Erdgeschosszonen benötigen finanziellen Spielraum oder ein besonderes Konzept, das hohe Mieterträge ermöglicht

Andreas Schulten
Andreas Schulten © bulwiengesa

Interview
Herausforderung

Susanne Osadnik

Andreas Schulten, Generalbevollmächtigter des Immobilienanalyse­unternehmen bulwiengesa, über künftige  Erdgeschossnutzungen, die auch langfristig wirtschaftlich sind, die Korrelation zwischen Kaufkraft und Ladenzeilen im Parterre sowie die schwierige Überzeugungsarbeit bei der öffentlichen Hand

Herr Schulten, früher galt ein Geschäftshaus als absolut sichere Geldanlage. Vor allem auf die gewerblichen Mieter war Verlass, sagten die Vermieter. Häufig waren die Geschäfte schon seit Jahrzehnten im jeweiligen Haus und sorgten für stabile Einnahmen. Kann man diese Anlageform heutzutage überhaupt noch empfehlen?
Andreas Schulten: Tatsächlich war das Geschäftshaus auch bei  Privatanlegern der Klassiker unter den Immobilienanlagen. Allein durch die Corona-Pandemie hat sich aber das Risiko einer solchen Anlage schon erheblich erhöht, denn viele dieser Geschäfte hatten während des Lockdowns geschlossen und erwirtschaften teils heute noch geringe Umsätze, sodass sie die Miete nicht in voller Höhe oder vielleicht gar nicht mehr zahlen können. Für Neubauprojekte ist es besonders kritisch, wenn neue Erdgeschosslagen vermietet werden müssen. Wir haben schon länger eine Innenstadtkrise und viele Erdgeschosslagen stehen leer oder haben ständig wechselnde Mieter. Langfristig werden wir dadurch mancherorts deutliche Abwertungen der Immobilien in den Citylagen sehen.

Lässt sich ein Hauptmotiv als Grund für die Misere ausmachen?
Es handelt sich eher um eine Gemengelage an Gründen. Da geben Geschäftsinhaber auf oder finden keinen Nachfolger, wenn sie in Rente gehen. Dann kommt der Online-Handel dazu, die Shopping Center, die vielen Tankstellen, die ein immer breiteres Sortiment an Waren anbieten. Außerdem steigt die Zahl regionaler und saisonaler Feste, die Kaufkraft binden und nicht zuletzt viele bauliche Auflagen durch die Behörden bestehen, die eine Vermietung erschweren, weil die Mieter manche Auflage gar nicht erfüllen können.

Von welchen baulichen Auflagen reden wir?
Es geht um Brandschutzmaßnahmen, Be- und Entlüftungen, Parkmöglichkeiten, die immer seltener vorhanden sind, aber auch um Abfallbeseitigung, die schwierig zu organisieren ist, weil das wiederum mit Anwohnerinteressen und Parkplätzen kollidiert. Häufig wird empfohlen, doch einfach ein Café ins Erdgeschoss zu bringen. Dabei wird gern übersehen, dass insbesondere Cafés und Restaurants jede Menge Müll produzieren, Lagerkapazitäten brauchen und nur dann wirtschaftlich sind, wenn sie sogenannte 16-Stunden-Konzepte sind, also rund um die Uhr Kunden haben.

In den Stadtteillagen der Großstädte scheint das Erdgeschoss kaum ein Problem zu sein. Vor allem in den sogenannten jungen und hippen Quartieren funktionieren erstaunliche Konzepte. Etwa in Hamburgs Falkenried. Gibt es eine Korrelation zwischen Geld, Bildung und Erdgeschosslagen?
Die gibt es durchaus. Das Beispiel Falkenried zeigt, dass es möglich ist, auch im Erdgeschoss viele unterschiedliche Branchen anzusiedeln. Vom Parkettfachhandel über exklusives Küchenzubehör bis zum Möbelfachhandel ist dort alles vertreten, was in innerstädtischen Lagen in dieser Form schon lange nicht mehr funktionieren würde. Aber ohne die Kaufkraft im Quartier ginge das nicht.

Demnach gibt es an Orten, an denen die Kaufkraft hoch ist und so etwas wie ein Bewusstsein für den eigenen Kiez oder das Viertel ausgeprägt ist, durchaus Chancen für das Erdgeschoss?
Die Chancen sind an solchen Orten aktuell sogar eher größer als in Citylagen. Wer nach der Arbeit auf dem Weg nach Hause immer wieder an denselben Geschäften vorbeikommt, kauft sicher auch dort. Ganz einfach, weil es praktisch ist und man sich irgendwann persönlich kennt. Das Zauberwort heißt »Frequenz«. Grundsätzlich sehen wir perspektivisch aber auch wieder Chancen für Innenstadtlagen. Alles, was mit Gesundheit, Sport, Kultur und Lifestyle zu tun hat, kann dort im Erdgeschoss auch künftig gut funktionieren. Immerhin liegen dort auch auf weiteres die Knotenpunkte von Bussen und Bahnen.

Welche Rolle spielen lokale Anbieter bei solchen Überlegungen?
Sicherlich eine wachsende Rolle. Ein gutes Beispiel liefert Hamburg Team im Sartorius Quartier in Göttingen. Mit Freigeist hat man sich hier einen starken lokalen Hotelbetreiber ins Boot geholt und diesem zugleich die Vermietung der Gewerbeflächen im Erdgeschoss aufgetragen. Durch das lokale Know-how und gute Kontakte, sowohl in die lokale Wirtschaft als auch in die lokale Politik, ist es schnell gelungen, die Flächen zu vermarkten. Noch dazu hatte es der lokale Partner aktiv in der Hand, zu der eigenen Nutzung passende und ergänzende Nutzungen zu akquirieren. Auf diese Art und Weise ist in Summe ein stimmiges Gesamtbild entstanden.

In Hamburg wird das Thema auch schon lange diskutiert. Hat man das Problem Ihres Erachtens in der Hafencity gut gelöst?
Die Hafencity insgesamt ist schon eine stadtplanerische Sternstunde gewesen. Und um dem Einzelhandel gerecht zu werden, hat man beispielsweise von vornherein festgelegt, dass am Kaiserkai die Erdgeschosse höhere Räume haben, als in den Obergeschossen, damit die Räumlichkeiten nicht zu dunkel und universell nutzbar sind.

Mit den Planungen für das nächste Großprojekt in Hamburg ist man nicht bei konkreten Überlegungen für den Einzelhandel und Erdgeschossnutzungen angekommen. Welche Lösungen könnte man da von Anfang an anstreben?
Rothenburgsort hat eine vollkommen andere Ausgangsposition als die Hafencity. Auch die geografische Lage ist eine andere. Bei der Entwicklung Rothenburgsort werden wir vermutlich eine stärkere Orientierung an Kopenhagen sehen. In Dänemark wird beispielsweise auch im Erdgeschoss gewohnt. Da stört es niemanden, ob man von außen in die Wohnung hineinsehen kann oder nicht. Wir werden sehen, ob sich diese Überlegung auch bei uns etablieren lässt. Möglicherweise sind junge Leute in diesem Punkt anders ambitioniert als ältere.

Zurzeit erkennen Projektentwickler, dass Erdgeschossvermietung immer häufiger nur noch über Quersubventionierung gelingt …
Lebendige Erdgeschosszonen benötigen entweder    finanziellen Spielraum oder    ein besonderes Konzept, das hohe Mieterträge ermöglicht. Qualität ist auch hier teuer in der Erstellung. In unserer Studie kommen wir zu dem Schluss, dass Quersubventionierung eine Möglichkeit ist, um Gewerbe im Erdgeschoss zu halten oder erst einmal dafür zu gewinnen. Das Credo lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass es bei geringerem Mietdruck möglich ist, in den Erdgeschosslagen Nutzungen zu etablieren, die hinsichtlich des Images und/oder des Nutzens für die Bewohner oder Bürobeschäftigten derart förderlich sind, dass sich die geringere Miete im Erdgeschoss über höhere erzielbare Mieten in den Obergeschosslagen oder weiteren Gebäuden des Quartiers ausgleichen lässt. Wenn also eine Kita mit niedriger Miete im Erdgeschoss gewünscht wird, muss man dafür höhere Miete in den Obergeschossen zahlen.

Das Leerstandsrisiko lässt sich aber auch über die stärkere Verknüpfung und Vernetzung einzelner Nutzungen und Akteure verringern. Gemeinsam nutzbare Einrichtungen bedeuten geringere Ausgaben für alle beteiligten Akteure und lassen mehr Spielraum für einen höheren Mietzins auf der Kernfläche. Einen vergleichsweise direkten Weg der Unterstützung bei dem Vorhaben die Erdgeschossflächen als Gesamtkonstrukt attraktiv und rentabel zu belegen, betreiben und zu managen geht das Quartier 21 im Hamburger Stadtteil Barmbek. Auf einem ehemaligen Kranken­hausgelände ist hier zwischen 2008 und 2013 ein gemischt genutztes Quartier entstanden. Die Besonderheit ist der Quartiersverein, der sich aus einer Sonderumlage finanziert und einen Quartiersmanager beschäftigt. Die Sonderumlage wird dabei als Zwangsabgabe über Reallasten in den Grundbüchern aller Wohnungseigentümer geregelt. Sie variiert in der Höhe anteilig nach Wohn­fläche.

Und was bekommen die Anwohner dafür, dass sie mehr zahlen?
Die Belastung eines jeden Einzelnen fällt dabei vergleichsweise gering aus, in der Gesamtheit resultiert aber ein Ertrag, der neben einem angestellten Quartiersmanager auch noch die Anmietung von Räumlichkeiten in Erdgeschosslage ermöglicht. Der Quartiersverein kümmert sich um die Belange der Nutzer und organisiert gemeinschaftliche Veranstaltungen, bietet Räumlichkeiten für Festivitäten und Hobbys. Er vernetzt die Nutzer (auch der Erdgeschosslagen) untereinander und stärkt somit den Gemeinsinn und die Identifikation mit dem Quartier. Die aktive Vernetzung der Erdgeschossnutzer fördert durch gemeinsame Aktionen und gemeinschaftliches Handeln und Marketing die Gesamtattraktivität des Standortverbunds.

Beim Quartiersmanager geht es um inhaltliche Aspekte. Gibt es auch bauliche Voraussetzungen, die helfen könnten, das Erdgeschoss wieder attraktiver zu machen?  
Wir müssen grundsätzlich künftig so bauen, dass die Strukturen und Räumlichkeiten einfach und flexibel gestaltet werden, um viele verschiedene Nutzungen möglich zu machen und ausreichende Optionen schaffen. Selbst dann dürfte es noch schwierig sein. Denn man findet auch nicht mehr so viele Gewerbetreibende, die sich darauf einlassen, einen Laden zu eröffnen. Weiter wachsende Chancen könnte der moderne Tante-Emma-Laden – neudeutsch: Convenience-Store – haben, der etwa auch Paketlieferungen annimmt, einen Geldautomaten hat oder Geschenkartikel von Künstlern aus dem Quartier präsentiert.

Und wie bekommt man die öffentliche Hand dazu, von starren Vorgaben abzurücken, damit auch neue Konzepte umgesetzt werden können?
Bauträger und Verwaltung hatten schon immer ein zwiespältiges Verhältnis zueinander. Da hilft nur, so viel wie möglich miteinander zu kommunizieren und gemeinsame Lösungen zu finden. Eine weitere Möglichkeit besteht darin,  so viele Best-Practice-Lösungen zu sammeln, zu katalogisieren und zu präsentieren wie nur irgend möglich. Dazu haben wir hoffentlich mit unserer Studie einen ersten Beitrag geleistet. Je häufiger man sieht, wie gut etwas in der Praxis funktioniert, desto mutiger werden auch Politik und Verwaltungen werden, den jeweiligen gesetzlichen Rahmen dafür sinnvoll zu modifizieren.

Das Gespräch führte
Susanne Osadnik,
Chefredakteurin GCM

Die Studie »Erdgeschoss 4.0« von bulwiengesa, die in Zusammenarbeit mit Fachleuten aus den drei Projektentwicklungsunternehmen ehret + klein, Hamburg Team und Interboden sowie der Bundesstiftung Baukultur entstanden ist, hat sich der Problematik der Erdgeschosse in Stadt­quartieren gewidmet. Das Ziel dabei: Handlungsansätze für Quartiersentwickler, Stadt­planer und Investoren zu schaffen.