Fort mit überholten Konzepten

Dr. Marc Schumacher
Dr. Marc Schumacher © Avantgarde Group

Interview
Optimismus

Susanne Müller

Wie der Handel von morgen funktioniert, weiß Dr. Marc Schumacher, CEO AVANTGARDE Group München. „E-Commerce ist das kleinste Problem“, sagt er. „Aufgrund des sich verändernden Konsumverhaltens der Kunden wird sich die Lage brutal verändern. Diesen Fakt unterschätzen viele Branchenplayer.“

Zurzeit dominiert der tradierte Einzelhandel aus den 70-er und 80-er Jahren unsere Städte. Doch das Anforderungsprofil ist stark im Wandel begriffen. Jugendliche im Alter von 14 oder 15 Jahren sowie die Gen Z haben eine völlig andere Erwartungshaltung als die Vorgängergenerationen, da sie in einer vielfältigen Erlebnisdimension aufgewachsen sind. „Die junge Menschen sind von Haus aus konditioniert auf Social Media, Netflix, Spotify und ähnliche Kanäle, sind aufgeschlossen für Künstliche Intelligenz, verlassen sich auf Lieferdienste wie GORILLAS und Lieferando – alles in allem eine Traumkonstellation für Konsumenten. Diese Zielgruppe setzt global die Trends. Als Konsumenten sind sie schnellere, bessere Services gewohnt, als sie ein Großteil des Einzelhandels zu bieten vermag“, so Dr. Schumacher.

Entmaterialisierung im Gange

„Wenn Youngsters erwartungsfroh und voll aufgeladen mit Energie deutsche Innenstädte besuchen, glauben sie doch, veräppelt zu werden. Was der Handel derzeit offeriert, hat wenig mit den Ansprüchen junger Konsumenten zu tun. Diese Gruppe verfügt über eine unglaubliche Kaufkraft, investiert aber an anderer Stelle als im statio­nären Handel. Junge Konsumenten geben Geld für Res­taurantbesuche, Reisen und Kultur aus. Große Bands spielen drei bis vier Konzerte pro Stadt, und ein Ticket kostet um die 150 Euro, doch trotzdem sind die Events ausverkauft. Und die Mallorca-Flieger sind brechend voll. Das zeigt sehr deutlich, wo die Prioritäten liegen. Die Entmaterialisierung schreitet rapide voran.“

Formate werden überflüssig

Dr. Marc Schumacher bringt es ganz deutlich auf den Punkt: „Der stationäre Handel wird nie wieder so bedeutend sein wie zu früheren Zeiten, das Stück vom Kuchen wird immer kleiner. Alles andere ist Wunschglauben.“ Demzufolge, führt er aus, werden zukünftig viele Flächen und Formate nicht mehr gebraucht. „Hier sind neue Nutzungskonzepte gefragt. Andere Akteure übernehmen und installieren andere Funktionen. Dann geht es darum, zu vermitteln, zu erklären und zu inszenieren.“ Eingebettet werde die komplette Customer Journey in den Omnichannel, „sonst ließen sich solche Konzepte schwer finanzieren. Sämtliche Kanäle werden gleichberechtigt sein“, so Dr. Schumachers Prophezeiung.

Der Konsument wird nicht helfen

Für traditionelle Retailer sind das erst mal keine guten Nachrichten. „Perspektivisch werden die Menschen eher weniger stationär einkaufen“, unterstricht Dr. Marc Schumacher. „Der Handel muss das entweder aushalten oder eine neue Geisteshaltung entwickeln. Immerhin trägt die lebendige Stadt ja auch eine gesellschaftliche Verantwortung. Am Handel von morgen müssen alle Stakeholder mitwirken: Stadtplaner, Eigentümer von Bestandsimmobilien, die Real-Estate-Industrie – die heute leider noch Dinge baut, die bald niemand mehr braucht. Die Schuld liegt nicht nur beim Händler. Und der Konsument wird nicht helfen. Also gilt es, sämtliche Stellschrauben radikal durchzudigitalisieren. Quick-Commerce wird weiterhin hohe Relevanz haben.“

Nachfrage nach Trends und Kultur

Und dennoch ist die City unverzichtbar. „Die digitale Welt ist einsam. Leute wollen rausgehen und etwas erleben. Schauen Sie mal in die Innenstädte – sie sind rappelvoll, aber längst laufen nicht alle Passanten mit einer Einkaufstüte herum. Wir müssen Trends und Kultur in die Cities bringen, dann gewinnen die Zentren an Bedeutung.“ Der Vorteil des stationären Handels sei zwar die Haptik. „Aber seien wir doch ehrlich, ausgerechnet die benötigte Größe 34 ist vergriffen – sowas frustriert die Kunden. Hinzu kommt, dass bei 80 Prozent der Händler wenig Beratung stattfindet. Die Wettbewerbsdimension hat sich komplett verschoben.“

Zeitgeist verändert sich massiv

Was heute gut funktioniere, seien Erlebnishäuser mit Gastronomie und Veranstaltungen und einem umfangreichen E-Commerce: „Solche Objekte gelangen über die physische Präsenz an Relevanz.“ Und er fasst zusammen: „Der Zeitgeist verändert sich massiv. In der Dekade der 60-er und 70-er Jahre waren Konstrukte viel stabiler. Heute erleben wir dramatische Umbrüche.“

Susanne Müller