Die Zukunft kommt nicht, sondern wird gestaltet. Und zwar von uns selbst!

Max Thinius
Max Thinius

Interview
Handel

Susanne Osadnik

Max Thinius, Futurologe und Zukunftsgestalter, über Innovations­willen in Bad Berleburg, maßgefertigte »Billy«-Regale vom Tischler um die Ecke und die Renaissance des Handels in den Stadtteilen

Herr Thinius, wo leben Sie zurzeit – in der Stadt oder auf dem Land?
Max Thinius: Zurzeit sowohl in Berlin als auch in Kopenhagen und manchmal auch auf der Insel Fünen, das wäre dann der Landanteil.

Sie sagten vor mehr als zwei Jahren in einem Interview, Sie wollten aufs Land ziehen. Nach einem Vierteljahrhundert in der Großstadt würde es Zeit dafür werden. Was hat Sie aufgehalten?
Verschiedenes. Aber auch Corona hat es komplizierter gemacht, diesen Plan umzusetzen. Schon ein Besichtigungstermin war ja mühselig. Und ein großer Umzug in Pandemie-Zeiten erschien auch nicht gerade erstrebenswert. Auch deshalb sind meine Frau und ich noch in der Abwartehaltung.

Zurzeit wird darüber gestritten, ob der Rückzug aufs Land nur ein Corona-Phänomen ist oder die konsequente Abkehr von der Großstadt. In NRW sieht man beispielsweise seit 2017 verstärkten Wegzug aus den Großstädten in die Kleinstädte. Wird das so weitergehen?
Ganz klar: Ja. Das wird auf jeden Fall so weitergehen. Wir werden in den kommenden Jahren sehen, dass immer mehr Menschen in kleinere und mittlere Städte ziehen.

Was ist so reizvoll daran?
Zum einen ist Wohnraum in den Metropolen und auch vielen Großstädten einfach zu teuer geworden, was viele junge Familien schon jetzt dazu bewegt, sich umzuorientieren. Die neuen technologischen Möglichkeiten machen es auch viel einfacher, von zu Hause aus zu arbeiten. Alles, was mit Homeoffice oder lokalen Co-Workings einhergeht, eröffnet vollkommen neue Lebensperspektiven. Die Digitalisierung macht heutzutage aber noch viel mehr möglich möglich, was noch vor ein paar Jahren undenkbar gewesen wäre. Selbst die Herstellung von Waren und ganze Produktionsabläufe sind nicht mehr an einen Ort gebunden und können theoretisch überall stattfinden. Beispielsweise das Handwerk, das mit digitaler Unterstützung in kleinere und mittelgroße Städte zurückkehren kann. Es gibt inzwischen ein Netzwerk, das mehr als 35.000 Tischler umfasst, die alle über eine digitale Produktionsmaschine verfügen – die im Übrigen nur noch ein Zehntel dessen kostet, verglichen mit dem, was sie noch vor sechs Jahren gekostet hat. Diese Tischler haben damit begonnen für große Möbelketten die Produktion, die oft in Asien stattfindet, wieder zurück in kleinere Städte zu holen. Dabei können die bisherigen Standardregale, beispielsweise so ein Billy-Regal von IKEA, sogar leicht individualisiert werden, indem man sie in der Breite anpasst. Denselben Trend gibt es auch im Textilbereich, bei Schmuck und sogar im Automobilbau. Im Prinzip kann in einer etwas größeren Garage heute mit ein paar Robotern ein Auto gebaut werden.

Warum sind denn gerade kleinere Städte dafür prädestiniert?
Nehmen wir mal Berlin. Da liegt die Bebauungsdichte bei 99,6 Prozent. Wo soll da noch Platz für die Entwicklung kleiner Werkstätten sein? Da gibt es kaum noch Raum für Experimentierflächen – mal abgesehen von der Schwierigkeit, in dicht bevölkerten Strukturen die Genehmigung für einen Handwerks- oder Produktionsbetrieb zu erhalten. Selbst wenn heutzutage aufgrund vieler digitalisierter Prozesse längst nicht mehr so viel Lärm und Schmutz anfallen, wie das früher der Fall war. Die gesetzlichen Vorgaben sind restriktiv und Platz grundsätzlich Mangelware – und extrem teuer.

Die Provinz als Motor für Innovation und neues Lebensgefühl?
In der Provinz gibt es durchaus Unternehmen, die schon sehr weit sind.  Beispielsweise die Firma PIEL, ein C-Teile-Anbieter aus Soest. Langweiliger geht es eigentlich gar nicht, denn C-Teile sind Sachen von geringem Wert, von denen man aber jede Menge braucht, also so etwas wie Schrauben oder Verbrauchsmaterial im Sicherheitsbereich wie beispielsweise Handschuhe. Bei PIEL hat man gleich mehrere Systeme mit digitaler Anbindung entwickelt. In einem Fall kann man seinen Arbeitsplatz nur betreten oder »in Gang setzen« wenn alle Materialien vor Ort sind, inklusive vollständiger Sicherheitsausrüstung. In einem anderem Beispiel gibt es Virtual-Reality-Videos, mit denen Sicherheitstrainings für bestimmte Bereiche durchgeführt werden. Sogar Augmented Reality setzt das Unternehmen ein und warnt am Arbeitsplatz vor herannahenden Gefahren und optimiert durch künstliche Intelligenz nebenbei den Einsatz von Sicherheitsausrüstung. Damit hat PIEL den Ausfall durch Unfälle drastisch reduziert und damit die Marge der betreuten Unternehmen erheblich gesteigert – und die Zufriedenheit der Mitarbeiter gleich mit. PIEL ist heute längst kein C-Teile-Lieferant mehr, sondern Dank digitalem »anders Denken« ein integrativer Teil von Unternehmen bis in die Human Ressources mit einem vielfachen Nutzwert in verschiedenen Abteilungen.

Vermutlich könnte das Unternehmen auch in Pinneberg oder Lüdenscheid seinen Sitz haben. Entscheidend ist ja nicht die geografische Lage, sondern die Innovationsfreudigkeit der Geschäftsführung ...
Ohne kluge Köpfe und die Bereitschaft, etwas zum Besseren verändern zu wollen, geht es nirgends. Das sieht man auch in den zahlreichen kleineren und mittleren Städten und Gemeinden. Fortschritt muss man positiv angehen und auch mal etwas riskieren. Beispielsweise in Bad Berleburg.

Wir reden von  einer Kleinstadt im Rothaargebirge, die nicht mal 20.000 Einwohner zählt und sich Stadt der Dörfer nennt …
… in der aber eine Menge los ist. Und das, obwohl man mit dem Zug von Hamburg aus mehr als sieben Stunden nach Bad Berleburg braucht und es keine Autobahnanbindung gibt. Die Verkehrsanbindung zum Rest der Welt ist also eingeschränkt. Dennoch hat man es geschafft, zahlreiche neue Unternehmen in den Gewerbe- und Industriegebieten anzusiedeln – darunter auch Online-Dienstleistungsunternehmen. Die Arbeitslosigkeit ist mit unter vier Prozent sehr gering. Die haben einen sehr engagierten Bürgermeister, der digitale Prozesse vorantreibt und die einzelnen Dörfer miteinander vernetzt. Bad Berleburg hat als Smart City schon etliche Auszeichnungen erhalten und ist Modellregion für nachhaltige regionale Entwicklung. Und inzwischen gibt es da auch eine Pizza, die selbst den Ansprüchen verwöhnter Großstädter genügen würde.

Wie wichtig sind eine gute Pizzeria und eine Kaffeerösterei auch für kleine Städte?
Sehr wichtig. Sonst zieht hier kein Arzt hin. Und auch kein Handwerker. Oder das Pflegepersonal. Bestimmte Dinge müssen einfach sein, auch in kleinen Städten und ihren Fußgängerzonen. Da kann auch grundsätzlich viel mehr und vor allem schneller ausprobiert werden. In größeren Städten scheitern Initiativen häufig an langatmigen Abstimmungsprozessen.

Wie sehen die Innenstädte der Zukunft denn aus?
So wie zurzeit noch jedenfalls nicht mehr. Das ist Geschichte. Man wird neue Strukturen entwickeln müssen, die den zentralen Bereich einer Stadt wieder attraktiv machen. Das geht nicht ohne Wohnen, Kultur und kleine Geschäfte. Und auch nicht ohne das Aufleben der einzelnen Stadtteile. Diese Konzentration auf die Zentren der Städte hat sich überlebt. Vielmehr werden die Stadtteile wieder einige Zentren werden – inklusive eigener kleiner Handelszonen. In Kassel zieht man beispielsweise die Konsequenz daraus, dass der Handel in der Innenstadt 75 Prozent seines Umsatzes verloren hat. Was schon vor Corona schlecht lief, kam mit der Pandemie teilweise ganz zum Erliegen. Also verabschiedet man sich jetzt von der Idee der »Einkaufsstadt« und wird das Zentrum viel stärker auf kulturelle Einrichtungen, Museen und auch neue Schulen ausrichten. Aber auch Wohnraum für ältere Menschen wird entstehen.

Und was macht der Handel?
Der Handel wird lokaler werden. Das Ziel ist, dass innerhalb von 15 Minuten von der Haustür der gesamte Versorgungsbedarf erfüllt werden kann. In kleinen Stadtteil-Einkaufsvierteln, vielleicht sogar mit einer wiederbelebten Stadtteil-Hauptstraße. Sollte es Produkte hier nicht geben, entstehen mit der Zeit lokale Möglichkeiten, diese Produkte online im Nachbar-Stadtviertel zu bestellen und liefern zu lassen. Oder, wenn es dort nicht verfügbar ist, sogar in der Nachbarstadt. Die großen internationalen Plattformen werden lokale Konkurrenz bekommen, die eine Mischung aus Erlebnis, Komfort und mehr Lebensqualität bietet. Das eigene Lebensumfeld wird dadurch aufgewertet und dazu führen, dass wir viel weniger umziehen werden.

Umzüge gehen ja meist mit Jobwechsel, veränderter Lebenssituation oder Altersgründen einher ...
Künftig wird man nicht mehr mit jedem neuen Job auch automatisch seinen Wohnort wechseln müssen. Vielmehr bleiben wir sogar im Alter, wo wir sind und uns auskennen. In unserem Viertel, in dem es alles gibt, was es zum Leben braucht – dank fortschreitender Digitalisierung und Vernetzung. Neue Technologien wie Blockchain, Smart-Contracts und nicht zuletzt ab spätestens 2026 ein digitaler Euro werden neue Möglichkeiten schaffen, lokale Strukturen zu unterstützen und Warenflüsse sowie Orte, an denen Wertschöpfung entsteht, sichtbar zu machen. Im Endeffekt heißt das, dass es die intermediären Plattformen zunehmend weniger braucht, da die persönlichen Algorithmen von Menschen und Produkten sich auch ganz prima ohne sie finden werden. Damit wir die neuen Möglichkeiten der Digitalisierung nutzen können, müssen wir anders denken lernen.

Für die meisten Menschen ist das alles noch sehr abstrakt, weil es ja noch wenig gelebt wird. Wie bindet man denn die Unternehmen mit in Zukunftsvisionen ein, die lokal geprägt sein werden?
Ein gutes Beispiel für stärkere lokale Einbindung kommt aus Dänemark. Statt einen großen Braukonzern zu bauen, setzt die Kopenhagener »Brauerei« Mikkeller darauf, verschiedene regionale Biere im Sortiment ihrer Brauhäuser zu führen. Die kommen teils von kleinen Mikro-Brauereien aus der direkten Umgebung und sind von Brauhaus zu Brauhaus unterschiedlich. Die Kunden haben eine ungleich höhere Identifikation mit den Bieren aus der Nachbarschaft, was zu einer Aufwertung der Nachbarschaft, zu besserem Miteinander führt … und zu einer Idee, die sich zunehmend über den gesamten Erdball verbreitet. Mikkeller gibt es inzwischen in mehr als 40 Ländern zu kaufen. Mikkeller setzt sich auch für soziale Nachhaltigkeit ein und kooperiert mit einer Brauerei, die von sozial benachteiligten Gruppen betrieben wird, den People like Us. Man versteht sich als Vorreiter auf dem Weg, das gesamte Business Bier umzukrempeln und sozialer auszurichten. Als erstes Ergebnis dieser  Partnerschaft ist The Social Beer Shop im Stadtteil Vesterbro entstanden.

Sind Kollaborationen der Schlüssel zur Veränderung unserer Gesellschaften und damit auch unserer Städte?
Es gibt ja schon zahlreiche Ansätze, die zeigen, was man alles verändern kann, wenn man sich mit anderen zusammentut. Pflanzenzüchter, die inzwischen Städte in der Gestaltung von lebenswerten Räumen beraten und so auch Kriminalitätsraten senken. Lebensmittelunternehmen kooperieren mit Telekommunikationsunternehmen, um Krankheiten einzudämmen. Folienhersteller werden Teil der Gesundheitsversorgung, Autohersteller und Bildung entwickeln vollkommen neue Lernformate, Landwirtschaft und urbane Strukturen gehen neue Verbindungen ein. Das alles verändert uns und unsere Städte ja schon – und ist trotzdem erst der Anfang. In den kommenden Jahren wird sich unser Alltag zu 80 Prozent verändern – im Zuge der Digitalisierung.


Das Interview führte
Susanne Osadnik,
Chefredaktion
Shopping Places* Magazine


Max Thinius. Der Mann aus dem Ruhrpott ist ausgebildeter Schauspieler, Moderator, Comedian und hat zehn Jahre lang den Lehrstuhl für Konzeption und Innovation am IMK in Berlin und Wiesbaden geleitet.  Er publiziert in vielen  Medien, war oft Gast im wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung, berät Menschen und Unternehmen (DAX bis Mittelstand) sowie Regionen und Organisationen (Verbände) bei der aktiven Gestaltung der eigenen Zukunft. Er redet und schreibt über Digitalisierung, Zukunft, gesellschaftliche Entwicklung, Handel, Politik, Bildung, Lebensqualität … und ab dem kommenden Winter gibt es eine öffentliche Show zur Zukunft auf einer großen Bühne in der Heimatregion.