Die Rolle des Retails

Einzelhandel
Der Einzelhandel belebt die Innenstädte. © Franz Pfluegl – stock.adobe.com

Handel und Immobilien
Passion

Dr. Andreas Mattner

Ob Shopping Center, innerstädtische Handelsfläche oder Fachmarktzentrum – Handelsimmobilien ziehen jährlich Millionen von Menschen an. Dem Einzelhandel kommt dabei eine wichtige Versorgungs- und Stadtprägungsfunktion zu. 2022 gaben private Haushalte in Deutschland allein im Foodsegment der „Fast Moving Consumer Goods“ – also für Nahrungsmittel, Getränke und Tabakwaren – insgesamt rund 276,05 Milliarden Euro aus. Dies entspricht einem Anteil von 14,7 Prozent an den gesamten Konsumausgaben. Der Einzelhandel ist zudem ein wichtiger Arbeitgeber: Im Juni 2022 haben rund 3,08 Millionen Beschäftigte in dieser Branche gearbeitet. Etwa 2,5 Millionen von ihnen waren sozialversicherungspflichtig beschäftigt.

Eine gute Auswahl und Anzahl an Geschäften, die zudem noch schnell erreichbar sind, erhöht die Lebensqualität. Shopping und Flanieren sind beliebte Freizeitbeschäftigungen – und das trotz Online-Konkurrenz und Nachwirkungen der Corona-Pandemie. Laut „Deutschlandstudie Innenstadt 2022“ der CIMA Management + Beratung GmbH möchten 85 Prozent der in der Erhebung Befragten, dass Innenstädte auch künftig viele Einkaufsmöglichkeiten bieten und als Einkaufsort erhalten bleiben. Retail steht also weiterhin bei der Bewertung der Attraktivitätsfaktoren einer Innenstadt mit großem Abstand an der Spitze.

Rückgrat der Städte und Gemeinden

Das ist schützenswert – auch aus Perspektive der Stadtentwicklung. Der Einzelhandel ist mindestens seit dem späten 18. Jahrhundert Rückgrat der Städte und Gemeinden. Marktplätze dienten und dienen als Begegnungsstätten, wo Menschen nicht nur Handel trieben und einkauften, sondern sich auch zu politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Themen austauschten. Der ZIA setzt sich seit seiner Gründung dafür ein, dass Vermieter und Nutzer von Einzelhandelsflächen die richtigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen vorfinden, um erfolgreich ihr Geschäft betreiben zu können. Davon profitieren auch Städte und Gemeinden. Und der ZIA konnte viel bewegen – sowohl im politischen Kontext als auch im Zusammenspiel mit anderen Interessenvertretern.

Gemeinsam Zeichen setzen

Beispielhaft für die Gebäudeklasse Handelsimmobilien wäre hier der „Verhaltenskodex des Handels und der Immobilienwirtschaft“ zu nennen, bei dem auch der HDE und der ZIA während der Corona-Pandemie eine Handlungsempfehlung rund um eine angemessene und außergerichtliche Risikoverteilung bei Mietverträgen für ihre Mitglieder entwickelt hat. Bereits vor vielen Jahren habe ich in einer Mitgliederversammlung des German Council in einer Ansprache ein gutes Verhältnis von Mieter und Vermieter als Erfolgsfaktor beschrieben. Wir sitzen alle im gleichen Boot. Auch mit der Ende 2022 gemeinsam mit dem German Council of Shopping Places herausgegebenen Publikation, die vom Handel bereits ergriffene und künftig geplante Energiesparmaßnahmen aufgelistet hat, setzte der ZIA zusammen mit dem GCSP Zeichen. Gerade in einer Zeit, in der die Politik schon wieder laut über Einschränkungen im Einzelhandel nachgedacht hat, ein nicht zu unterschätzendes Signal – welches auch von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck positiv aufgenommen wurde.

Lücken sinnvoll füllen

Der Einzelhandel muss sich aber insgesamt auf ein verändertes Konsumverhalten einstellen. Die Marktanteile des Online-Handels nehmen zu – auch wenn die Entwicklung mit dem Abebben der Corona-Pandemie wieder verlangsamt wurde. Die in den zurückliegenden Jahren schwierigen Rahmenbedingungen haben zu Filialschließungen, Geschäftsaufgaben und spürbar hohen Leerstandsquoten in den Innenstädten geführt. Es braucht interdisziplinäre Ansätze, um den Strukturwandel in den Innenstädten zu vollziehen. Die Zeit der großen Warenhäuser ist vorbei, und die entstandenen Lücken müssen sinnvoll gefüllt werden. Dass dies nicht ausschließlich durch Einzelhandelsansiedlungen aufgefangen werden kann, ist allen Akteurinnen und Akteuren völlig klar. Mixed-Use-Immobilien – also Immobilien, die verschiedenartig genutzt werden – bestehend aus Handel, Wohnen, Büro, Gastronomie, Handwerk und Entertainment, sind Bestandteil einer modernen Stadtentwicklung. Dafür bedarf es neuer Akteure, kreativer Ansätze und eines investitionsfreundlichen Klimas, damit künftig auch verstärkt wieder kommunalen Verwaltungen, Bildungseinrichtungen sowie sozialen und kulturellen Institutionen eine Nutzung ermöglicht werden kann.

Kritische Aufarbeitung nötig

Aktuell befindet sich der stationäre Einzelhandel in einer Konsolidierungsphase. Umsätze und Frequenzen erholen sich im Vergleich zu den Corona-Jahren 2020 bis 2022 – vom Niveau der Zeit vor der Pandemie ist man jedoch noch ein gutes Stück entfernt. Umso wichtiger ist es daher, dass eine kritische Aufarbeitung dieser Episode erfolgt, in der enorme volkswirtschaftliche Werte vernichtet und viele Handelsbetriebe in die Insolvenz getrieben wurden. Bis heute gibt es keine Analyse, die die in Deutschland ergriffenen Maßnahmen auf Notwendigkeit, Verhältnismäßigkeit und Wirkung – auch im europäischen Vergleich – überprüft hat. Damit Gesellschaft und Wirtschaft für den nächsten Krisenfall gerüstet sind, fordert der ZIA die Aufarbeitung der Pandemie und eine Bewertung der Lockdown-Maßnahmen.

Wandel birgt zahlreiche Chancen

Bei allen Schwierigkeiten, die im Rahmen der Konsolidierung und Neuausrichtung von Handelsstandorten entstehen, birgt der angestoßene Wandel auch zahlreiche Chancen. Viele Händler haben ihren E-Commerce-Anteil ausgebaut und ihre Omnichannel-Strategie somit perfektioniert. Umgekehrt gehen Online-Pure-Player in den stationären Handel, um ihre Absatzmöglichkeiten zu erweitern und die Sichtbarkeit auch außerhalb des Internets zu erhöhen. Die Harmonisierung verschiedenster Kanäle gelingt immer besser, und Kunden profitieren letztendlich von einem ganzheitlichen Shopping-Erlebnis. Nicht zuletzt auch durch die in Corona-Zeiten etablierten Click-and-Collect-Services sind die Grenzen von Online- und stationärer Welt längst fließend. In individuellen Services liegt großes Potenzial, Kunden von den Vorzügen im Geschäft zu überzeugen – sei es durch die Möglichkeit, bestellte Modeartikel vor Ort gleich anzuprobieren und nicht aufwendig zurückschicken zu müssen, oder durch Angebote wie Personal Shopping. Seit Jahren stellen sich kluge Händler auf Multichannel um – gemeinsam mit Verbänden und Politik müssen wir die kleinen Händler dabei unterstützen. Deshalb muss eine Forderung lauten: Wir brauchen ein „Kompetenzzentrum für Omnichannel“.

Mut zum Experimentieren

Retailflächen werden mancherorts in Shopping Centern oder in der Highstreet zugunsten anderer urbaner, nachgefragter Nutzungen verkleinert. Dadurch entstehen innovative Gastro- und Entertainment-Konzepte, die auch Touristen anlocken. Darüber hinaus zieht es Auto-Showrooms, Möbelhändler, Markenshops oder auch Outlets in die Innenstädte. Dieser Trend und auch dieser Mut zum Experimentieren werden sich in den nächsten Jahren weiter fortsetzen. Dass ein Abgesang auf den Handel verfrüht ist, zeigt auch das im ersten Quartal 2023 erreichte Transaktionsvolumen von 1,3 Milliarden Euro im deutschen Einzelhandelsimmobilieninvestmentmarkt. Einzelhandels­immobilien waren damit die nach Wohnobjekten am zweitstärksten gehandelte Gebäudeklasse. Zudem hat das diesjährige Frühjahrsgutachten des ZIA aufgezeigt, dass etwa jedes zweite Unternehmen – 51 Prozent laut EHI-Retail-Institute-Befragung 2022 – das Filialnetz ausbauen will, obwohl Händlerinnen und Händlern das hohe Niveau von Bau-, Modernisierungs- und Nebenkosten bei der Expansion zu schaffen macht.

Dr. Andreas Mattner
Präsident des Zentralen Immobilien Ausschusses (ZIA)