läuft. Und das tut es nicht zwingend. Der Expertenrat für Klimafragen geht davon aus, dass wir das Ziel verfehlen, wenn auch nicht dramatisch.

Jetzt gibt es ja verschiedene Maßnahmen, die in Deutschland ergriffen wurden. Eine davon ist das Gebäude-Energie-Gesetz, zu dem unser Wirtschaftsminister neulich eingestanden hat, dass er damit zu schnell war, dass er da Fehler begangen habe. Es sei ein Test gewesen, wie weit die Gesellschaft bereit ist, den Klimaschutz zu tragen. Würden Sie auch sagen, dass er da zu weit gegangen ist – oder nicht weit genug?

Wir sind jetzt in einer Situation, wo Klimaschutz in den Alltag der Menschen reinragt. Jahrelang war der Schwerpunkt der Ausbau der erneuerbaren Energien, das hat die Menschen in ihrem Alltag relativ wenig berührt und war sehr abstrakt. Aber wenn wir die Ziele erreichen wollen, muss sich das jetzt ändern, dann müssen wir ran an Gebäude und Verkehr. Da kommen natürlich Widerstände auf.  Es ist erstmal richtig zu sagen, wir brauchen einen Austausch der fossilen Heizungssysteme im Gebäudebereich. Wenn das Ziel Treibhausgasneutralität ist, dann dürfen auch die Heizungen, die in den Gebäuden stehen, auch kein Treibhausgas mehr limitieren. Ein Kardinalfehler war, dass man die Menschen kommunikativ nicht mitgenommen hat und dass man ihnen nicht gut erklärt hat, warum man das macht. Die Regierung wollte zu viel auf einmal und hat nicht in Stufen gedacht. Das führt natürlich zu einer sehr großen Verunsicherung. Es gibt fast nichts Komplizierteres als den Gebäudebereich, wo Sie sehr unterschiedliche Gebäudearten haben. Verschiedene Sanierungsstadien und Besitzverhältnisse – das ist ein hochkomplexes Konstrukt. Da gibt es nicht „die eine Strategie”, mit der man alles adressieren kann.  Der größte Fehler war, das Ordnungsrecht ohne die jeweiligen Fördermaßnahmen vorauszuschicken. Stattdessen hätte man zeigen sollen, „wir lassen euch damit nicht allein”. Und in bestimmten Fällen muss man vielleicht akzeptieren, dass Fördermaßnahmen nicht mehr reichen. Dann gibt es eben zum Schluss noch zehn Prozent fossile Heizungen, die müssen wir dann mit anderen Technologien kompensieren.  Aber grundsätzlich kommen wir nicht umhin, im Gebäudebestand die Sanierungsrate deutlich zu erhöhen, indem wir auch Heizungssysteme austauschen.

Wie hätten Sie denn den Gebäudesektor priorisiert?

Für das Ziel Treibhausgasneutralität 2045 haben wir noch 20 Jahre Zeit. Das ist für den Gebäudesektor unendlich wenig. Da können wir nicht bis 2044 warten und dann einsteigen, sondern man muss das tatsächlich jetzt machen und dann sukzessiv in die Umsetzung gehen.  Und da wäre es eben richtig gewesen, mit einem geschlossenen Konzept auf die Menschen zuzugehen und das Ganze auch in zeitlichen Abständen zu machen. Es geht ja nicht darum, innerhalb von einem Jahr alle Gebäude zu sanieren. Wir haben ja mehr oder weniger 20 Jahre Zeit, aber wir müssen ja mal irgendwo anfangen.

Was wäre denn in Ihren Augen eine Möglichkeit, um die Themen Klimaschutz und Energiewende sowohl den Privatbürgern hier in diesem Land als auch den Unternehmen besser zu präsentieren und besser zu kommunizieren?

Bei vielen Firmen hat sich in den letzten fünf bis zehn Jahren viel getan, nicht nur durch die Bundesregierung, sondern auch durch den European Green Deal. Sie wollen pro Klimaschutz agieren und grüne Produktmärkte entwickeln. Für diese Unternehmen ist es natürlich Gift, wenn bestimmte politische Parteien das Rad zurückdrehen wollen. Sie brauchen Kontinuität, um sicher investieren zu können. Deshalb gibt es auch ganz neue Allianzen zwischen Umweltverbänden und der Industrie, die darauf pochen, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen und über den Vorreiterstatus neue Exportmärkte zu erschließen. Das gilt für die chemische Industrie, die Stahlindustrie und den Handel. Aber man muss die Notwendigkeit von Klimaschutz für die Bürger noch besser erklären. Eigentlich sollte das mit Blick auf die Wetterextreme, die wir allein in diesem Jahr hatten, eine Selbstverständlichkeit sein. Es wird immer hervorgehoben, dass Klimaschutz ein Mehr an Investitionen erfordert. Das bedeutet aber nicht zwingend ein Mehr an Kosten. Sie sparen Kosten für das Einkaufen von fossilen Energieträgern, weil Sie sich weniger geopolitisch abhängig machen, weniger Risiken für Preissprünge oder sogar für physische Knappheit haben, wie wir sie jetzt vor zwei Jahren am Erdgas hatten. Sie machen sich weniger abhängig von CO2-Preisen. Und muss man zu höheren Investitionen in Vergleich setzen, wird aber politisch meistens nicht gemacht. Wir brauchen eine Art Ermöglichungskultur, die unsere Bürger befähigt, am Klimaschutz teilzuhaben, zum Beispiel über Förderinstrumente im Gebäudebereich, damit niemand ratlos zurückgelassen wird. Schauen Sie in den Verkehrsbereich – dort haben wir bisher nur Förderinstrumente für diejenigen, die sie gar nicht brauchen. Wer kann sich ein Elektroauto leisten? Nicht diejenigen, die jeden Tag mit einem normalen Job zur Arbeit pendeln, sondern für die obere Mittelklasse aufwärts, die sich für 70.000 Euro Elektroautos kaufen kann, um die 5000 Euro Förderung mitzunehmen, aber nicht für die Normalbevölkerung. Insofern geht es auch darum, nachhaltiges Mobilitätsverhalten zu ermöglichen, indem man jetzt mit der Industrie zusammen versucht, kostengünstige Elektrofahrzeuge zu entwickeln, und den öffentlichen Personennahverkehr attraktiver macht. Da ist dieses Deutschland-Ticket gar nicht so ein schlechter Anfang.  Man muss den Leuten ermöglichen, sich nachhaltig zu verhalten, anstatt nur den Finger auf die Konsumenten zu zeigen. Und es gibt noch viel zu tun, um das zu erreichen.

Wirtschaft und Handel haben ja tagtäglich mit Investitionen zu tun. Fällt es den Menschen in dieser Branche eventuell leichter, auch bei Klima- und Energiethemen in die Zukunft zu blicken?

Ja, absolut. Die Wirtschaft ist gewohnt, in Reinvestitionszyklen zu rechnen, und analysiert genau: Was kann ich jetzt investieren? In welchen Zeiträumen amortisiert sich das? Investitionen und Kosten werden unterschieden. Das ist natürlich bei den Gebäudebesitzern nicht immer so. Da werden Investitionen mit Kosten gleichgesetzt, und das ist natürlich Quatsch. Man sieht nur die zusätzlichen 15.000 Euro für eine Wärmepumpe und berücksichtigt nicht die zukünftige Entwicklung der Energieträgerpreise, das 2027 eingeführte europäischen Investitionsbündel InvestEU oder die CO2-Kosten in fünf, sechs Jahren. Um im Gebäudebereich wirklich zu sparen, muss man die steigenden CO2-Kosten beachten. Ohne entsprechende Maßnahmen bin ich ausgeliefert. Diese ganzen Gedanken macht man sich ja gar nicht, wenn man die Informationen nicht hat, weil man jetzt in den letzten zwölf Monaten noch dermaßen verunsichert worden ist, weil unterschiedliche Akteure unterschiedliche Dinge gesagt haben. Daher ist es verständlich, dass da nicht immer nach dem Homo-oeconomicus-Prinzip entschieden wurde. Es besteht ein hohes Maß an Verunsicherung, und da ist der Staat gefordert, Hilfestellung zu leisten, damit sich die Menschen nicht alleingelassen fühlen, sondern am Transformationsprozess teilhaben können. Grundsätzlich wissen wir: Die Leute wollen ja was leisten. Sie müssen nur das Gefühl haben, dass sie auch mitgenommen werden und man sie nicht mit lauter Fragezeichen in der Ecke stehen lässt.

Was können denn Wirtschaft und Einzelhandel konkret tun, um eben diese Geschwindigkeit voranzutreiben?

Das sind natürlich wichtige Multiplikatoren. Auf der einen Seite haben sie ja selber Gebäude, wo sie in die sichtbare Vorreiterrolle gehen können. Ob das jetzt die Heizungsanlage ist oder ob das die PV-Anlage auf dem Dach ist, das sollte man auch sichtbar machen und erklären, warum man das Gebäude saniert und jetzt vielleicht eine andere Heizungsanlage hat. Diese Sensibilisierungsfunktion, die halte ich schon für sehr wichtig, denn die Menschen kommen ja genau dorthin, um einzukaufen. Dann E-Ladestationen auf den Parkplätzen, das passiert ja schon häufig, aber auch noch nicht flächendeckend. Was das Produktportfolio anbelangt, sollte man stärker auf nachhaltige Produkte setzen und auch erklären, warum vielleicht das eine oder andere Produkt die besseren ökologischen Eigenschaften hat. Da kann man schon eine Menge tun, um auf der einen Seite Multiplikator zu sein, Vorreiter zu sein und die Menschen noch mitzunehmen in der Umsetzung. Dann sollte eben das ökologische Produkt nicht in der drittletzten Ecke schlummern, sondern sollte möglichst vorne im Warenkorb stehen. Aber auch da braucht es natürlich wieder staatliche Unterstützung, wenn es darum geht, diese Produkte jetzt in der Übergangszeit auch kostengünstiger zu machen. Das können sich auch nicht alle leisten, beispielsweise hochwertige Lebensmittel oder Textilien. Man ist eben sehr nahe im physischen Austausch mit den Menschen, während die tagtägliche Begegnung mit den Wirtschaftsministern natürlich nicht stattfindet.

Vincent Müller
Freier Mitarbeiter