Gegen die German Angst
Interview
Courage
Vincent Müller
Interview mit Zukunftsforscher Professor Dr. Ulrich Reinhardt
Ein beliebtes Sprichwort, das auf eine einfachen Fakt aufmerksam macht, lautet: „Wir verpassen 100 Prozent der Chancen, die wir nicht wahrnehmen.“ Nur wer etwas versucht, kann es auch erreichen. Und zu diesem Versuch gehört immer ein bisschen Mut.
Die Menschen wünschen sich mehr mutige Entscheidungen, auch in der Wirtschaft. Diese Aussage lässt sich aus dem Mut-Index ziehen, der von der österreichischen Meinungsforschungsagentur Marketagent letztes Jahr durchgeführt wurde. Bei den rund fünfhundert befragten Personen ist ganz klar die Tendenz erkennbar, dass Mut und Risikobereitschaft angesagt ist. 93 Prozent wünschen sich mehr Mut bei wirtschaftlichen Entscheidungen, und 61 Prozent sind der Meinung, dass es der richtige Zeitpunkt sei, um die Komfortzone zu verlassen – jedoch mit Bedacht. Denn als eines der größten unternehmerischen Handicaps wird von 87 Prozent der Befragten hier „Entscheidungsschwäche“ genannt.
Wunsch vs. Wirklichkeit
Doch obwohl das einer der größten Kritikpunkte an Arbeitgebern ist, wollen fast 70 Prozent doch lieber „auf Sicht fahren“ und widersprechen damit eigentlich dem Wunsch nach mehr Risiko. Thomas Schwabl, der Präsident von Marketagent, schließt aus der Studie: „Wie so oft in der heutigen Zeit identifizieren die Befragten ein ambivalentes Bild, das einerseits den Wunsch nach mehr Mut zum Ausdruck bringt, der aber gleichzeitig durch ein Bedürfnis nach Fahren auf Sicht gebremst wird. Wunsch und Wirklichkeit driften hier einmal mehr deutlich auseinander.“ Die Menschen propagieren also Mut, zeigen ihn selbst aber leider zu selten. Das zeigt sich auch in den angekreuzten Antworten, denn bis auf wenige Ausnahmen liegen die meisten Stimmen im konservativen Mittelfeld, bei „Stimme eher zu“, statt an den Extrempunkten „Stimme voll zu“ oder „Stimme gar nicht zu“.
Mit gutem Beispiel voran
Ähnlich verhält es sich mit dem Selbst- und Fremdbild, denn der Großteil der Befragten schätzt die Fehlerkultur im eigenen Unternehmen deutlich besser ein als im Rest des Landes. „Man selber ist eh super, nur die anderen sollten sich ein wenig zusammenreißen. Tatsächlich gilt auch hier, mehr mit gutem Beispiel voranzugehen. Nur Mut! Manchmal braucht es den, um die eigene Meinung zu ändern“, kommentiert Alexander Oswald, Präsident der Österreichischen Marketinggesellschaft.
Ist Deutschland mutig?
Diese Studie wurde in Österreich durchgeführt, doch wie sieht es in unserem eigenen Land aus? Tatsächlich gibt es in Deutschland auch noch Luft nach oben, wenn es um das Thema Mut geht. Der Begriff „German Angst“ ist sogar international bekannt und beschreibt ein gewisses Zögern, mit dem die Deutschen assoziiert werden. „Veränderungen werden zurückhaltend angenommen, und das Handeln ist von Bedenken und einem starken Sicherheitsbedürfnis geprägt.“ So beschreibt es der Zukunftswissenschaftler Professor Dr. Ulrich Reinhardt. Er hat das Buch „German Mut statt German Angst“ verfasst und beschäftigt sich darin eingehend mit der Vorsicht und Skepsis der Deutschen. In unserem Interview benennt er als Grund dafür mehrere historische Faktoren, angefangen bei „der Angst vor Vergeltung in den frühen Nachkriegsjahren über die (in Westdeutschland herrschende) Kommunistenangst im Zusammenhang des Kalten Krieges in den 1950er Jahren, die revolutionäre Angst in den 1960er und 1970er Jahren bis hin zur Angst vor dem Waldsterben und einem Atomkrieg in den 1980er Jahren“. Diese Verunsicherung wurde über die Jahre weiter geschürt, unter anderem durch Ereignisse wie den Fukushima-Reaktorunfall, die Fluchtmigration, die Corona-Pandemie und schließlich den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. All diese Ereignisse „bestärkten dabei die nachfolgende und schufen so allmählich ein Klima der allgemeinen Verunsicherung“, so Professor Reinhardt. Allerdings stehen diesen Ängsten auch Ereignisse wie die Wiedervereinigung, Innovationen in der Automobilindustrie, Biotechnologie oder erneuerbare Energien entgegen. Die deutsche Bevölkerung grundlegend als Angsthasen zu betiteln, wäre also auch nicht richtig.
Nur durch Scheitern kommt man weiter
Doch das alte Sprichwort „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt“ gilt auch heute. Sei es bei klugen Investitionen an der Börse oder einem innovativen Firmenkonzept – nur wer auch ein Risiko eingeht, kann am Ende Veränderung herbeirufen. Und dabei ist es auch wichtig, das Scheitern zu lernen. Laut Professor Reinhardt ist die Bereitschaft, Fehler zu machen und zu scheitern, beispielsweise in Form von finanziellen Verlusten, fehlgeschlagenen Konzepten oder Plänen, ein Attribut, das fast drei Viertel der Gesellschaft als mutig einstufen. „Allerdings ist in diesem Fall ein besonders starker Mut vonnöten, da gerade in Deutschland Fehler oftmals sehr kritisch und negativ bewertet werden“, sagt er.
Unternehmertum fördern
Was bedeutet das nun für Wirtschaft und Handel? Gerade dort, wo Risk-Assessments und Zukunfts-Prognosen berechnet werden, führt der Weg vielleicht nicht immer über die sicherste Option. „Konkret gilt es, im wirtschaftlichen Bereich Unternehmertum und Innovation zu fördern durch die Einrichtung von Förderprogrammen und Ressourcen, die Unternehmer und Innovatoren unterstützen, neue und mutige Ideen und Geschäftsmodelle zu entwickeln“, so Professor Reinhardt. Das bedeute jedoch keineswegs, beim nächsten Investment blindlings alles auf eine Karte zu setzen – sondern vielmehr, beim nächsten Meeting womöglich der unorthodoxen Idee des neuen Mitarbeiters Aufmerksamkeit zu schenken, statt der Einstellung des Büro-Dinos „Wir haben das schon immer so gemacht“. Denn Unternehmen müssten sich stets anpassen und mit dem Strom schwimmen, anstatt immer wieder aufs gleiche Pferd zu setzen.
Einige Tipps zum Mutmachen
Wir müssen mutiger werden. Doch wie kann das funktionieren? Professor Reinhardt nennt einige Tipps, um Courage zu fördern. Schon Kinder und Jugendliche sollten zu Selbstbewusstsein und sozialer Intelligenz erzogen werden. Die Schulen und Universitäten müssen das kritische Denken fördern, „um so die Perspektiven der Schüler zu erweitern“. Außerdem sollten wir gemeinsam einen offenen Dialog anstreben. Dadurch können eigene ihre Sorgen mitteilen, überwinden und auch andere Perspektiven einnehmen. Auch die Förderung von gesellschaftlichem Engagement hält Professor Reinhardt für wichtig. Gemeinnützige Projekte, Ehrenamt und Freiwilligenarbeit sollten unterstützt werden, um insbesondere jungen Menschen die Möglichkeit zu geben, ihre Zukunft aktiv mitzugestalten. Im digitalen Zeitalter gehört auch Medienkompetenz dazu, denn nur so „ist man in der Lage, die erhaltenen Informationen und deren Entstehung einzuordnen und kritisch zu hinterfragen. Hierdurch reduziert sich des Weiteren die Angst vor der scheinbaren Manipulation durch die Medien“. Der Fokus sollte deutlich stärker auf den Good News liegen, statt nur auf Schlagzeilen, die scheinbare Probleme aufzeigen. Weiterhin ist politische Partizipation, insbesondere in Zeiten der gesellschaftlichen Spaltung, ein gutes Mittel, um das Gefühl der Hilflosigkeit abzubauen. Sei es durch die Teilnahme an Wahlen, Online-Petitionen oder die Mitgliedschaft bei NGOs. Und auch der Arbeitsplatz ist ein Ort, wo mehr Mut aufgebaut werden kann. Wer seinen Arbeitnehmern viele Entfaltungsmöglichkeiten bietet, der schafft ein attraktives und gesundes Umfeld, in dem Austausch und Diskussionskultur möglich sind. Und auch „eine entschlossene, zuversichtliche und inspirierende Führung“ könne Mut machen. „Erforderlich hierfür sind eine offene Kommunikation, authentisches Auftreten und klare Formulierungen von Überzeugungen, Visionen und Zielen, die sowohl motivieren als auch nachvollzogen werden können.“ Wer Mut im Unternehmen belohne und innovative Ideen auszeichne, der ebne den Weg für die Zukunft. Und gehe im Unternehmen selbst, auch mit Blick auf Partner in der Branche, mit gutem Beispiel voran.
Vincent Müller