Die Krise als Trendbeschleuniger – Restart für den lokalen Einzelhandel

Theresa Schleicher
Theresa Schleicher © dgap.org

Handel und Immobilien
Dranbleiben

Theresa Schleicher

Die Coronakrise hat den Handel hart getroffen, genauso wie alle Bereiche, die auf Begegnungen und Berührung setzen. Plötzlich tritt alles, was den stationären Handel auszeichnet, das besondere und gemeinsame Erlebnis, der Third Place- und Event-Charakter, in den Hintergrund. Im Grunde legt die Krise die größten »Pain Points« des Handels offen: Jeder stationäre Einzelhändler musste kreativ werden – und die Krise ließ die Grenzen zwischen offline und online endgültig verschmelzen

Unterschiedliche Vertriebswege, verschiedene Touchpoints und Kommunikationskanäle machen Unternehmen resilienter und adaptionsfähiger für überraschende Krisensituationen. Die Krise wirkt in zahlreichen Fällen als Trendbeschleuniger: Der E-Commerce wird befeuert, digitale Technologien dienen als Instrument, um mit Konsumentinnen und Konsumenten Kontakt aufzunehmen, bargeldlose und kontaktlose Bezahlverfahren setzen sich mehr und mehr durch, die Glokalisierung und Local Commerce erleben einen neuen Aufschwung.

In der Krise mussten viele lokale Einzelhandelsunternehmen schließen – manche werden ihre Türen danach gar nicht mehr aufsperren. Aber viele Einzelhändler und -händlerinnen legen in dieser Zeit auch eine immense Stärke und einen großen Mut an den Tag. In unzähligen Städten und Regionen erlebt man neue Zusammenschlüsse und lokalen Zusammenhalt zwischen Gewerbetreibenden und Bürgerinnen und Bürgern. Aus der Not heraus ist etwas entstanden, auf das wir lange Zeit warten mussten – und an das einige auch nicht mehr geglaubt haben: ein neues, starkes lokales Spielfeld. In dem Moment, in dem über Nacht mit dem Lockdown die klassischen Spielregeln des Einzelhandels außer Kraft gesetzt wurden, war Fantasie und alternatives Denken und Handeln gefragt. Wenn der Kunde nicht mehr in den Laden kommt, welche Wege findet der Handel zum Kunden? Die Karten werden neu gemischt und die Zeichen stehen gut, dass der lokale Handel nach Corona ein anderer sein wird als zuvor.

Die gesellschaftliche Vollbremsung hat viele Menschen dazu gebracht, gängige Systeme und das eigene Konsumverhalten zu hinterfragen. Werte jenseits von Gewinnmaximierung und Billigpreisen gewinnen an Bedeutung, und das in einer Zeit, in der Rabattierung ein wichtiges Mittel ist, um dem Verlust der vergangenen Monate entgegenzuwirken. Dabei dominiert allerdings eine andere Tonalität und Sprache: Nicht mehr der Preis steht im Fokus der Kommunikation, sondern eine emotionale Ansprache über geteilte Werte.

Nachhaltigkeit Näher, kleiner, achtsamer: Die Rückbesinnung auf den lokalen Handel steht im Einklang mit ökologischen Werten. Die auf Instagram gekaufte Ware kann zum Beispiel mit dem Rad geliefert werden. Wer zeigt, dass er mit seinem Geschäft Ressourcen spart und Nachhaltigkeit fördert, punktet zusätzlich.

Community Wo gehöre ich hin? Wie beeinflussen meine Kaufentscheidungen meine direkte Umgebung? Lokale Kreative, KünstlerInnen und HandwerkerInnen werden zu essenziellen TeilnehmerInnen in einem Mikrokosmos, der ein Gefühl von Zusammengehörigkeit schafft. Umgebung und persönliche Beratung prägen das Erlebnis.

Vielfalt Das Internet hat alles und von allem zu viel. Die Vielfalt des Local Commerce ist eine andere: selektiert, kuratiert, individuell, und eben genau deshalb reizvoll. Gerade in Großstädten bringt der Mix aus Trends, Ideen und Kulturen ein Angebot hervor, das so nicht überall zu finden ist.

Lokale Sinnstiftung Menschen wollen nicht nur kaufen: Sie wollen entdecken, lernen, erleben, helfen. Wer lokal shoppt, ob online oder stationär, hat oft nicht einfach nach einem Produkt gesucht oder gegoogelt, sondern sich gezielt für diesen Händler entschieden, um damit ein gutes Gefühl zu haben, sich mit der Region, der Community oder einem Netzwerk zu identifizieren.

Besonders für große Handelsketten sind diese Werte in Zukunft wichtig, denn reine Preisgestaltung und vielfältiges Angebot reichen bei Weitem nicht mehr aus, um einen Weg in die Herzen der konsumbewussten Menschen zu finden.

Wenn wir etwas durch die Krise gelernt haben, dann ist es, dass die Akteure im Handel durchaus mit den (technologischen) Entwicklungen und mit dem Denken in Partnerschaften und Ökosystemen umgehen können. Die Krise hat den Handel aus der Komfortzone geholt – weil es anders nicht ging. Und was besonders hängen geblieben ist: Mut und die vollkommene Veränderung von Strukturen, Produkten und Geschäftsmodellen ist letztendlich wesentlich einfacher, als es dem Handel immer vorkam. Nun gilt es, die Weichen für den Restart und die Neugestaltung richtig zu stellen.

Ein Gastbeitrag von
Theresa Schleicher,
Zukunftsinstitut


Theresa Schleicher gilt als eine der renommiertesten Beraterinnen im Bereich Zukunft des Einzelhandels in Deutschland. Für das Zukunftsinstitut bringt sie seit 2014 jährlich die Entwicklungen und Veränderungen in der Handelslandschaft in der DACH-Region in Form des Retail Reports heraus. Ihr Blick auf die Zukunft ist dabei immer das Konstrukt großer gesellschaftlicher Zusammenhänge, um damit auch marktunübliche Blickwinkel einzunehmen und dadurch neue Zukunftschancen zu ermöglichen. Als Geschäftsführerin der Strategieberatung VORN Strategy Consulting analysiert Theresa Schleicher die Kundenbedürfnisse der Zukunft und begleitet Handelsunternehmen in die Zukunft.Der Retail Report 2021 ist eine jährliche Veröffentlichung für Vertreterinnen und Vertreter der Handelsbranche: Er nennt und erklärt die wichtigsten Retail-Trends, bietet wertvolle Impulse für den Handel in Zeiten von Corona und zeigt die zentralen Strategien, die Wege aus der Krise weisen. In der 2021er-Ausgabe benennt Theresa Schleicher die prägendsten Trends der Branche und zeigt auf, welche Auswirkungen die Corona-Krise langfristig auf den Handel haben wird. Wie verändert sich das Konsumverhalten der Käuferinnen und Käufer, was geschieht mit den Innenstädten, welche neuen technischen Möglichkeiten werden jetzt und in Zukunft genutzt?