Die neue Geldtheorie

Christine Lagarde
Christine Lagarde, Präsidentin, Europäische Zentralbank: »Dauerhafte konjunkturelle Stützungen« © 2020 European Central Bank www.ecb.europa.eu

Strategie

Richard Haimann

Mit milliardenschweren Rettungspaketen stützen Regierungen in der Corona-Krise die Wirtschaft. Möglich ist das durch massive Anleihekäufe der Zentralbanken. Dabei geht es nicht nur darum, Unternehmen und Arbeitsplätze zu retten. Die Maßnahmen sollen auch den neuerlichen Kollaps von Banken wie in der Finanzkrise von 2008 verhindern. Denn die Rettung der Kreditinstitute würde die Staaten teurer kommen als die jetzt laufenden Hilfsmaßnahmen. Hinter den Aktionen stehen auch neue Überlegungen führender Ökonomen: die Modern Monetary Theorie

Die Zusagen sind unmissverständlich: »Dauerhafte konjunkturelle Stützungen« würden gewährleistet, verspricht Christine Lagarde. Noch konkreter wird Jerome Powell: »Der Leitzins wird bis 2023 nicht angehoben, selbst wenn die Inflationsrate auf mehr als zwei Prozent ansteigen sollte.« Die Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB) und der Chef der Federal Reserve Bank in den USA haben gerade klargestellt, dass die Notenbanken der wichtigsten Währungsräume der Welt ihren Regierungen mit geballter Macht zur Seite stehen werden, damit die Unternehmen erfolgreich durch die Corona-Krise getragen werden können.

Seit dem Frühjahr haben Staaten rund um den Globus milliardenschwere Stützungsmaßnahmen eingeleitet, um die Wirtschaft ihrer Länder gegen die Pandemie zu wappnen. Allein die Bundesregierung stellte nach dem ersten Lockdown im März 353,3 Milliarden Euro für Direkthilfen und weitere 819,7 Milliarden Euro für Garantien parat. »Es ist das größte Hilfspaket in der Geschichte Deutschlands«, verkündete Bundesfinanzminister Olaf Scholz im Frühjahr. Mit dieser Strategie werde verhindert, dass lebensfähige Unternehmen durch den vorübergehenden externen Schock der Pandemie um ihre Existenz gebracht werden und Millionen Beschäftigte ihre Arbeitsplätze verlieren.

Hinter den Hilfsmaßnahmen steckt noch ein weiteres Ziel: Unternehmen sollen ihre Kredite weiter bedienen können, um zu verhindern, dass der Corona-Ausbruch in einer neuerlichen Bankenkrise mündet. Würden die Geldinstitute kollabieren, weil sie Milliardenbeträge ausgereichter Darlehen nicht zurückerhalten, würde das die globale Wirtschaft zurückwerfen in jene dunklen Tage der Finanzkrise von 2008. Damals waren Regierungen rund um den Globus gezwungen, Billionen von Euro, US-Dollar, Pfund und Yen für die Rettung der Banken aufzubringen – und konnten dabei nicht verhindern, dass dennoch weltweit Millionen Menschen ihre Arbeit verloren.

Mehrzahl der Kreditnehmer kommt gut durch die Krise

Bislang geht die Strategie auf. »Die Kurzarbeiterregelung und weitere Stützungsmaßnahmen der Bundesregierung haben die überwiegende Mehrheit der Kreditnehmer sehr gut durch die Krise getragen«, sagt Stefan Mitropoulos, Analyst der Landesbank Hessen-Thüringen. Vor allem bei den Immobilienkrediten, einer der maßgeblichen Schwerpunkte im Finanzierungsgeschäft der deutschen Banken, gibt es keine außergewöhnlichen Ausfälle bei Zins oder Tilgung. »Gemäß der uns vorliegenden bankaufsichtlichen Daten ist in den ersten drei Quartalen des Jahres 2020 kein relevanter Anstieg notleidender Kredite für mit Wohnimmobilien besicherte Darlehen an private Haushalte im deutschen Bankensektor zu verzeichnen«, sagt Dorit Feldbrügge, Sprecherin der Bundesbank.

Das liegt auch daran, dass die Bundesregierung – wie andere Staaten auch – zum einen die Insolvenzbestimmungen gelockert hat: Unternehmen, die durch die Krise in vorübergehenden Zahlungsschwierigkeiten stecken, mussten zunächst bis zum 30. September keine Insolvenz anmelden, wenn sie Verbindlichkeiten nicht mehr bedienen konnten. Inzwischen wurde die Ausnahmeregelung bis zum 31. Dezember dieses Jahres verlängert. Eine weitere zeitliche Ausdehnung ist bereits im Gespräch.  Zum anderen wurde privaten Immobilienkreditnehmern im Frühjahr ein Schuldenmoratorium gewährt. Wer wegen Kurzarbeit oder vorübergehender Einkommensausfälle sein Hypothekendarlehen nicht mehr bedienen konnte, durfte für drei Monate Zins und Tilgung aussetzen. Es ist eine Offerte, die wegen der großzügigen Kurzarbeiterregelung nur wenige Immobilienbesitzer hierzulande annehmen mussten. Nach einer Studie der europäischen Bankenaufsichtsbehörde EBA haben in Deutschland lediglich 2 Prozent der mit Krediten belasteten Grundeigentümer das Schuldenmoratorium genutzt. In Frankreich sah sich der Studie zufolge hingegen fast jeder zweite Hypothekenkreditnehmer gezwungen, vom dortigen Moratorium Gebrauch zu machen. In Spanien waren es rund 36 Prozent der Grundeigentümer mit laufenden Finanzierungen, in Italien 31 Prozent.

Weltweite Stützungsprogramme

Anders als in Europa wurde in den USA zwar kein umfassender, landesweiter Lockdown verhängt. Dennoch sind jenseits des Atlantiks Unternehmen ähnlich schwer angeschlagen durch die Pandemie wie diesseits des großen Teichs. Um sich vor einer Infektion mit dem SARS-CoV-2-Virus zu schützen, halten sich viele US-Konsumenten von Geschäften fern, tätigen ihre Einkäufe stattdessen über das Internet. Die Federal Reserve Bank hat bei ihrer jüngsten Sitzung deshalb weitere Interventionen am Kapitalmarkt vorbereitet, um die Wirtschaft noch stärker zu stützen. Diskutiert wurde dabei auch, das Anleihekaufprogramm von derzeit 120 Milliarden US-Dollar pro Monat weiter aufzustocken. »Die Fed hat klar signalisiert: Da kommt noch mehr!«, sagt Folker Hellmeyer, Chefvolkswirt der Bremer Anlagegesellschaft Solvecon Invest.

Seit Beginn des Lockdown Light im November ist in Deutschland das Volumen staatlicher Stützungsleistungen nochmals gestiegen. Allein die Novemberhilfen für Gastronomie, Hotellerie und andere von neuerlichen Beschränkungen betroffene Firmen belaufen sich auf zehn Milliarden Euro. Weitere 17 Milliarden Euro kommen in diesem Dezember hinzu. Zusätzliche drei Milliarden Euro hat Berlin am 18. November locker gemacht, um die Automobilindustrie zu stützen – unter anderem mit erhöhten Kaufanreizen für neue Elektromobile.

Die EZB als Retter der Wirtschaft

Andere EU-Staaten gehen ebenfalls in die Vollen, auch wenn ihre Hilfsmaßnahmen nicht an das Volumen Deutschlands heranreichen. Spanien hat Stützungsprogramme über mehr als 200 Milliarden Euro aufgelegt, Italien über mehr als 100 Milliarden Euro. Darüber hinaus haben die Regierungschefs der EU-Staaten ein 1.800 Milliarden Euro schweres Aufbaupaket beschlossen. 750 Milliarden Euro davon soll die EU-Kommission über Anleihen an den Kapitalmärkten aufnehmen – ein Novum in der Geschichte der Exekutive der Staatengemeinschaft.

Bewährte Strategie: In Krisen massiv investieren  

Die Strategie dahinter: Die EZB soll zum Retter der Wirtschaft in der außergewöhnlichen Notlage werden. Denn sie stellt letztendlich die Billionenbeträge, mit denen die Regierungen der Mitgliedsländer ihre Unternehmen durch die Krise tragen. Banken und Investmentfonds nehmen die Anleihen der Staaten und der EU-Kommission auf und können sie jederzeit an die Zentralbank weiterreichen, ohne dabei Kapital zu verlieren. Ebenso verfahren die Fed in den USA und zahlreiche weitere Notenbanken – von Großbritannien bis nach Japan.

Anhänger einer restriktiven Geldpolitik der Währungshüter sehen in dieser Konstruktion einen versteckten Verstoß gegen das Verbot der Staatsfinanzierung durch die Zentralbanken. Befürworter der Interventionen hingegen erkennen in dieser Strategie eine zeitgemäße Weiterentwicklung der Geldpolitik, seit US-Präsident Richard Nixon am 15. August 1971 den Goldstandard aufgehoben hat. Bis dahin waren Staaten und Notenbanken bei Interventionen zur Stützung der Wirtschaft limitiert durch den von ihnen aufgehäuften Bestand des Edelmetalls. Länder, die über viel Gold verfügten, konnten ihren Unternehmen in Krisenzeiten kräftiger unter die Arme greifen als Nationen, die nur über geringe Mengen des glänzenden Bodenschatzes verfügten. Die gedankliche Überbauung bildet dabei die Modern Monetary Theorie – die moderne Geld-Theorie. Das Ziel: tiefen Rezessionen und Massenarbeitslosigkeit ein für alle Mal ein Ende zu setzen.

Kurzfristig verschulden, langfristig vom Aufschwung profitieren

Entwickelt wurde die Moderne Geld-Theorie von angelsächsischen Ökonomen auf Basis der Überlegungen des 1946 verstorbenen britischen Wirtschaftswissenschaftlers John Maynard Keynes. Der Namensgeber des Keynesianismus legte in seinen Forschungen dar, dass Staaten am schnellsten Wirtschaftskrisen abschütteln, wenn deren Regierungen in Rezessionen massiv investieren, um Arbeitsplätze zu schaffen. Beispielhaft dafür steht der »New Deal«, ein milliardenschweres Infrastruktur-Aufbauprogramm, aufgelegt von US-Präsident Franklin Delano Roosevelt im Jahr 1933, um die Vereinigten Staaten erfolgreich aus der Großen Depression zu führen. Es war ein Rettungspaket, das viele andere Nationen nicht auflegen konnten, weil ihnen durch den damals geltenden Goldstandard die Hände gebunden waren.

Geschaffen wurde die Modern Monetary Theorie von 1997 an von den US-Ökonomen Pavlina Tcherneva, Warren Mosler, Larry Randall Wray sowie dem australischen Makroökonomen William Francis Mitchell. Der Kerngedanke basiert auf dem von Mosler formulierten Theorem: »Keine finanzielle Krise ist so gewaltig, dass sie nicht durch eine ausreichend große Anpassung des Staatshaushaltes bewältigt werden könnte.« Weil die Geldmenge nicht mehr durch den Goldstandard begrenzt ist, könnten Regierungen sich kurzfristig unbegrenzt verschulden, solange die Notenbanken sie durch indirekte Anleiheaufkäufe dabei finanzieren. Ist die Krise behoben, könnten die Schulden durch die vom stärkeren Wirtschaftswachstum generierten Steuereinnahmen wieder zurückgefahren werden.

Die Modern Monetary Theorie ist nicht unumstritten – nicht einmal unter den führenden beiden US-Ökonomen. Paul Krugman, Träger des Alfred-Nobel-Gedächtnispreises für Wirtschaftswissenschaften, warnt, ufere die Staatsverschuldung, getragen von den Notenbanken, zu sehr aus, könnte dies »zu einer massiven Verringerung der Akzeptanz der Währung führen und diese letztendlich sogar zerstören«. Hingegen befürwortet James Kenneth Galbraith die Moderne Geld-Theorie: Wäre sie bereits in der Finanzkrise von 2008 umgesetzt worden, wäre die globale Rezession damals deutlich kürzer und die Zahl der verlorenen Arbeitsplätze weit geringer gewesen.

Japans Wirtschaft kränkelt seit fast 30 Jahren

Dass die Theorie in der Praxis funktioniert, zeigt ein Blick nach Japan. 1991 platzen im Fernost-Staat gewaltige Spekulationsblasen an den Aktien- und Immobilienmärkten. Sie stürzen das Land in eine schwere Finanzkrise, deren Nachwehen bis heute anhalten. Um die Wirtschaft zu stabilisieren und Arbeitsplätze zu erhalten, legt die Regierung in den vergangenen 29 Jahren immer neue Konjunkturpakete auf. Die Staatsverschuldung steigt dadurch auf scheinbar atemberaubende 238 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – mehr als in jedem anderen Industriestaat. Zum Vergleich: In Griechenland beträgt die Staatsverschuldung knapp 180 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung, in Italien 149 Prozent.

Dennoch ist Japan weiterhin solvent. Denn die Notenbank hält den Leitzins seit mehr als zwei Dekaden um die Marke von Null Prozent und nimmt einen erheblichen Teil der Staatsanleihen auf. Den Rest der staatlichen Schuldverschreibungen tragen japanische Banken und Pensionskassen. Dem Ansehen der japanischen Währung hat dies nicht geschadet. Im Gegenteil: Gegenüber dem US-Dollar hat der Yen in den vergangenen fünf Jahren 17,5 Prozent gewonnen und gegenüber dem Euro 4,75 Prozent.

Ein Beitrag von
Richard Haimann,
freier Journalist