Die meisten von uns haben die Demokratie bislang als Selbstverständlichkeit angesehen

Wolfgang Schweiger
Wolfgang Schweiger

Interview
Strategie

Susanne Osadnik

Der Kommunikationswissenschaftler Wolfgang Schweiger über die manipulative Kraft von Internetblasen, das tiefe Misstrauen einzelner Gruppierungen gegenüber Staat, Medien und Wissenschaft und warum es fatal ist, dass vor allem junge Menschen nicht mehr zwischen Nachricht und Meinung differenzieren (können)

Herr Professor. Dr. Schweiger, wenn eine 22-Jährige marktschreierisch auf einer Bühne steht und verkündet, sie fühle sich wie die Widerstandskämpferin Sophie Scholl gegen den Nationalsozialismus, nur weil sie Flugblätter verteilt und Demos mitorganisiert. Was stimmt mit unserem demokratischen Grundverständnis nicht mehr?
Auch wenn es verständlich ist, dass sich viele Menschen über den historisch unglücklichen Vergleich aufregen, sollten wir in diesem Fall ein bisschen mehr Toleranz walten lassen. Wer kann von sich behaupten, im Alter von 22 Jahren nicht auch mal Unsinn von sich gegeben zu haben? Der Kern dieses Vorfalls ist aus meiner Sicht ein anderer: Dass eine einzelne Person so schnell so massiv diskreditiert wird, zeigt vielmehr, wie sehr sich unsere Diskussionskultur verändert. Man hört sich gegenseitig gar nicht mehr zu, sondern versucht nur noch, möglichst ein Fehlverhalten oder eine verbale Entgleisung beim jeweiligen Gegner zu finden, um dann auf ihm herumhacken zu können.

Worauf führen Sie diese Entwicklung der faktischen Nicht-Kommunikation zurück?
Wir befinden uns mit der Corona-Pandemie in einer gesellschaftlichen Krisensituation, die für viele Menschen etwas Bedrohliches, mindestens aber etwas nicht Kalkulierbares hat. Im Moment läuft vieles nicht so, wie wir es gewohnt sind. Das schafft Ängste, die sich irgendwo Bahn brechen müssen. Und jetzt sehen wir, wie die Entwicklung des Internets in den vergangenen 20 Jahren mit dazu beigetragen hat, dass sich überall Nischen gebildet haben, die sehr unterschiedliche Weltbilder bedienen und verstärken, die zum Teil zwar wenig mit der Realität zu tun haben, aber ihre Wirkung entfalten, wenn es darum geht, Angst und Vorurteile zu schüren. Wer sich jeden Tag in einer dieser Filterblasen bewegt und ständig mit falschen Informationen und teilweise haarsträubenden Schlussfolgerungen gefüttert wird, glaubt am Ende, das sei die Realität.

Vor zehn Jahren wurde der Begriff »Wutbürger« in den Duden aufgenommen. Heutzutage haben wir es mit sogenannten Querdenkern, QAnons, Impfgegnern, hysterischen Fakten-Leugnern und stumpfen Rechtsradikalen zu tun. Wie viel »Wutbürger« steckt da noch drin?
Über Wutbürger sprach man vor zehn Jahren zunächst im Zusammenhang mit dem Protest gegen das Projekt Stuttgart 21. Im Laufe der Jahre ist der Begriff auf immer weitere Gruppierungen ausgeweitet worden, zuletzt auf Pegida-Anhänger und AfD-Sympathisanten. Jetzt geht es um die Corona-Maßnahmen des Bundes und der Länder. Zurzeit kommen auf den Demonstrationen sehr viele unterschiedliche Gruppierungen zusammen – vermutlich mehr als bei den vorherigen Bewegungen. Aber eines eint sie alle: das tiefe Misstrauen in den Staat, in die Medien und die Wissenschaft. Allesamt werden diese Institutionen für die aktuelle Misere mitverantwortlich gemacht.

Warum fällt es einigen Menschen plötzlich so schwer, Tatsachen zu akzeptieren?
Das ist ein schon länger andauernder Prozess: Manche Menschen trauen den klassischen Medien nicht, weil diese versuchen, nicht einseitig zu berichten, sondern ein Problem möglichst von mehreren Seiten zu betrachten – und sich dabei auf Tatsachen stützen, um bestimmte Positionen zu untermauern oder auch zu entkräften. Das macht eigentlich Qualitätsjournalismus aus. Eine ausgewogene Darstellung der Realität ist aber für Menschen, die sich in extremen Fakten- und Meinungsblasen im Netz bewegen, geradezu eine Zumutung. Sie wollen in ihren Sichtweisen der Dinge nicht in Frage gestellt werden. Da man ja innerhalb seiner Community im Internet immer wieder die Bestätigung erhält, dass man selbst das Richtige denkt, empfindet man es als zunehmend störend, wenn von außen an diesen Grundfesten gerüttelt wird. Tatsachen müssen zum Weltbild passen oder geraten in den Hintergrund. Und Wissenschaftler nerven nur, weil sie Bedenkenträger sind und einem das Leben zurzeit besonders schwer machen – zumal, wenn die Politik auf sie hört.

Welche Rolle spielt Bildung in diesem Zusammenhang?
Das Ganze hängt schon bis zu einem gewissen Grad mit dem Bildungsniveau jedes Einzelnen zusammen. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass sich auch formal Hochgebildete intensiv im Internet informieren und dabei ebenso Fehlinformationen aufsitzen. Denn das Internet liefert zwar schnelle, aber oft fragwürdige Antworten auf Fragen. Die Quellenlage ist vollkommen unübersichtlich. Wer beispielsweise etwas über seinen Gesundheitszustand wissen will und nach Erklärungen zu Symptomen sucht, stößt auf unzählige Quellen, die prompte Antworten liefern, aber häufig das Drastische und Lebensbedrohliche beschreiben. Da die meisten von uns keine medizinischen Kenntnisse besitzen und wir uns auch nicht durch komplexe wissenschaftliche Darstellungen zu medizinischen Themen arbeiten wollen, bevorzugen wir einfach zu verstehende Angebote, die aber häufig eher Panik schüren als Klarheit schaffen.

In Vor-Internet-Zeiten hatte die Bild-Zeitung das Monopol auf starke Verkürzung von Sachfragen, auf Skandale, die erst durch die Bild-Zeitung welche wurden und vorher keine waren. Und meine Generation erinnert sich noch lebhaft an das Bonmot aus Studentenkreisen: Beim Flugzeugabsturz kamen alle Passagiere ums Leben – Bild sprach als erste mit den Opfern! Sind die Halbwahrheiten und gebetsmühlenartig wiederholten Falschmeldungen im Internet nur die Fortsetzung einer Informationsquelle, die gern Vorurteile bedient, aber schon früher da war?
Alles ist irgendwie schon mal da gewesen. Der Unterschied zur Vor-Internet-Zeit ist aber ein entscheidender: Die Informationen, die wir im Netz finden, sehen wir häufig auf algorithmisch personalisierten Kanälen wie Social-Media-Plattformen. Facebook, YouTube, Instagram oder Twitter zeigen bevorzugt Inhalte an, die persönliche Interessen bedienen und Emotionen wecken. Deshalb werden reißerische Meldungen häufiger angezeigt und geklickt als seriöse – und in den Augen vieler Nutzer – langweilige Fakten. Das fördert auch die Verbreitung von Fake News. Das funktioniert so ähnlich auch bei Suchmaschinen. Je mehr Klicks der Urheber einer Information in der Google-Trefferliste erhält, desto höher rutscht er im Ranking der Suchmaschine nach oben und desto eher wird dieser vom Leser wahrgenommen – unabhängig vom Wahrheitsgehalt einer Behauptung. Die Verbreitung von Nachrichten und Meinungen in algorithmisch personalisierten Kanälen trägt in enormem Maße zur Polarisierung von Gesellschaften bei, wie wir auch in den USA sehen.

Welchen Anteil hat ein twitternder Noch-Präsident Donald Trump auch hierzulande daran, Fakten sofort als Fake News abzutun und Medien als Lügenpresse zu bezeichnen?
Trump hat das Leugnen von Tatsachen und das Verbreiten von Lügen so weit perfektioniert, dass es fast zu einer eigenen Kunstform erhoben werden kann. Es ist erstaunlich, mit welcher Geschwindigkeit er es geschafft hat, dass ihm Millionen Menschen schlicht alles glauben, was er sagt – ohne jemals in Frage zu stellen, ob er irgendetwas von seinen Behauptungen auch beweisen kann. Dass fast die Hälfte der Wähler in den USA hinter ihm steht, ist eine beunruhigende Entwicklung. Denn das heißt: Große Teile der Bevölkerung befürworten die Demontage des demokratischen Systems. In Deutschland sehen wir zwar auch die Polarisierung eines Teils der Bevölkerung – der aber im Vergleich mit den USA mit rund zehn Prozent gering ist. Hierzulande strebt nur eine kleine Minderheit einen politischen Umsturz an, die sich irgendwo zwischen Reichsbürgern, Neonazis, AfD-Wählern, Pegida-Anhängern und Teilen der Querdenker-Szene ansiedeln lässt. Die Mehrheit in unserem Land steht nach wie vor zum demokratischen Rechtsstaat, zur Verfassung und zur Gewaltenteilung.  

Rund zehn Prozent hört sich erst einmal nicht viel an. Hätten Sie gedacht, dass wir uns überhaupt noch einmal ernsthaft über demokratische Grundsätze in Deutschland unterhalten müssen?
Ich hätte auch nicht angenommen, dass wir allen Ernstes über Antisemitismus in Deutschland reden müssen. Die meisten von uns haben die Demokratie als Selbstverständlichkeit angesehen. Wir waren uns sicher, dass sich daran nie mehr etwas ändern wird. Jetzt bekommen wir – auch mit Blick auf europäische Nachbarn wie Polen und Ungarn – eine Vorstellung davon, wie es sein kann, wenn man sich nicht für den Erhalt der Demokratie einsetzt. Vielleicht ist das aber auch das Signal an die Mehrheit der Bevölkerung, sich stärker zu engagieren und um die Demokratie zu kämpfen.  

Wie wichtig sind die klassischen Medien dabei noch als sogenannte Vierte Gewalt?
Die Massenmedien spielen immer noch eine wichtige Rolle, wie zahlreiche Untersuchungen zeigen. Wir wissen, dass sich die Mehrheit der Bürger immer noch über die klassischen Medien informiert. Allerdings fällt es uns allen schwer, die Qualität und den Wahrheitsgehalt einzelner Nachrichten zu beurteilen. Deshalb vertrauen wir auf Medienmarken: Einer Meldung aus dem Spiegel vertrauen die meisten mehr als einer Bild-Schlagzeile. Das ist schon immer so gewesen und hat sich auch durch das Internet nicht geändert. Wenn man aber im Internet häufig auf Inhalte stößt, deren Quellen man nicht kennt, fehlt dieses Wissen um die Vertrauenswürdigkeit von Medienmarken. Was mich außerdem beunruhigt, ist die mangelnde Journalismus-Kompetenz junger Menschen. Oft kennen sie die klassische Unterscheidung zwischen Nachricht und Meinung nicht, und auch die Vermischung von redaktionellen Inhalten und Werbung stört sie nicht. Manche meiner Studierenden sagen mir, dass ihnen die flapsige Darstellung von Themen durch Influencer lieber ist als die journalistische Berichterstattung in Zeitung, Radio, Fernsehen oder auf Nachrichtenportalen.

Influencer sind die Leute, die sich von Unternehmen bezahlen lassen, um deren Produkte zu bewerben oder auch nur Einnahmen vom Internetkonzern  Google kassieren, der kurze Werbefilme vor dem eigentlichen Video laufen lässt …  
Auch das interessiert die meisten Nutzer nicht. Sie halten Influencer dennoch für unabhängige Informanten, die sagen können, was sie wollen und vor allem für Leute, die nicht so langweilig berichten wie die klassischen Medien.

Die Tagesschau auf jugendlich lässig zu trimmen, dürfte schwierig werden und würde vermutlich zu Proteststürmen der klassischen Zuschauer führen. Neue Zuschauergruppen würde man damit ohnehin nicht erschließen. Befürchten Sie, dass Medienformate wie Nachrichtensendungen – ob online oder offline – in zehn Jahren gar nicht mehr existieren könnten?
Wir werden sicher weitere Marktbereinigungen im Pressebereich sehen. Etliche der jetzt noch vorhandenen regionalen Tageszeitungen werden sich entweder zusammentun müssen, um zu überleben, oder sie gehen unter. Die öffentlich-rechtlichen Sender und ihre Formate wird es auch weiterhin geben – wenn sich auch die ein oder andere Sendung verändern und an die Zuschauer-Klientel angepasst wird. Und natürlich werden auch neue, junge Sendeformate ausprobiert werden. Was das Netz angeht, hoffe ich auf einen Wandel in der Zahlungsbereitschaft. Bislang hat es fast alles im Netz kostenlos gegeben. Bezahlt werden zurzeit hauptsächlich attraktive Unterhaltungsangebote. Dabei wird es hoffentlich nicht bleiben. Bereits heute haben größere Nachrichtenportale guten Erfolg mit preiswerten Online-Abos, mit denen man alle Beiträge, auch die hinter der Bezahlschranke lesen oder anschauen kann. Ich hoffe sehr, dass diese Entwicklung so weitergeht, denn guter Journalismus ist aufwändig und teuer und als Kostenlos-Angebot auf Dauer nicht zu haben.

Das Interview führte
Susanne Osadnik,
Chefredaktion GCG

Prof. Dr. Wolfgang Schweiger. Er ist seit Oktober 2013 Leiter des Fachgebiets »Kommunikationswissenschaft, insbesondere interaktive Medien- und Onlinekommunikation« an der Universität Hohenheim.