Figaros Hoch-Zeit

Hans G. Bauer
Hans G. Bauer

Interview
Dranbleiben

Susanne Osadnik

Monate lang durften sie nicht arbeiten. Seit März werden ihre Salons regelrecht gestürmt. Der Friseur hat sich in jüngster Zeit als systemrelevant entpuppt. Nie wurde er schmerzlicher vermisst als in diesem Winter. Warum uns unser Haar so wichtig ist, besprachen wir mit dem Soziologen Hans G. Bauer, der mit seinem Kollegen Fritz Böhle sogar ein Buch über die »Haarige Kunst – Eigensinn des Haars und das Können der Friseure« verfasst hat

Herr Bauer, was macht einen guten Friseur aus?
Hans G. Bauer: Das haben wir uns auch gefragt, das war auch die Ausgangsfrage für dieses Buch. Im Rahmen unserer Studien zu den permanenten Veränderungen der Arbeitsanforderungen in der Arbeitswelt, so beipielsweise auch im Dienstleistungsbereich, sind wir auch bei den Friseuren auf interessante Wahrnehmungen gestoßen. So etwa die, dass ein guter Friseur nicht nur den Kunden, sondern auch dessen Haar nicht lediglich als »Objekt« betrachtet, an dem man arbeitet, sondern als ein Gegenüber, mit dem man interagiert. Dabei geht es dann um viel mehr als nur die Beherrschung von Schnitttechniken. Ein guter Friseur, so haben wir das zusammengefasst, findet, pflegt und kultiviert das »Ich« im Haar und betrachtet es somit individuell.

Nichts scheint für viele Menschen so wichtig zu sein wie ihre Frisur. Wann haben wir angefangen, uns so sehr um unsere Haare zu sorgen?
Vermutlich schon bei Adam und Eva. Jedenfalls in den christlichen Paradiesdarstellungen findet sich Eva meist gepflegt langlockig … Aber im Ernst: Das Haar besaß ja zunächst wichtige biologische Funktionen: Es schützte vor Kälte und Hitze, war eine Art von Klimaanlage. Aber nicht nur das. Früheste archäologische Funde belegen, dass schon die Ägypter 6000 vor Christus über Werkzeuge verfügten, die zur Haarpflege eingesetzt wurden. Man hat im »Papyrus Ebers« sogar Anleitungen zu Hygiene und Körperpflege gefunden, bei denen das Haar eine wichtige Rolle spielte. Glatz- oder Kahlköpfigkeit, das fällt auf, wurde schon immer als Problem angesehen, wahrscheinlich auch deshalb, weil man die »Alopezie« mit Krankheit und sogar Tod in Verbindung brachte – volles Haar hingegen, aber keineswegs durchgängig, mit Vitalität und Kraft.

Frisuren sollen auch immer bestimmte Signale senden. Seit wann stehen extrem kurze Haare bei Männern für »law & order« (bei Frauen eher für Unangepasstheit und Selbstbewusstsein) und lange Haare für anarchistisches Wesen?
Das ist ein sehr spannendes und großes Thema. Diese Trennung gilt, so formuliert, definitiv nicht durchgängig. Denn ja, so etwas wie eine auf Epochen bezogene Haargeschichte lässt sich schon erkennen, jeweils gespeist aus religiösen, sozialen wie politischen Motiven – und immer spiegeln diese Epochen auch die Beziehung des Menschen zu seinem Körper, wie auch die Geschlechterpositionen. Religiös wird das Haar meist mit Kraft assoziiert, als Ort der Seele mit einer Verbindung nach »Oben«, aber auch mit einer Unterwerfung. Nicht umsonst tragen beispielsweise orthodoxe Juden noch heutzutage lange Haare und lange Bärte. Das Abschneiden der Haare bei Nonnen beim Eintritt ins Kloster, die Tonsur bei Mönchen sind Zeichen etwa der Distanz zur Welt. Auf politischer und sozialer Ebene ist das Haar eigentlich immer ein Machtsymbol. Der frei geborene Grieche der Antike unterschied sich vom unfrei Geborenen durch das Privileg, lange Haare tragen zu dürfen. Sklaven und Untergebenen wurde der Kopf geschoren. Ähnlich bei den Germanen. Und noch bevor Napoleon dann für alle Soldaten den Kurzhaarschnitt anordnete, demonstrierten gerade die Perückentürme der höfischen Frauen und die »Perruquiers« der männlichen Standesträger die Trennung von Hof und niederem Volk: Die Perücke nicht nur ein Symbol des Barock, sondern auch, drastisch ausgedrückt, Kennzeichen der Produktion von Untertanen. Darin enthalten – auch Marie Antoinette schor man vor ihrer Enthauptung den Kopf: Das Abschneiden der Haare galt immer schon als Erniedrigung. Auch in und nach den beiden Weltkriegen wurden Frauen, die sich mit dem »Feind« eingelassen hatten, kahlgeschoren durch die Straßen gejagt. Die wohl erschütterndsten Bilder sind sicherlich die der Haarhaufen von KZ-Häftlingen.

Hört sich so an, als ob das Haar schon immer auch eine gesellschaftspolitische Rolle gespielt hat ...
Im Zeitalter des Bürgertums wuchsen nicht nur das Hygienebewusstsein, sondern auch die politischen wie geschlechtlichen Akzentuierungen: Männer eher kurzgeschnitten, das Frauenhaar eher länger – aber nicht zu wild! In der Weimarer Republik der Bubikopf der Frauen als emanzipatorisches Signal. In den Nazi-Zeiten der blondgeflochtene Zopf, der Stahlhelmschnitt der Männer … Tja, und dann die Elvis-Locke, die Beatles, die Hippies, die Rastas, Punks etc. … übrigens alles auch Hinweise darauf, welch enorme Rolle das Haar in der Musik, überhaupt in allen Künsten spielte und spielt.

Und weil es gerade aktuell ist: Vor 50 Jahren erließ der damalige Bundesminister der Verteidigung, Helmut Schmidt, den »Haarnetzerlass«. Das Tragen langer Haare war in den 70er-Jahren bei jungen Männern so en vogue, dass man das sogar bei der Bundeswehr akzeptierte. Soldaten, die sich nicht von ihren langen Haaren trennen wollten, mussten während der Dienstzeit ein Haarnetz tragen. Schon 1972 war es damit aber schon wieder vorbei, jedenfalls beim Militär. Heute, im Zeitalter der Individualisierung, geht es massiv um Körper- und Selbstinszenierung. Soziologisch gesehen sprechen wir von einer Personalisierung des Haars: Es dient als Ausdruck des Entwurfs, den man von sich selbst als Person hat oder haben will.

Welche Rolle spielt die Möglichkeit, sich chemischer Mittel zu bedienen in unserer Haargeschichte?
Wie im Buch ausführlich dargestellt, hat man ja schon immer Einfluss auf das natürliche Haar genommen, indem es etwa gepflegt, geformt und gefärbt wurde – die kulturelle Überformung seiner Natürlichkeit. Als Handwerkszeuge dafür galten beipielsweise die »Kalamister«, die Brenn- und Plätteisen des Altertums, sowie viele Rezepturen zur Färbung und Pflege des Haars. Kein Wunder, dass mit der Industrialisierung um 1900 herum nicht nur der Föhn erfunden wurde, sondern auch das Verfahren, Dauerwellen herzustellen. In den 50er-Jahren war sie die in der westlichen Damenwelt maßgebliche Stilrichtung. Aber schon vor der Wende zum 20. Jahrhundert hatte sich eine florierende chemisch-pharmazeutische Industrie entwickelt, die eine Unzahl von Haar- und Hautbehandlungsmitteln und Kosmetikprodukten produzierte. Diese Branche verzeichnet, wie wir wissen, unter den Vorzeichen von »Wellness« und Körperinszenierung enorme Zuwächse – mit fraglos dementsprechend wachsendem Einfluss auf die Arbeit im Salon. Das geht ja weit über Strähnchen hinaus bis zu den heutigen Möglichkeiten der Haarverlängerung und Haartransplantation.
 
Hat es Sie eigentlich überrascht, dass Friseure offenbar als »systemrelevant« gelten und symbolisch für die Öffnung zum normalen Leben nach der Pandemie stehen?
Nein und ja. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Friseure für so viele Menschen, allein  schon im persönlichen Umfeld, so elementar wichtig sind – ihre Bedeutsamkeit für das tägliche Leben, wie sehr der Friseurbesuch einen festen Bestandteil des Lebensablaufs bildet, und deshalb jetzt eine große Lücke in diesem Ablauf klafft. Und dass auch in Sachen der eigenen Gepflegtheit beinahe so etwas wie ein Kontrollverlust entsteht. Das hat mich in diesem Ausmaß schon überrascht. Andererseits, das haben wir ja im Zuge der Individualisierung schon besprochen, besitzt die Frisur für die Selbstdarstellung wie die Außenwirkung heute einen imposanten Stellenwert. Im Extrem: Man sieht ja heute keinen verzottelten Fußballer mehr, aber manche von ihnen lassen den Friseur einfliegen … Gottlob ist das (noch) nicht ‚System‘. Aber der so merkwürdige Begriff der Systemrelevanz lässt einen schon erneut darüber nachdenken, welche gesellschaftliche Bedeutung und Anerkennung den nicht nur medizinischen personennahen Dienstleistungen in unserem System zukommt oder zukommen sollte.

Was fehlt den Menschen mehr zurzeit – die neue Frisur oder der Klatsch und Tratsch, der beim Friseur ausgetauscht wird?
Der Friseur war offenbar immer schon ein Ort des Austausches von Informationen sowie Klatsch und Tratsch. Das war schon bei den Griechen und Römern so. In den Badestuben des Mittelalters trafen sich viele Menschen, sowohl zum Stutzen des Barts wie des Haars, natürlich zum durchaus auch vergnüglichen Baden, aber auch zur Zahnbehandlung, zum Aderlass und anderen Vollzügen einer sogenannten Kleinen Chirurgie. Sie galten als ein Hauptort der mittelalterlichen, städtischen Kommunikation. Der Makel der Unehrenhaftigkeit und schließlich der Niedergang dieses quasi Vorläuferberufs des Friseurs wird auch dem Umstand zugeschrieben, dass er von der Obrigkeit als politischer Unruheherd empfunden wurde, an dem man ketzerisch gegen Gott und den Kaiser wetterte … Auch von der ehemaligen DDR wird ja berichtet, dass die Friseursalons wichtige Kommunikationsorte darstellten. Keine Frage, dass der Salon, wann und wo auch immer, einen Knotenpunkt für Kommunikation bietet, sei es die für die Behandlung direkt notwendige oder die darüber hinausgehende, die bis ins Therapeutische reichen kann. Das, was wir im Buch als »das« Friseurgespräch bezeichnet und aus verschiedenen Gesichtswinkeln dargestellt haben, ist sowieso ein höchst facettenhaftes Kapitel. Klatsch und Tratsch eingeschlossen stellt es gerade an »gute« Friseure hohe Anforderungen – die aber häufig übersehen werden.

Bei allem Hype, der zurzeit um den Friseur gemacht wird, steht das Image des Friseur-Handwerks im krassen Gegenteil dazu. Wie erklären Sie sich das?
Das liegt vielleicht auch an der historisch sehr wechselhaften Entwicklung dieses Berufs. Sie schwankt zwischen dem hohen Status an den Höfen bis hin zur dramatischen Infragestellung des gesamten Berufsstands – letztere gerade auch bedingt durch die Abwertung seines medizinischen Erfahrungswissens. Gerade die wissenschaftlich-akademische Schulmedizin führte zu einer regelrechten Amputation des Aufgabenfelds der Bader, Barbiere und Friseure. Dazu gehört sicher auch die nicht unproblematische Geschichte seiner oft konkurrierenden berufsständischen Vertretungen. Und dazu gehört sicherlich auch, dass sich dieser einstige Männerberuf zu einem Frauenberuf wandelte – höchstwahrscheinlich auch deshalb »grosso modo« eher tariflich unterbelichtet. Dazu gehört auch: Seit den 1990er-Jahren hat zwar die Zahl der Betriebsstätten zugenommen, aber geöffnet hat sich auch die Schere zwischen Starfriseuren, Discountern, Filial- und Mini- oder Mikrobetrieben. Das sorgt für ein reichlich differenziertes Bild möglicher Angebote an wie Erfahrungen für den Kunden, wie auch der Versprechen seitens der Friseure – was übrigens auch die enorme Fantasie-Entfaltung bei der Benennung der Salons demonstriert!

Es gab Zeiten, in denen das Friseur-Handwerk mal zu den beliebtesten Berufen gehörte. Wird die Pandemie dazu beitragen können, dass künftig wieder mehr junge Menschen diesen Beruf ergreifen?
Das wäre sicher wünschenswert, denn das ist ja ein durchaus interessanter Beruf! Aber das ist, glaube ich, nicht unbedingt zu erwarten. Ich bin skeptisch, ob dieser Lock-up-Hype das Image, den Status und die Anerkennung dieses Berufs wirklich aufwerten. Noch vor nicht langer Zeit galt er als einer der beliebtesten Ausbildungsberufe – wenngleich mit einer erheblichen Zahl von Ausbildungsabbrüchen. Ausbildungsbezogen mag es an der Attraktivität der Ausbildung selbst liegen, bei der zwar viel von Kreativität die Rede ist, man aber im Salon oft und lange die Haare zusammenkehren muss, bevor man mit dem Kunden in wirklichen Kontakt kommt, und sich nicht nur Schneidetechniken aneignen kann, sondern auch ein Gefühl und Gespür für den Kunden und dessen Haar. Ja, die Bezahlung ist nicht verlockend, und die berufliche Belastung nicht zu unterschätzen: Man steht viele Stunden am Tag, hat mit chemischen Präparaten, Sprays, Dämpfen umzugehen, die Allergien oder Hautprobleme auslösen und sonstige Langzeitfolgen mit sich bringen können. Diese Seiten des Berufs werden oft wenig beleuchtet.

Wie wir es in unserem Buch schildern, ist der Friseurberuf, genauer betrachtet, an sich ziemlich anspruchsvoll. Eine attraktive Berufsausbildung sollte nicht nur die im Wortsinn oberflächliche, modisch-trendig-technische Seite des Berufs betonen, sondern auch die Besonderheiten einer sehr individuellen Dienstleistung, die nicht nur personen-, sondern auch haarnah an und mit beiden mit Gefühl und Gespür arbeitet. Das eröffnet auch Anschlüsse an diverse andere Kreativfelder.

Frauen sind häufig beleidigt, wenn ihre Männer nicht registrieren, dass sie frisch vom Friseur kommen. Sehen Sie Ihrer Frau an, wenn sie eine neue Frisur hat?
Das mit einer ganz neuen Frisur kommt bei uns ja gottlob nicht mehr allzu häufig vor. Aber das mit dem Zum-Friseur-Gehen: Manchmal meckere ich ja sogar im Vorfeld, manchmal registriere ich es dann … gerade noch rechtzeitig, aber manchmal auch gar nicht. Es spricht ja schließlich auch für eine gute Friseurleistung, wenn man seine Arbeit nicht sofort bemerkt, weil man es »stimmt« und man/frau sich so mag ...

So eine Antwort kann vermutlich nur ein Mann geben …
Da haben Sie möglicherweise recht. Aber damit stehe ich ja offenbar nicht ganz alleine – und selbst meine Frau gibt mir an dieser Stelle manchmal recht …


Das Interview führte
Susanne Osadnik,
Chefredaktion GCG


Hans G. Bauer. Der Soziologe forscht und berät bei der GAB-München, einem Forschungs- Beratungs- und Weiterbildungsinstitut im Bereich der beruflichen Bildung. Seit mehr als 30 Jahren werden dort innovative Ansätze und praxistaugliche Lösungen für Arbeit, Beruf und Lernen erarbeitet.