Europäische Einzelhandelsmärkte weisen in der Krise eine gewisse Resilienz auf

Olaf Janßen
Olaf Janßen © Adele Marschner

Interview
Dranbleiben

Susanne Osadnik

Der Stimmung im Einzelhandel ist noch immer getrübt. Dabei gibt es durchaus Lichtblicke. So haben die Einzelhandelsmärkte den Abwärtstrend im vierten Quartal 2020 bereits stoppen können, wie der Global Retail Attractiveness Index (GRAI), das Barometer der europäischen Einzelhandelsbranche, zeigt. Vor allem Deutschland präsentiert sich im internationalen Vergleich in überraschend guter Verfassung, sagt Olaf Janßen, Leiter Immobilienresearch bei Union Investment

Herr Janßen, die Stimmung der Einzelhändler ist europaweit noch immer auf dem Nullpunkt – trotz zeitweiser Öffnungen der Geschäfte. Wie spiegelt sich das im aktuellen GRAI wider?
Olaf Janßen: In der Tat ist die Stimmung von Händlern und Konsumenten weiterhin getrübt und man hat den Eindruck, alle stecken noch im Corona-Tief fest. Dennoch sehen wir eine Entwicklung, die hoffen lässt: Die rasche Rückkehr des GRAI (EU-15 Index) auf 100 Punkte im vierten Quartal 2020 lässt sich als Indikator für ein Ende der überaus steilen Talfahrt werten. Immerhin war der Index im Zuge des ersten europäischen Lockdowns im zweiten Quartal 2020 auf einen historischen Tiefstand von 89 Punkten eingebrochen.

Worauf führen Sie die positive Entwicklung zurück?
Einstweilen aufgefangen wurde der Negativtrend durch den Arbeitsmarkt, der sich im vierten Quartal in vielen Teilen Europas stabil entwickelte und mit 123 Punkten die stärkste Säule unter den vier Teilindikatoren des GRAI bildete. Hier konnten vor allem Frankreich, Italien, die Niederlande und Belgien gute Werte vorweisen. Als zweite Stütze wirkte die Entwicklung der Einzelhandelsumsätze (105 Punkte). In zehn der 15 betrachteten Länder zeigte die Umsatzentwicklung nach oben. Trotz dieser Lichtblicke  bleibt der GRAI insgesamt in Europa um zehn Punkte unter dem Vorjahresniveau zurück.

Welche Rolle wird die Entwicklung der Arbeitsmärkte bei künftigen Betrachtungen spielen?
Die Situation auf dem Arbeitsmarkt ist immer ein wichtiger Indikator, zumal es sich dabei um ein nachlaufendes Element handelt. Veränderungen spiegeln sich erst später in entsprechenden Zahlen wider. Insofern dürfte sich eine anhaltende Rezession mit stärker zunehmenden Arbeitslosenzahlen künftig im Index bemerkbar machen.

Lassen Sie uns einen Blick auf die einzelnen europäischen Länder werfen. Da gibt es erfahrungsgemäß durchaus gravierende Unterschiede. Wie schneidet Deutschland ab?
Der deutsche Einzelhandelsmarkt präsentierte sich im vierten Quartal in überraschend guter Verfassung, gleich einer Sonderkonjunktur. Mit 115 Punkten (minus acht Punkte gegenüber Q4 2019) liegt Deutschland in einem schwächelnden Umfeld weiterhin klar an der Spitze. Das Führungstrio im vierten Quartal 2020 bilden nun Deutschland, Tschechien (107 Punkte) und Irland (104 Punkte). Ebenfalls noch überdurchschnittlich zum europäischen Retail Index tragen Dänemark (103 Punkte) sowie Belgien und Polen mit jeweils 101 Punkten bei. Letzteres trotz signifikanter Einbußen gegenüber dem Vorjahr. Im Jahresverlauf mussten Österreich und Portugal mit einem Minus von jeweils 21 Zählern, gefolgt von Spanien (minus 19 Zähler) die deutlichsten Verluste beim Retail-Index hinnehmen. Österreich mit nur 84 Punkten bildet im vierten Quartal das Schlusslicht, die Plätze davor belegen Spanien und Schweden mit jeweils 86 Punkten.

Gibt es jemanden, der sich 2020 im Vergleich zum Vorjahr verbessern konnte?
Ja, die Dänen. Mit starkem Verbraucheroptimismus und einer positiven Entwicklung der Einzelhandelsumsätze im Rücken präsentiert sich Dänemark als das einzige europäische Land im EU-15-Index, das sich im Vergleich zum vierten Quartal 2019 mit einem Plus von drei Punkten leicht verbessern konnte.

Sie verwenden im Zusammenhang mit den europäischen Märkten den Begriff Resilienz. Was meinen Sie damit?
Auch wenn zweiter und dritter Lockdown und die steigende Sorge um Arbeitsplätze bei den Verbrauchern beziehungsweise die wirtschaftliche Existenz bei den Händlern in fast allen europäischen Ländern im Jahresverlauf zu Einbußen im Retail Index geführt haben – von gering: siehe Deutschland, Irland oder UK bis stark: siehe zum Beispiel Österreich – weisen viele europäischen Einzelhandelsmärkte in der Krise eine gewisse Resilienz auf. Insbesondere im Vergleich zu internationalen Märkten wie Japan oder Kanada, wo derzeit deutlich stärkere Schwankungen zu beobachten sind.

Warum schneidet Japan so schlecht ab?
Im asiatisch-pazifischen Raum zeigt der GRAI im Jahresverlauf etwas stärkere Verluste als in Europa und Nordamerika – die Einbußen liegen bei insgesamt 15 Zählern. Ausschlaggebend ist hier insbesondere Japan, das in allen vier Teilindikatoren und hier insbesondere bei den Arbeitsmarktdaten und der damit verknüpften Verbraucherstimmung schlechtere Werte als bei der letzten Erhebung ausweist.

Wie sieht es in den USA aus?
Im Vergleich zu Europa (minus zehn Punkte) fallen die Verluste für den Index in Nordamerika etwas geringer aus (minus sieben Punkte). Gestützt durch einen starken Anstieg bei der Händlerstimmung erleidet der Index in den USA nur moderate Verluste, geht gleichwohl aber mit schwachen Werten (94 Punkte) ins Ziel. Den negativen Impact auf den Nordamerika-Index durch Kanada, das gegenüber dem Vorjahr immerhin 18 Punkte verliert, können die USA jedoch nicht kompensieren. Kanada trägt auch im vierten Quartal 2020 mit nur 77 Punkten die rote Laterne unter allen 20 im GRAI betrachteten Ländern.

Das Interview führte
Susanne Osadnik,
Chefredaktion GCG

 

Methodik des Global Retail Attractiveness Index (GRAI)
Der Global Retail Attractiveness Index (GRAI) von Union Investment bildet die Attraktivität der Einzelhandelsmärkte von insgesamt 20 Ländern in Europa, Amerika und Asien-Pazifik ab. Dabei bedeuten 100 Indexpunkte eine durchschnittliche Bewertung. In den EU-15-Index gehen die Indizes der EU-Länder Schweden, Finnland, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Großbritannien, Österreich, Niederlande, Belgien, Irland, Portugal, Polen und Tschechien ein, gewichtet mit ihrer jeweiligen Bevölkerungszahl. In den Nordamerika-Index gehen die Indizes der USA und Kanadas ein; der Asien-Pazifik-Index berücksichtigt Japan, Südkorea und Australien.

Halbjährlich vom Marktforschungsunternehmen GfK ermittelt setzt sich der Global Retail Attractiveness Index aus zwei Stimmungsindikatoren und zwei datenbasierten Indikatoren zusammen. Alle vier Faktoren gehen gleichgewichtet, das heißt mit jeweils 25 Prozent, in den Index ein. In den Index fließt sowohl die Stimmung der Nachfrageseite (Consumer Confidence) als auch die Stimmung der Angebotsseite (Business Retail Confidence) ein. Als quantitative Input-Faktoren werden die Veränderung der Arbeitslosigkeit und die Entwicklung des Einzelhandelsumsatzes (rollierend 12 Monate) in den GRAI einbezogen. Nach Standardisierung und Transformation haben die Input-Faktoren jeweils einen Mittelwert von 100 sowie einen theoretischen Wertebereich von 0 bis 200 Punkte. Dem Index liegen Daten aus aktuellen Quellen von GfK, EU-Kommission, OECD, Trading Economics, Eurostat sowie der nationalen Statistikämter zugrunde. Die dargestellten Veränderungen beziehen sich jeweils auf den entsprechenden Zeitraum des Vorjahres (Q4 2019).