Dominanz missbraucht, Konkurrenz ausgeschaltet

Jeff Bezos
Jeff Bezos, Gründer von Amazon.com und Blue Origin © Kristoffer Tripplaar / Alamy Stock Foto

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Dranbleiben

Hubertus Siegfried

Amazon-Gründer Jeff Bezos verkündet das beste Quartalsergebnis in der Geschichte des E-Commerce-Giganten – und seinen Rücktritt als Vorstandschef. Der Zeitpunkt könnte gut gewählt sein: Kartellbehörden diesseits und jenseits des Atlantiks machen massiv Front gegen das Online-Handels-Ungetüm, weil es Steuervermeidung betreibe und »fairen Wettbewerb« verhindere. Dem Konzern droht die Zerschlagung

Wenn die Feier am schönsten ist, sollte man gehen – Jeff Bezos, so scheint es, hat sich die Maxime erfahrener Partygänger zu eigen gemacht. Just an dem Tag, als der von ihm vor 27 Jahren gegründete Onlineversandhandels-Gigant Amazon Rekordzahlen für das letzte Quartal des vergangenen Jahres vermeldet, erklärt der 57-Jährige seinen Rücktritt vom Posten des Vorstandschefs im Herbst dieses Jahres.

125,6 Milliarden US-Dollar Umsatz, 7,2 Milliarden US-Dollar Nettogewinn – die Corona-Krise mit ihren staatlich verordneten Lockdowns in weiten Teilen Europas und einigen Bundesstaaten der USA haben Amazon in den letzten drei Monaten des vergangenen Jahres so viel Geld in die Kassen gespült wie nie zuvor in einem Quartal. Während viele stationäre Händler ihre Kunden nicht bedienen dürfen, versendet der Gigant aus Seattle Pakete im Sekundentakt. Der Aktienkurs notiert oberhalb von 3.300 US-Dollar – und damit 1.847 Prozent höher als zehn Jahre zuvor. Bezos, laut dem Bloomberg-Billionaires-Index mit einem Vermögen von 188 Milliarden US-Dollar der zweitreichste Mensch der Welt hinter Tesla-Chef Elon Musk,  hat einen scheinbar unbesiegbaren Handels-Titanen geschaffen.

Die Mehrheit der Analysten erwartet, dass es künftig noch besser laufen wird. Ob die deutsche DZ Bank, die Schweizer Credit Suisse und UBS oder US-Finanzhäuser wie Goldman Sachs und JP Morgan Chase – sie alle haben die Amazon-Aktie mit »Kaufen« eingestuft. »Alle Geschäftssegmente des Online-Händlers signalisieren Wachstumsbeschleunigung«, schreibt Goldman-Sachs-Analyst Heath Terry.

Unternehmerische Gier contra Gesundheit von Mitarbeitern

Doch es gibt noch eine andere Lesart für den Rückzug des Gründers aus der Vorstandsetage: Amazon steht, nicht zuletzt Dank der Lockdowns, heute so gut da, dass weiteres Wachstum möglicherweise künftig im anämischen Prozentbereich ausfallen wird. Auffällig ist der zurückhaltende Ausblick: Für das erste Quartal dieses Jahres prognostiziert der Konzern ein operatives Ergebnis in der extrem weiten Spanne zwischen drei und 6,5 Milliarden US-Dollar. Impliziert wird damit sogar ein potenzieller Rückgang von bis zu 25 Prozent gegenüber den vier Milliarden US-Dollar im ersten Drei-Monats-Zeitraum des vergangenen Jahres. Vor allem aber weiß Bezos, dass sich der Konzern Feinde gemacht hat – sehr mächtige Feinde.

Der noch amtierende Vorstandschef ist es zwar gewohnt, mit Widerständen zu ringen. Gewerkschaften organisieren seit Jahren immer wieder Streiks in den Logistikcentern des Konzerns, um höhere Löhne und längere Pausenzeiten durchzusetzen. 2019 haben sich Vertreter von Amazon-Beschäftigten aus 15 Ländern, darunter Deutschland, Argentinien, Brasilien, Pakistan, Polen und den USA, unter dem Dach des internationalen Gewerkschaftsbündnisses Uni Global Union (UNI) zusammengeschlossen, um ihre Strategien zu koordinieren. »Unternehmerische Gier«, wirft UNI-Generalsekretärin Christy Hoffmann dem Konzern vor. Ehemalige Manager rügen den Giganten öffentlich. Zuletzt Tim Bray. Der einstige Vizepräsident der Cloud-Tochter Amazon Web Services verließ das Unternehmen im Mai 2020 aus Protest gegen die Kündigung von Lagerarbeitern, die über die Sorgen vor der Ausbreitung von Covid-19-Infektionen innerhalb der Belegschaft berichtet hatten.

Keinen Cent Steuern in den USA

Doch diese Konflikte sind die sprichwörtlichen Peanuts im Vergleich zu dem, womit Amazon nun konfrontiert ist. Regierungen diesseits und jenseits des Atlantiks wollen aus mehreren Gründen massiv gegen den Konzern vorgehen. Ein wesentlicher Vorwurf: Steuervermeidung. Amazon würde Gewinne gezielt Tochtergesellschaften in Ländern zuschreiben, die keine oder nur sehr niedrige Steuern erheben oder andere buchhalterische Kniffe anwenden. Nach einer Studie des britischen Non-Profit-Analysehauses Fair Tax Mark haben Amazon, Apple, die Google-Mutter Alphabet, Facebook, Microsoft und Netflix von 2010 bis 2019 auf diese Weise zusammen Fiskalabgaben von mehr als 100 Milliarden US-Dollar in Europa und den Vereinigten Staaten umgangen.
»Es gab in diesen Jahren einen enormen Unterschied zwischen dem, was die Konzerne an Gewinnen verbuchten, und dem, was sie dafür tatsächlich an Steuerzahlungen abgeliefert haben«, sagt Fair-Tax-Mark-Vorstandchef Paul Monaghan. Besonders erfolgreich in der Steuervermeidung war Amazon 2017 und 2018. In beiden Jahren ist es dem Konzern in den USA gelungen, keinen einzigen Cent Einkommensteuer auf Bundesebene zahlen zu müssen, obwohl Gewinne in Höhe von jeweils mehreren Milliarden US-Dollar generiert wurden.

Amerika duldet keine Monopolstellung

Vor allem aber wird die Marktmacht zunehmend kritisch gesehen, die Amazon, aber auch Alphabet, Apple und Facebook angehäuft haben. Der Justizausschuss im US-Repräsentantenhaus ist kurz vor Jahreswechsel in einer Untersuchung zu dem Schluss gekommen, dass jeder der vier Konzerne seine »Dominanz missbraucht«, um Konkurrenten »auszuschalten oder einzuschränken« und damit »fairen Wettbewerb zu verhindern«. Die Empfehlung des Gremiums am Ende des 450 Seiten langen Berichts: Die US-Kartellbehörden sollten die Konzerne zu »strukturellen Trennungen« diverser Geschäftsbereiche zwingen – ein freundlicher Euphemismus für einen harten politischen Akt: Zerschlagung.

Die USA gelten zwar als das kapitalistische Land schlechthin. Als der Staat, der dem Unternehmertum mehr Freiheiten einräumt als irgendwer sonst in der Welt. Doch zugleich ist in der Verfassung der Vereinigten Staaten der freie Wettbewerb fest verankert. Monopole werden nicht geduldet. Das hat immer wieder dazu geführt, dass Konzerne, die eine marktbeherrschende Stellung erobert haben, von der Regierung zerlegt wurden. Bekannteste Beispiele sind der von John D. Rockfeller geschaffene Öl-Gigant Standard Oil, der 1911 in 34 Einzelunternehmen aufgeteilt wurde, und der Telekommunikations-Titan AT&T, der 1984 in sieben unabhängige Gesellschaften zerstückelt wurde.

Es ist ein Schicksal, dass nun auch Alphabet, Apple, Facebook – und Amazon droht. Sie seien zu »Monopolen geworden, wie wir sie zuletzt in der Ära der Ölbarone und der Eisenbahn-Tycoons gesehen haben«, bilanziert der Justizausschuss. »Diese Konzerne haben zu viel Macht, und diese Macht muss eingedämmt werden.«

In dieselbe Kerbe schlägt die EU-Kommission. Sie hat ihrerseits vergangenes Jahr zwei Kartellrechtsverfahren gegen Amazon eingeleitet. Zum einen wirft sie dem E-Commerce-Giganten vor, »durch Verfälschung des Wettbewerbs auf Online-Einzelhandelsmärkten gegen die Kartellvorschriften« der Staatengemeinschaft zu verstoßen. Der Konzern nutze »nichtöffentliche Geschäftsdaten von unabhängigen Händlern, die über den Amazon-Marktplatz verkaufen, systematisch für das eigene, in unmittelbarem Wettbewerb mit diesen Händlern stehende Einzelhandelsgeschäft«. Im zweiten Verfahren prüft die Kommission, ob der Gigant »eigene Angebote und Angebote von Verkäufern, die die Logistik- und Versanddienste von Amazon nutzen, bevorzugt behandelt«.

Politik plant Paketsteuer für den Online-Handel

Es müsse verhindert werden, »dass Plattformen mit Marktmacht, die auch selbst über die Plattform verkaufen, wie etwa Amazon, den Wettbewerb verzerren«, sagt die für Wettbewerbspolitik zuständige Exekutiv-Vizepräsidentin der Kommission, Margrethe Vestager. »Die Wettbewerbsbedingungen müssen fair sein.« Amazon sei zur führenden Plattform im elektronischen Handel geworden. »Deshalb ist ein fairer Zugang zu Online-Kunden ohne Verzerrung des Wettbewerbs für alle Verbraucher wichtig«, sagt Vestager.

Druck kommt in Deutschland auch aus der Politik. Bundestagsabgeordnete von CDU und CSU planen eine Paketsteuer für den Online-Handel. Mit der Fiskalabgabe soll ein »Innenstadtfonds« gespeist werden, um dem durch den Lockdown gebeutelten stationären Einzelhandel wieder auf die Beine zu helfen. Es wäre eine Steuer, die zum überwiegenden Teil von Amazon, dem größten E-Commerceanbieter in Deutschland, gezahlt würde. »Um die Innenstädte zu retten, will die CDU Amazon zahlen lassen«, schlagzeilt der Stern. »Unionspolitiker fordern eine Amazon-Steuer!«, verkündet die Bild. Kaum weniger dramatisch liest sich die Forderung in einem Entwurf zu einem Beschlusspapier der CSU-Landesgruppe im Bundestag: »Wir wollen die Internet-Riesen besteuern.«

Der Online-Handel müsse »die kommunale In­frastruktur mitbezahlen«, argumentiert Andreas Jung, stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. »Er nutzt sie ja auch.« Es sei nur fair, wenn E-Commerce-Anbieter zahlen müssten und stationäre Händler davon profitierten, sagt Christian Haase, Experte für Kommunalpolitik in der Unions-Fraktion. »Damit wird endlich eine Schieflage beseitigt und Wettbewerb auf Augenhöhe geschaffen.«

Amazon stolpert über Fahrer-Trinkgeld

Was aus all diesen Plänen werden wird, ob, wann und in welchem Umfang die US-Kartellbehörden Amazon zerschlagen werden, lässt sich derzeit nicht sagen. Sicher ist: Der Konzern kreuzt fortan nicht mehr in mäßig bewegten Wellen, sondern in zunehmend rauer See. Da kann einem Kapitän schon der Gedanke kommen, nach erfolgreicher Kreuzfahrt den gewonnenen Ruhm zu genießen und das Ruder in andere Hände zu übergeben.

Ganz aus dem von ihm gegründeten Unternehmen will sich Bezos nicht zurückziehen. Im dritten Quartal dieses Jahres wird der Gründer den Vorsitz im Aufsichtsrat übernehmen. Als Executive Chairman werde Bezos nach wie vor bei den wichtigsten Entscheidungen mitsprechen, etwa bei der Übernahme von Firmen, lässt Amazon Investoren wissen.

Klar scheint aber auch, dass Bezos das große Wachstumspotenzial nicht mehr im Online-Handel verortet, sondern in Datendienstleistungen. Das zeigt sich in der Wahl des künftigen Vorstandschefs: Andy Jassy. Der 53-jährige, seit 1997 im Konzern, hat dessen Cloud-Geschäft Amazon Web Services aufgebaut. Eine gigantische Server-Infrastruktur, über die erst Amazon allein sein Online-Geschäft abgewickelt hat. Doch mit den Jahren hat Jassy die Datenverarbeitungskapazitäten so weit gesteigert, dass längst auch andere Unternehmen Speicher- und Übertragungsvolumen für ihre Zwecke angemietet haben. Darunter Giganten wie das Vermietungsportal AirBnB und die Investmentbank JPMorgan Chase.

Allein auf den weiteren Ausbau der Web-Dienstleistungen werden sich Bezos und Jassy in den kommenden Monaten kaum konzentrieren können. Die US-Behörden ziehen die Daumenschrauben an. Just an dem Tag, an dem Bezos seinen Rücktritt verkündet, verhängt die US-Handelsbehörde FTC ein Bußgeld über 61,7 Millionen US-Dollar gegen den Konzern. Amazon habe es versäumt, einigen Fahrern die Trinkgelder auszuzahlen, die Kunden zusätzlich zum Kaufpreis der georderten Waren überwiesen hatten. Washington ist es offenbar ernst, den Giganten auf Maß zu stutzen …

Ein Beitrag von
Hubertus Siegfried,
freier Journalist