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Analysten
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Handel und Immobilien
Dranbleiben

Redaktion

Auch Analysten tun sich seit einem Jahr schwer mit ihren Prognosen und wagen sich nur zaghaft aus der Deckung. Denn alles, was man heute von sich gibt, kann morgen schon wieder obsolet sein. Der Immobiliendienstleister bulwiengesa hat kürzlich die Aussagen seiner Spitzenanalysten zu Beginn der Corona-Krise und aus aktueller Sicht gegenübergestellt. Lesen Sie, was die Profis zur Entwicklung des Einzelhandels sowie Logistik und Industrie gesagt haben ...

2020 – Einzelhandel

Ralf Koschny,
CEO bulwiengesa:
»Aufgrund der Frequenzrückgänge in Shopping Centern und der Zurückhaltung der Konsumenten erwarten wir weiteren Druck auf die Handelsmieten. Darüber hinaus dürfte der Textilsektor unter der Lieferverzögerung aus China leiden, was Auswirkungen auf die Herbstkollektion haben kann. Auch dieser Umstand trägt nicht zur Entspannung der aktuellen Mietsituation bei. Insofern sehen wir eine Fortführung des aktuellen Trends, dass sich die Investoren auf Handelsimmobilien konzentrieren, die einen hohen Lebensmittelanteil haben.«

Dr. Joseph Frechen,
Bereichsleiter Einzelhandel bulwiengesa:
»Im Einzelhandel sind die Auswirkungen der Corona-Krise je nach Branche unterschiedlich. Einen Umsatzschub erlebt gegenwärtig der Lebensmittel­einzelhandel und der Drogeriewarenhandel. Von Warennachschubschwierigkeiten aufgrund einer Beeinträchtigung bei Beschaffungsquellen oder von Beschaffungswegen wird derzeit im periodischen Segment – abgesehen von Hygiene-, Reinigungs- und Desinfektionsmitteln – noch nicht berichtet. Erst wenn im Zuge der verstärkten Grenzkontrollen innerhalb des Schengenraums zeitliche Verzögerungen von beispielsweise Lebensmitteltransporten oder gar ein Exportverbot von beispielsweise Desinfektionsmitteln oder Hygieneartikel einsetzen, stehen Lieferengpässe zu befürchten. Im aperiodischen Segment sind diese erheblichen Beeinträchtigungen schon jetzt zu beobachten. In Shopping Centern und in innerstädtischen Fußgängerzonen wird von deutlichen Frequenzrückgängen berichtet, so liegen in einigen Fußgängerzonen die Frequenzen um bis zu 30 Prozent niedriger als im März 2019 (Basis Hystreet.com, dort Vergleich Freitag, 13.03.2020 mit Freitag, 15.03.2019).
Profitieren wird der Online-Handel. Auch Fachmarktzentren zeigen sich bisher noch robust. Sie profitieren von ihrer guten Erreichbarkeit per Pkw. Auch sind sie im Regelfall weniger stark frequentiert als Shopping Center, größere Menschenansammlungen können vermieden werden. Aktuell nimmt die Bereitschaft zu Anschaffungen von Investitionsgütern beziehungsweise Produkten des langfristigen Bedarfs zwangsläufig ab oder wird bei erzwungenen flächendeckenden Ladenschließungen schlicht unmöglich. Vergleichsweise robust sollten Bau- und Gartenmärkte die Phase durchlaufen.«

2021 – Einzelhandel

Dr. Joseph Frechen,
Bereichsleiter Einzelhandel bei bulwiengesa:
»Der stationäre Einzelhandel kommt nicht zur Ruhe. Bereits der erste Lockdown im Frühjahr 2020 hat tiefe Spuren hinterlassen, nun hält seit Dezember der zweite harte Lockdown an. Unsere im April 2020 geäußerten Einschätzungen sind leider wahr geworden. Viele betroffenen stationären Einzelhandelsunternehmen, schrieben wir, würden ihre Mietzahlungen einstellen oder reduzieren. Und auch, dass Abstimmungen zwischen Vermietern und Mietern anstünden, die die Reduzierung von Mietforderungen und dauerhafte Mietsenkungen in der ‚Normalphase‘ zum Gegenstand hätten.
Die Zeit seit April 2020 wurde von vielen Eigentümern und Assetmanagern für Mietergespräche genutzt. Vielfach vereinbarten sie, dass für die Monate der Schließung keine Miete gezahlt wird, im Gegenzug wurde dafür aber eine Verlängerung der Mietvertragslaufzeit vereinbart; teilweise auf Basis alter, aber auch zu reduzierten Mietkonditionen. Diese Gespräche haben sich insbesondere mit Mietern des Modeeinzelhandels bis in den Herbst hinein geschoben. Kaum waren diese Vereinbarungen fixiert und die Umsatzhoffnung des stationären Modeeinzelhandels kehrte zurück, sorgte zunächst der weiche Lockdown im November und der anschließende harte Lockdown im so wichtigen Weihnachtsgeschäft für eine kräftige Eintrübung.

Genau dieses Stimmungsbild prägt den stationären Einzelhandel zu Jahresbeginn. Doch das Bild im Einzelhandel ist vielschichtig. Während der stationäre Einzelhandel in der Tendenz leidet – wobei der Handel mit Bekleidung und Schuhen hier größter Leidtragender mit -23,4 Prozent gegenüber dem Vorjahr ist, während der Lebensmitteleinzelhandel um 5,8 Prozent zulegt – eilt der Internet-Handel von Rekord zu Rekord und legte um 24,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr zu. Entsprechend berichtet das Statistische Bundesamt von einem Anstieg des Einzelhandelsumsatzes im Jahr 2020 von 3,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr (Angaben jeweils real, vorläufig).
Der Start ins Jahr 2021 verläuft für das Gros des stationären Einzelhandels mehr als holprig. Click & Collect entwickelt sich für einige, meist inhabergeführte Einzelhandelsgeschäfte, als Überlebenshilfe und zeugt von der enormen Kreativität, Aktivität und Leistungsfähigkeit des stationären Einzelhandels. Aber diese vielfältigen Aktivitäten sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Mieten im stationären Einzelhandel für Anbieter von Waren des aperiodischen Bedarfs unter Druck bleiben. Davon bleiben Highstreetlagen ebenso wenig verschont wie Shopping-Center-Lagen. Gleichwohl zeichnet sich ab, dass beste Innenstadtlagen und Shopping Center diese Entwicklung robuster überstehen als Lagebereiche und Center, die bereits vor Corona Anzeichen einer sinkenden Mietzahlungsbereitschaft zeigten. Wie bereits im Frühjahr 2020 thematisiert, führt uns die Corona-Pandemie den schmerzlichen Anpassungsprozess in einigen Branchen des stationären Einzelhandels im Zeitraffertempo vor Augen. Gleichwohl wird zunehmend von uns Konsumenten erkannt, was der stationäre Einzelhandel leistet und was uns fehlen würde, wenn er verschwände: intensive Interaktion, glänzende Augen, unterhaltsame Gespräche, Geselligkeit, Freude, Freizeitvergnügen und Ablenkung. Hier wird der stationäre Einzelhandel, insbesondere der aktuell arg gebeutelte Modeeinzelhandel, wieder ansetzen und seine Stärken, auch gegenüber dem Online-Handel, ausspielen können. Für einen Abgesang auf den stationären Einzelhandel ist es noch viel zu früh, auch wenn 2021 ihm noch einiges abverlangen dürfte.«

2020 – Logistik & Industrie

Team Logistik und Industrie bei bulwiengesa:
»Die Lagerflächen möglichst gering zu halten – das war lange die Maßgabe vieler Unternehmen. Selbst Ersatzteillager standen vor dem Hintergrund additiver Fertigungsverfahren auf dem Prüfstand. Warum lagern, wenn ad hoc produziert werden kann? Die Corona-Krise kann diese Entwicklung nun unterbrechen, ja sogar umkehren. Logistik und Industrie sind stark miteinander verwoben sind. Daher sind Auswirkungen auf beide Immobilienarten ähnlich.
Auch die Unterbrechung der Lieferketten, wie jetzt aktuell, hat kurz- und mittelfristig zunächst keine Auswirkungen auf die Logistikimmobilienwirtschaft, da die Mietverträge meist längerfristig abgeschlossen wurden, auch wenn der Lagerflächenbedarf in Korrelation mit der zurückgehenden Wirtschaftsdynamik für einige Zeit geringer werden wird. Mittelfristig können lokale Substitute für Produktionsmaterialien wieder bereitgestellt und der Maschinenpark neu darauf ausgerichtet werden. Gleichzeitig fahren in geringem Maße Importe etwa aus China wieder hoch, sofern der dortige Corona-Befall im Griff ist.

Auswirkungen wird es aber auf Projektentwicklungen im Immobilienbereich ausüben. Zunächst wird die mittelfristige Entwicklung abgewartet und Entscheidungen hinausgezögert. Dies betrifft Bautätigkeit, Immobilienfinanzierung sowie Investmenttätigkeit. Auch Logistikimmobiliennutzer werden zunächst den weiteren Fortschritt der Pandemie abwarten. Und langfristig? Zunächst gehen wir davon aus, dass die Corona-Krise in den nächsten ein bis zwei Jahren erfolgreich bewältigt wird und die Weltwirtschaft wieder an Fahrt gewinnt. Produktionsunternehmen werden die Erfahrungen der Corona-Krise in ihre Supply Chains einbauen und die Resilienz erhöhen wollen. Hierzu wird die Abhängigkeit von globalen Transportströmen verhindert. Dies bedeutet, dass wieder mehr lokale Zulieferer in Anspruch genommen werden. Sofern dies nicht möglich ist, etwa weil die Rohstoffverfügbarkeit, das Know-how oder der Preis dies nicht erlaubt, werden wieder mehr Lagerkapazitäten aufgebaut.«

2021 – Logistik & Industrie

Patrik Völtz,
Consultant Industrie und Logistik bei bulwiengesa:
»Als sich im März 2020 die Corona-Pandemie ausbreitete, war die Unsicherheit auf den Märkten groß. Auch im Bereich der Logistikimmobilien schien eine gewisse Unsicherheit um sich zu greifen. Unterbrechungen von Lieferketten waren das vorwiegende Problem; so war beispielsweise die Seefracht nicht auf diese Herausforderungen vorbereitet. Wir gingen davon aus, dass diese Herausforderungen jedoch kurz- und mittelfristig kaum negative Folgen auf die Logistikimmobilienwirtschaft haben würden, da auch  Mietverträge meist langfristig geschlossen werden. Auch ein in einigen Logistiksektoren zurückgehender Lagerflächenbedarf wurde prognostiziert. Auf Projektentwickler- und Investorenseite war damals die Unsicherheit groß und eine abwartende Haltung schien äußerst realistisch.
Im Verlauf des letzten Jahres zeigte sich, dass wir mit unseren Prognosen überwiegend richtig lagen. Hinsichtlich Logistikimmobilien war die Zuversicht begründet, denn die Systemrelevanz der Logistikbranche ist nach wie vor offensichtlich. Große Herausforderungen galt es im Prozess der Logistik­abläufe zu meistern. Die vornehmlich in China beheimateten Produktionsstätten konnten nach kurzer Zeit wieder ihre Arbeit aufnehmen, wobei die nachgelagerten Frachtrouten nach Europa und Nordamerika den Flaschenhals darstellten. Mittlerweile funktionieren die Supply Chains jedoch wieder auf einem guten Niveau. Aus der anfänglichen Zurückhaltung vieler Akteure wurde im zweiten Halbjahr 2020 und zu Jahresbeginn 2021 wieder Optimismus. Projektentwickler wissen um die anhaltend hohe Logistikflächennachfrage; im Jahr 2020 sind einige große Fonds ins Leben gerufen worden, die gezielt Logistikimmobilien als Anlageziel definieren.
Wie geht es nun weiter? Vieles wird davon abhängen, inwieweit Mutationen des Virus in Zukunft um sich greifen. Die gesamtwirtschaftlichen Folgen sind aus heutiger Sicht nur schwer abzuschätzen. Für die Logistikimmobilienwirtschaft lassen sich jedoch folgende Schlüsse ziehen: Mit großer Wahrscheinlichkeit ist mit einer weiterhin steigenden Nachfrage nach Lösungen im Bereich des E-Commerce zu rechnen. Die globalen Lieferketten konnten aus den Erfahrungen des Vorjahres lernen und scheinen in Zukunft zumindest zu einem gewissen Grad gefestigter als noch zu Beginn des Jahres 2020. Steigender Logistikflächenbedarf wird zu steigenden Preisen für Grundstücke und Mieten führen, wohingegen die Renditen weiter sinken werden. Das Tempo, in dem sich diese Entwicklungen abspielen und wann eine Stagnation in Sicht sein wird, ist ungewiss. Das Jahr 2021 wird hier aller Wahrscheinlichkeit nach noch keine Umkehr zeigen.«


Ein Beitrag der Redaktion