Die gesamte Retail-Diskussion wird viel zu romantisch geführt

Dr. Marc Schumacher
Dr. Marc Schumacher © TWDC / Kurt Krieger

Interview
Herausforderung

Susanne Osadnik

Dr. Marc Schumacher, Managing Director bei Liganova, einer Agentur für Markenkommunikation, über Karstadt-Häuser, die es in die Tagesschau schaffen, fehlgeleitete staatliche Unterstützung und das Ende von »the more, the better« als Leitmotiv von Volkswirtschaften

Herr Schumacher, haben Sie zurzeit Mitleid mit den Fashion-Anbietern, die es wie kaum eine andere Branche des Einzelhandels hart trifft?
Dr. Marc Schumacher: Selbstverständlich. Es verbietet sich, das als lapidar oder gar selbstverschuldet abzutun. Dafür ist die Situation viel zu ernst.
 
Sie haben die Branche schon vor Corona darauf hingewiesen, dass die Umsätze von einst nie wieder zu erzielen sein werden. Das sei aber auch nicht das eigentliche Problem. Was ist es denn?
Die gesamte Retail-Diskussion wird viel zu romantisch geführt. Da wird an Dingen festgehalten, die sich längst erledigt haben. Gerade in dieser Pandemie sehen wir das wieder sehr deutlich. Warum sind Kaufhäuser, die schon seit vielen Jahren als Gesamtkonzept kränkeln, besonders schützenswert? Wenn Karstadt-Häuser schließen müssen, berichtet darüber die Tagesschau; ebenso, wenn sie dann doch wieder gerettet werden. Andere Player, die mindestens genauso wichtig für den Einzelhandel sind, gehen Pleite, ohne dass überhaupt darüber berichtet wird. Und da gibt es dann auch Arbeitslose.
 
Aus Ihrer Sicht brauchen wir überhaupt keine stationären Kaufhäuser mehr?
Wir müssen endlich anerkennen, dass sich in den vergangenen zehn Jahren der Zeitgeist vollkommen verändert hat. Durch  technologischen Fortschritt leben wir heutzutage wie wir uns das vor 30 Jahren noch nicht haben vorstellen können. Die Menschen erfahren sich selbst und andere durch soziale Medien auf ganz neue Weise und haben Zugang zu Informationen über andere bekommen, die früher undenkbar gewesen wären. Das alles hat auch das Kauf- und Konsumverhalten verändert. Der jahrhundertealte Deal zwischen der Industrie und dem Konsumenten funktioniert nicht mehr, weil der Konsument ihn aufgekündigt hat. Es gilt nicht länger: mehr Ware, mehr Konsum, mehr Gewinn!
 
Das Wachstumsmodell hat dafür vermutlich auch zu lange funktioniert. Und eine Abkehr davon ist ja auch nicht zu erkennen. Wer so etwas äußert, wird schnell in die politisch linke Ecke verwiesen ...
Wir folgen in der Tat immer noch dem Paradigma des Wachstums, weil für die Volkswirtschaften »the more, the better« lange Zeit das Leitbild war. Wir sehen aber auch schon seit Längerem, dass viele Industrien Schwierigkeiten haben und an ihre Wachstumsgrenzen stoßen. Nicht nur der Textilhandel hat mit sinkenden Umsätzen und geringeren Margen zu kämpfen; dasselbe gilt beispielsweise auch für die Auto-Industrie. Da steht uns eine Zäsur bevor, die vermutlich weh tun wird, aber unvermeidlich ist.
 
Corona erweckt den Eindruck, die Party sei vorbei. Jetzt folgt das  allgemeine Umdenken, das in einer Abkehr vom Konsum mündet …
Das ist aber auch nur ein Eindruck, der der aktuellen Situation geschuldet ist. Die Freude am Konsum wird zurückkehren; sie wird nur vielleicht andere Schwerpunkte haben: Ist man vor Corona ganz selbstverständlich nach Bali in den Urlaub geflogen, wird man sich jetzt und auch künftig wieder mehr an europäische Reiseziele halten. Dasselbe betrifft neben dem Reisen auch andere Bereiche wie Essen, Bildung, Fashion. Das Mode-Label »Closed« produziert schon immer zum größten Teil in Europa und wirbt mit seinen europäischen Wurzeln: französische Kreativität, italienisches Handwerk, deutsche Tradition. Ich bin sicher, dass künftig auch andere Unternehmen wieder verstärkt auf Europa setzen werden. Das alles ist Teil der Hyperlokalisation, die als Reaktion auf Corona folgen wird.
 
Was kann der stationäre Handel tun, um sich für diese Nach-Corona-Zeit und die mittelfristige Zukunft zu rüsten?
Alle miteinander sind immer noch meilenweit davon entfernt, den Konsumenten ins Zentrum ihrer Aktivitäten zu stellen. Mehr denn je muss man sich als Handelsunternehmen fragen, welche Aufgabenstellung man übernimmt. Zwei zentrale Fragen gilt es zu beantworten: Was ist buying? Was ist shopping? Beim bying geht es um die stetig wiederkehrenden Dinge des täglichen Lebens, die turnusmäßig eingekauft werden müssen. Das reicht von der Milch über das Duschgel bis hin zum Klopapier. Für diese Konsumartikel brauche ich eigentlich keinen stationären Handel in der Innenstadt. Solche Dinge werden künftig noch viel mehr als heutzutage online zu bestellen sein. Das bietet aber auch mehr Chancen für den Bereich Shopping, bei dem es um das Erfüllen von Wünschen geht. Betrachtet man eine Innenstadt unter diesem Aspekt, wird sie schon in wenigen Jahren ganz anders als jetzt aussehen.
 
Mehr Unterhaltung, weniger Einkauf?
Schon jetzt ziehen immer mehr Unternehmen in die Städte, die sich nicht mehr an Flächenproduktivität orientieren, sondern einfach präsent sein wollen, um ihre Waren zu promoten. Shops in der Innenstadt werden mehr und mehr zu Marketing-Tools. Zu kaufen gibt es da meist gar nichts mehr. Showrooming wird die eine Antwort auf die sterbende Innenstadt sein. Dazu kommen neue Formate wie etwa die »studios of wonders«, eine neue Attraktion am Leipziger Platz in Berlin. Das ist ein urbaner Playground auf mehr als 500 Quadratmetern mit Erlebniswelten, die mit optischen Täuschungen, Unendlichkeitseffekten und Gerüchen arbeiten und so alle Sinne ansprechen. Dafür zahlen die Besucher Eintritt wie im Museum. Durch Corona auch ein bisschen untergegangen ist die Eröffnung einer großen Begegnungstätte für Gamer in der Nähe des Checkpoint Charlie. Da passen 500 Leute rein, die sich vor Ort zum Gaming oder E-Sport treffen können, aber auch Burger-Restaurant, Bar, Gaming-Café, Turnierarena, TV-Studio, Trainingsraum und Kino zur Verfügung haben. In Nach-Corona-Zeiten rechnen die Macher damit, dass sich da 250.000 Besucher jährlich tummeln werden.

Berlin ist nicht Celle. Was machen denn die mittleren und kleinen Städte, in denen immer noch die Mehrzahl der Menschen lebt, um den Niedergang ihrer Zentren zu verhindern?
Solche Städte werden es unverhältnismäßig schwerer haben, einen geeigneten Weg zu finden. Vielfach bleibt da nur, sich in Werbegemeinschaften zusammenzutun und über Quersubventionierungen die Geschäfte am Laufen zu halten. Einige Große, die noch gute Umsätze machen, werden dann für Kleinere mit geringerem Umsatz einspringen müssen, indem die einen mehr und die anderen weniger Miete zahlen. Denn auch in Celle kaufen die Leute über Amazon. Und das wird sich voraussichtlich auch nicht ändern.

Macht der Staat zurzeit genug, um den Einzelhandel zu unterstützen, oder hilft er zu wenig dabei, die Folgen von Corona abzumildern?
Meiner Meinung nach tut er das Falsche. Wenn man sich überlegt, wie viele Milliarden jetzt aufgewendet werden, um den Status Quo zu erhalten oder dahin zurückzukehren, anstatt das Geld anderweitig einzusetzen. Unvorstellbar, was man mit diesen finanziellen Mitteln an Innovationen hätte auslösen können.

Dann sind Sie auch kein Fan der Mehrwertsteuersenkung?
Eine vollkommen überflüssige Maßnahme, die man sich hätte schenken können. Wenn überhaupt müssten wir generell über eine Unternehmenssteuerreform diskutieren. Aber das wird so schnell nicht passieren.

Wäre die viel diskutierte Sonntagsöffnung ein probates Mittel, um dem stationären Einzelhandel durch diese schweren Zeiten zu helfen?
Auf jeden Fall. Der Sonntag ist ein dankbarer Tag für die meisten von uns, weil wir da nicht arbeiten und endlich mal Zeit für Shopping hätten. Aus meiner Sicht gibt es keinen Grund, warum bei uns nicht grundsätzlich jeden Tag die Geschäfte geöffnet sein sollten.

Das Gespräch führte
Susanne Osadnik,
Chefredakteurin GCM

Marc Schumacher gilt als Experte für Marketingstrategie und Retail. Neben seiner Funktion als geschäftsführender Gesellschafter ist er Keynote-Speaker sowie Dozent an der HHL Leipzig Graduate School of Management. Schumacher startete seine Karriere in der Fashion-Industrie bei Hugo Boss und Breuninger. Mit 34 wurde er Chief Retail Officer und Member of the Board der Tom Tailor Group. Seit 2015 leitet er das Geschäft von Liganova.