»Die bisher größte Reparaturleistung der Geschichte stemmen«

Klimawandel
Die größte Herausforderung der Menschheit: Umfassende Maßnahmen zur Begrenzung des menschengemachten Klimawandels © sveta – stock.adobe.com

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Richard Haimann

Menschen waren schon immer vielen Gefahren ausgesetzt. Und sie haben ihnen getrotzt – selbst, wenn die Lage aussichtslos schien. Das ist die Geschichte der Menschheit. Statt aufzugeben, nehmen wir die Herausforderungen an. Heutzutage sind es Krieg und Klimakrise, die Umdenken und Neuorientierung von uns fordern. Keine leichten Aufgaben, aber durchaus zu bewältigen

Frank Sherwood Rowland, Professor für Chemie an der University of California in Irvine, und sein Postdoktorant Mario José Molina sind den meisten Menschen ebenso wenig bekannt wie der niederländische Meteorologe Paul Josef Crutzen. Dabei hat das Wissenschaftler-Trio eine der gewaltigsten Leistungen des vergangenen Jahrhunderts vollbracht: Sie haben verhindert, dass hunderte Millionen Menschen an Hautkrebs erkrankt sind.

Die Forscher haben in den 1970er Jahren die Ursache des wachsenden Ozonlochs über der Antarktis gefunden und maßgeblich dazu beigetragen, es zu schließen. Die gesundheitliche Bilanz ihrer Leistung hat im vergangenen Jahr eine Studie im Wissenschaftsmagazin Scientific America gewürdigt: Weltweit sind danach 443 Millionen Menschen vor malignen Hauttumoren und 63 Millionen weitere vor  Erblindung bewahrt worden. Zudem, das zeigt eine ebenfalls 2021 publizierte Untersuchung eines Teams um Paul Young, Klimawissenschaftler der Lancaster University in Großbritannien, konnte so in den vergangenen 33 Jahren verhindert werden, dass sich das globale Klima um weitere 0,5 bis 1 Grad erwärmt.

Was Crutzen, Molina und Rowland entdeckt hatten: Fluorchlorkohlenwasserstoffe, kurz FCKW genannt, zerstören die Ozonschicht in der Atmosphäre. Das Spurengas, in der unteren Stratosphäre in rund 40 Kilometern Höhe angesiedelt, absorbiert die Ultraviolettstrahlung im Sonnenlicht. Fehlt das Ozon, wird die für das menschliche Auge unsichtbare Strahlung zur tödlichen Gefahr. Sie löst Hautkrebs aus, verursacht die als Grauen Star bezeichnete dauerhafte Trübung der Augenlinsen und lässt Pflanzen sterben, wodurch diese kein Kohlendioxid mehr in Sauerstoff umwandeln können. Das lässt die Konzentration des Klimagases CO2 in der Atmosphäre steigen und treibt die globale Erwärmung voran.

FCKW-Verbot setzte Handel unter Druck

1974 veröffentlichen Crutzen, Molina und Rowland ihre Erkenntnisse über die Zerstörung der Ozonschicht. Elf Jahre später reagiert die internationale Staatengemeinschaft. Im März 1985 unterzeichnen 197 Nationen die Wiener Übereinkunft zum Schutz der Ozonschicht. Zwei Jahre später beschließen sie im kanadischen Montreal ein Protokoll, um den Gebrauch von FCKW zu untersagen. Von 1989 an tritt das Verbot sukzessive in Kraft – auf der ganzen Welt.

Das FCKW-Verbot setzt Handel und Industrie enorm unter Druck: Zu diesem Zeitpunkt dienen FCKW als Kältemittel in Klimaanlagen, Kühl- und Gefrierschränken, als Treibgas für jede Art von Sprühdosen, als Feuerlöschmittel und finden Verwendung in der Herstellung von Schaumstoffen. In wenigen Jahren müssen ganze Industriezweige Ersatzstoffe entwickeln. Der Handel muss seinen Kunden erklären, dass die neuen Kühlschränke und Automobile mit Klimaanlagen ohne FCKW genauso gut arbeiten, wie ihre Vorgänger.

Das gewaltige Unterfangen gelingt. Die FCKW-Emissionen werden erst drastisch reduziert, sinken dann schließlich auf Null. Das Ozonloch schließt sich wieder. Crutzen, Molina und Rowland erhalten 1995 den Nobelpreis für Chemie.

Forschergeist und Unternehmertum

Das Montreal-Protokoll gilt als Meilenstein im Umwelt-Völkerrecht. »Es ist eines der besten Beispiele für die positiven und wirkungsvollen Folgen des Multilateralismus«, sagt Meg Seki, Leiterin der Abteilung für den Schutz der Ozonschicht im Umweltprogramm der Vereinten Nationen. Nur weil alle Staaten zusammengearbeitet haben, sei es gelungen, Menschen, Tiere und Pflanzen vor den für sie tödlichen UV-Strahlen zu schützen. »Die Welt ist zusammengekommen, um die bisher größte Reparaturleistung der Geschichte zu stemmen«, sagt Seki.

Was vor 35 Jahren mit der Unterzeichnung des Montreal-Protokolls erreicht wurde, zeigt, was Menschen erreichen können, wenn sich Forschergeist, politischer Willen und Unternehmertum paaren. Von den Wissenschaftlern, die die Ursache des Ozonlochs entdeckt haben, über Politiker so unterschiedlicher Couleur wie dem damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan, Großbritanniens »Eiserner Lady« Margaret Thatcher, dem späteren Kanzler der deutschen Wiedervereinigung, Helmut Kohl, bis hin zum Reformer der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, und diversen Lenkern großer Konzerne – sie alle haben an einem Strang gezogen, um das scheinbar Unmögliche in wenigen Jahren möglich zu machen.

Herausforderungen zu bewältigen – das liegt quasi in der menschlichen DNA. Es ist ein Ur-Code, tief eingebettet in den Genen, der die Spezies über Hunderttausende von Jahren hinweg von den Urwäldern Afrikas erst in die Savannen und schließlich über den gesamten Erdball geführt hat. Möglich gemacht haben all dies komplizierte neurobiologische Abläufe im Körper. Wissenschaftler sprechen von der Fight-or-Flight Response – der Kampf-oder-Flucht-Reaktion. Sie sorgt dafür, dass Menschen auf Gefahren reagieren und Auswege finden können.

»Die Ausschüttung von Hormonen wie Cortisol, Prolaktin und Somatropin beschleunigen den Herzschlag, spannen die Muskulatur an, regen die Schweißbildung an, um den Körper zu kühlen«, hat Luis Sobrinho, Professor für Endokrinologie, bei seinen Studien an der Neuen Universität Lissabon ermittelt.

Bedrohung erkennen, Risiko analysieren

Auf ihren Wanderungen über den Planeten haben Menschen gelernt, reißende Flüsse und trockene Wüsten zu queren, sich Kleidung zum Schutz gegen die Unbilden des Wetters zu schaffen, erst Lager, dann ganze Städte zu errichten und sie haben das Rad erfunden, um schwere Lasten zu transportieren. Mit jeder bewältigten Aufgabe haben sich neue Verknüpfungen zwischen Hirnzellen gebildet. Die Grundlage, um vergangene Erfahrungen abzuspeichern und immer komplexere Gedanken zu fassen. Immer mehr Informationen können so über die Jahrzehntausende der Evolution hinweg gesammelt und verarbeitet werden. Am Ende ist der Mensch fähig, langwierige Unterfangen zu planen und auf potenzielle Bedrohungen und Risiken hin zu analysieren.

Es sind Eigenschaften, die 1271 die venezianischen Brüder und Inhaber eines Handelshauses, Maffeo und Niccolò Polo, sowie dessen Sohn Marco nach Asien aufbrechen lassen, um Seide und Gewürze zu erstehen und nach Italien zu bringen. Es ist ein Unterfangen, dass sie am Ende bis nach China führt, und der Auftakt großer Entdeckungen, vorangetrieben von Europas Händlern, die ihren Kunden immer schneller und günstiger Produkte aus dem fernen Osten präsentieren wollen: Edelsteine, Elfenbein, Gewürze, Perlen, Seide und Tee, die in Indien zu finden sind.

Im Auftrag des spanischen Königshauses entdeckt der genuesische Seefahrer Christoph Kolumbus auf der Suche nach einem westlichen Seeweg zum asiatischen Subkontinent 1492 Amerika. Den direkten Seeweg nach Indien findet fünf Jahre später der portugiesische Seefahrer Vasco da Gama, indem er mit seiner kleinen Flotte aus vier Seglern Afrika umrundet.

Am 20. Juli 1969 gipfelt der menschliche Drang, das Unmögliche möglich zu machen, in einer Mission, deren Ziel 384.000 Kilometer entfernt von der Erde liegt. Der NASA-Astronaut Neil Armstrong betritt als erster Mensch den Mond. »Das ist ein kleiner Schritt für einen Menschen«, sagt Armstrong als er seinen Fuß auf den Trabanten setzt, »aber ein großer Sprung für die Menschheit.«

Aggression und Empathie

Es sind jedoch nicht nur Tatendrang, Forschergeist und Neugier, die den Menschen treiben. Hinzu kommen noch zwei weitere Fähigkeiten: Aggression und Empathie.

Aggression – abgeleitet vom lateinischen Verb aggred, zu deutsch: heranschreiten, sich nähern – ist ein tief verankertes Verhaltensmuster, das ursprünglich der Verteidigung und zur Bewältigung von Gefahren dient. »Hervorgerufen wird es vor allem von negativen Gefühlen – von Frustration, Furcht, Schmerz, Hunger, Kälte oder Hitze«, analysiert der US-Sozialpsychologe Leonard Berkowitz. Der 2016 im Alter von 89 Jahren verstorbene Wissenschaftler hat von 1951 fortwährend über Aggression und Altruismus geforscht.

Aggression befähigt den Menschen einerseits, eine schlechte Situation zum Besseren zu wenden. Ist es kalt, wird Holz beschafft, um ein Feuer zu entzünden. Knurrt der Magen, werden Beeren gesammelt oder ein Reh erlegt.

Es gibt aber auch eine Kehrseite. Ist das Aggressionsverhalten zu stark ausgeprägt, wendet sich der Mensch gegen seinesgleichen. «Todestrieb«, hat Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, das genannt. Die Bereitschaft – oder gar der Wunsch – andere Menschen zu verletzten oder ihnen sogar das Leben zu nehmen. Der kanadische Psychologe Albert Bandura, der Entwickler der sozial-kognitiven Lerntheorie, zeigt 1963 in einer großangelegten Studie, dass diese zum Tod anderer führende Aggression kein auf natürliche Weise im Menschen verankertes Verhalten ist – sondern vielmehr angelernt durch das Beobachten und Imitieren anderer. Vom »Immitationslernen« spricht Bandura. Wer sieht, wie ein anderer mit aggressivem Verhalten sein Ziel erreicht hat, ahmt ihn nach, weil er sich davon einen vergleichbaren Erfolg verspricht.

»vollwertiger Atomkrieg«

Was der Todestrieb im schlimmsten Fall auslösen kann, zeigt sich derzeit in der Ukraine: Russische Truppen, von Kremlherrscher Wladimir Putin zur Eroberung in das Nachbarland gesandt, morden und vergewaltigen Zivilisten. Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten, Wohnblocks, ganze Städte werden mit Bomben, Granaten und Raketen zu Trümmerlandschaften gemacht. Putins Gefolgsmann Dmitri Medwedew, Vorsitzender der Partei Einiges Russland, droht seit Beginn des Überfalls am 24. Februar immer wieder mit noch viel mehr Tod und Zerstörung: Der Kreml könnte einen »vollwertigen Atomkrieg« starten.

Der Tod, den Putin über die Ukraine bringt, hat auf der anderen Seite in den Menschen weltweit die Empathie geweckt, ihren Altruismus gestärkt – die Bereitschaft, sich in das Leid und die Not anderer hineinzufühlen und ihnen uneigennützig und selbstlos zu helfen. Ob in Polen, Rumänien, der Slowakei, Tschechien oder hier in Deutschland: Familien haben geflüchtete Ukrainer in ihre Häuser aufgenommen und Millionenbeträge für Hilfsorganisationen gespendet. Im »Netzwerk Unternehmen integrieren Flüchtlinge« des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) haben sich bis Anfang Juli 3.238 Firmen – von kleinen Einzelhändlern und Handwerksbetrieben bis hin zu großen Industrieunternehmen – zusammengetan, um Arbeits- und Ausbildungsplätze für Ukrainer zu schaffen, die vor dem Krieg geflohen sind (https://www.unternehmen-integrieren-fluechtlinge.de).

Hinzu kommen Geld- und Sachspenden, mit denen Betriebe aller Größenordnungen die Menschen in der Ukraine unterstützen. Lebensmittel, Babynahrung, Drogerieartikel, Verbandsmaterial – alles wird gekauft, gespendet, verpackt und in das um seine Existenz ringende Land gebracht. Von einer »überwaltigenden Welle der Hilfsbereitschaft« spricht DIKH-Präsident Peter Adrian. »Das Schicksal von Millionen Menschen in der Ukraine, die aktuell um ihr Leben bangen und über Nacht alles zu verlieren drohen, bekümmert uns alle.« Für die deutsche Wirtschaft gelte: »Erst kommt das Menschliche, dann kommt das Wirtschaftliche.«

Solidarischer Einzelhandel

Zahlreiche Unternehmen haben zudem aus Protest ihre Geschäftstätigkeiten in Russland eingestellt: Die Bandbreite reicht von Handelsketten wie Aldi, Edeka, Ikea, Netto, Obi und RWE über Automobilkonzerne wie BMW, Mercedes-Benz, Stellantis und Volkswagen, die Unterhaltungsgiganten Sony und Sportartikelproduzenten wie Adidas, Nike und Puma bis hin zu Nahrungsmittelriesen wie Coca-Cola, Danone, Heineken, McDonald's und Starbucks.

Hilfsbereitschaft, Rücksichtnahme, uneigenütziges Handeln – das haben Menschen auch zu Beginn der Corona-Pandemie gezeigt. Für Ältere und Chronischkranke haben Nachbarn eingekauft, Rezepte bei Ärzten geholt und in Apotheken eingelöst.

Diese Eigenschaften werden künftig auch benötigt werden, um die wohl bisher größte Herausforderung der Menschheit bewältigen zu können: den Klimawandel. Dessen Auswirkungen sind in diesem Jahr erneut massiv zu spüren. Hohe Temperaturen und anhaltende Trockenheit führten bereits im Juni zu massiven Waldbränden in Brandenburg. Mehrere Orte mussten evakuiert werden, weil die Flammenfront nicht zu stoppen ist war. Im vergangenen Jahr hat Deutschland vor allem mit gewaltigen Starkregenfälle ringen müssen. Am heftigsten im Ahrtal. Schwere Überschwemmungen am 14. Juli kosten dort 134 Menschen das Leben, zerstören ganze Orte, Straßen und Bahngleise.

Wissenschaftler, Industrieunternehmen, Handelsketten – sie alle ringen darum, mit neuen Produkten und Fertigungsverfahren den Ausstoß des Treibhausgases Kohlendioxid bis 2050 weltweit auf Null zu bringen. Wie bei der erfolgreichen Schließung des Ozonlochs setzen Politiker auf internationale Kooperation. 195 Nationen haben sich bei der Klimakonvention der Vereinten Nationen am 12. Dezember 2015 in Paris darauf geeinigt, die menschengemachte globale Erwärmung auf «deutlich unter zwei Grad Celsius gegenüber den Werten des vorindustriellen Zeitalters zu begrenzen«.

Anders als bei der Bewältigung des Ozonlochs ist es diesmal nicht damit getan, ein chemisches Kältemittel und Treibgas durch andere Produkte zu ersetzen. Der massive Umbau der Energiewirtschaft ist nötig – weg von Öl, Kohle und Gas hin zu Wind-, Wasser- und Solarkraft. Es ist eine Herausforderung, die Verhaltensänderungen von jedem Menschen fordert. Wie schwer das ist, zeigt in Deutschland die mit dem rasanten Anstieg der Energiepreise erneut ausgebrochene Diskussion um ein Tempolimit. Für leidenschaftliche Autofahrer wäre eine solche Maßnahme ein massiver Eingriff in ihre persönliche Freiheit. Für Klimaschützer hingegen ist dieser Schritt längst überfällig, wenn wir die Menschheit retten wollen.

Doch dieser Streit dürfte in ein oder zwei Dekaden vergessen sein. Wenn es gelungen ist, die Klimakrise in den Griff zu bekommen – so wie die Menschheit alle bisherigen Herausforderungen in ihrer Geschichte erfolgreich bewältigt und dabei Lebensqualität und Lebenserwartung verbessert und verlängert hat.


Ein Beitrag von
Richard Haimann,
freier Wirtschaftsjournalist