Geschichte wird gemacht, es geht voran ...

Vakzine gegen Covid-19
Ersehnte »Gamechanger« mit Anlaufschwierigkeiten: Die neuen Vakzine gegen Covid-19 versprechen eine baldige Rückkehr zur Normalität © Ridofranz – istockphoto.com

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Richard Haimann

Lockdowns lähmten Geschäfte, der Impfstart verlief schleppend. Auf den ersten Blick sieht es nicht gut aus für den Handel. Tatsächlich steht es jedoch viel besser als gedacht um die Konjunktur. Nach einem Jahr Corona brummt der Export und sichert damit Arbeitsplätze und Kaufkraft. Regierungen und Notenbanken stützen die Wirtschaft. Und ein Blick in die Historie zeigt, dass jeder Pandemie immer ein rasanter Aufschwung gefolgt ist

Anna Kolodzije und Mary-Jane Kuck trennen 7.681 Kilometer. Doch über die Weite des Atlantiks hinweg plagt beide Frauen dieselbe Sorge – ebenso wie Millionen andere Menschen auf der Welt. »Ich habe noch keinen Termin für meine Covid-19-Impfung erhalten«, sagt die 80-jährige Verlegerin Kuck in der Zoom-Schaltung aus ihrem Haus im Kootenai County im Norden des US-Bundesstaats Idaho. »Ich weiß noch nicht, wann ich das Corona-Vakzin bekomme«, sagt auch die 83-jährige Chemikerin Kolodzije, die in Hamburg in einer seniorengerechten Wohnung lebt. Das war im März. Inzwischen sind beide Damen geimpft und genießen das Gefühl, nicht mehr in Lebensgefahr zu schweben, sobald sie das Haus verlassen.

Virologen, Ärzte, Unternehmen – so schnell wie noch nie zuvor …

Ob in Europa oder den USA, ob in Asien, Afrika oder Lateinamerika – weltweit hoffen Menschen darauf, möglichst schnell gegen das Virus geimpft zu werden, das seit mehr als einem Jahr als pandemischer Weltenbrand um den Globus rast. Und überall hagelt es Kritik, dass es mit den rettenden Injektionen nicht schnell genug vorwärtsgeht. Auch in Staaten, die Impfstoffe rasch per Notfallverordnung zugelassen oder Lieferverträge mit Produzenten früher als die EU-Kommission abgeschlossen haben. »Impfungen in Los Angeles County kommen kaum voran«, kritisieren Reporter des lokalen Fernsehsenders KABC in der mit vier Millionen Einwohnern größten Stadt Kaliforniens. Es gebe »zu wenige Vakzindosen«, beklagt das regionale Wirtschaftsmagazin Flagstaff Business News in Arizona. »Wir müssen nach viel effizienteren Wegen suchen, um möglichst schnell alle Menschen zu schützen«, fordert Karen Booth, Präsidentin der Australischen Krankenschwestern-Vereinigung, im Sidney Morning Herald. Über »Chaos bei der Terminvergabe und Lieferschwierigkeiten« wettert der Spiegel und weiß aus einer eigenen Umfrage: »Immer mehr Deutsche sind enttäuscht vom Impfstart.« Selbst in Großbritannien, dem Impf-Europameister, wo Anfang Februar bereits zehn Prozent der Bevölkerung vakziniert sind, berichtet der Guardian von »Verärgerungen über zu langsame Impfstoff-Lieferungen«.

Kolodzije und Kuck teilen diese Kritik indes nicht. Im Gegenteil: »Es ist eine großartige wissenschaftliche Leistung, dass gleich mehrere erfolgreiche Vakzine gegen ein neues Virus in so kurzer Zeit entwickelt wurden«, sagt Kuck. Tatsächlich hat es in der Vergangenheit häufig mehr als zehn Jahre gedauert, bis ein Impfstoff anwendungsreif war. Am Polio-Vakzin zur Bekämpfung des Erregers der Kinderlähmung haben Wissenschaftler 1935 zu forschen begonnen.

Erst 1955, also 20 Jahre später, gelingt dem US-Virologen Jonas Edward Salk der Durchbruch. Bis genügend Impfstoff produziert werden kann, um sämtliche Kinder in Nordamerika und Westeuropa gegen die Krankheit zu vakzinieren, vergehen weitere acht Jahre. Ähnlich wie bei Covid-19 zeigen rund 80 Prozent der mit dem Polio-Virus Infizierten keine Symptome, geben den Erreger aber an andere weiter. Fünf Prozent erleiden schwerwiegende, bleibende Lähmungen. 20 Prozent der so massiv Betroffenen sterben, weil Herz oder Atemmuskulatur ihre Arbeit nicht mehr verrichten können.

Massiver Aufschwung erwartet

»Dass nun nicht jeder sofort gegen Corona geimpft werden kann, ist doch keine Überraschung«, sagt Kolodzije, die früher in ihrem Berufsleben Hygieneverantwortliche in einem Chemiewerk war. »Es braucht einfach Zeit, um Produktionskapazitäten aufzubauen, die Basisstoffe und die Ampullen zu fertigen.« Tatsächlich sei es »eine enorme Leistung der Pharmaunternehmen, dass schon heute weltweit täglich Millionen von Impfdosen produziert werden können«, so die Chemikerin. Wer jetzt darüber lamentiere, dass noch nicht jeder vakziniert werden könne, verkenne, »wie schnell Mediziner, Virologen und Unternehmen in der Bekämpfung des Virus vorangekommen sind«, sagt Kolodzije. »Wir haben allen Grund, uns auf den bevorstehenden Aufbruch zu freuen.« Schon bald würden die Menschen wieder leben können wie vor der Pandemie. »Wir werden wieder unbeschwert Einkaufen, Theateraufführungen und Konzerte besuchen und weite Reisen unternehmen.«

Dass der Corona-Krise der Aufbruch folgt, steht für Experten außer Frage. Die aktuelle Pandemie sei nicht mit der Pest oder der Spanischen Grippe vergleichbar, sagt Dirk Brockmann, Professor am Institut für Biologie der Berliner Humboldt-Universität und Spezialist für computergestützte Modellierungen zum Verlauf von Epidemien und Maßnahmen zu deren Eindämmung. »Wir sind heute viel besser vernetzt und können dadurch viel schneller auf Entwicklungen reagieren.«

Pandemien überziehen seit Jahrtausenden regelmäßig den Erdball. Jedesmal bringen sie Leid, Tod und lassen die Wirtschaft rapide einbrechen – und immer folgt ihnen danach ein massiver Aufschwung. Die Attische Seuche beendet letztendlich den fast 30 Jahre währenden Krieg zwischen Athen und Sparta. Schwere Diarrhoe und Vomitus, begleitet von Hustenkrämpfen, schwächen um 430 vor Christi die Soldaten beider Mächte zu sehr, um weiter gegeneinander zu ringen. Am Ende gewinnt Makedoniens König Philipp II., Vater Alexander des Großen, die Kontrolle über Griechenland – und führt es zu neuer wirtschaftlicher Blüte, in deren Zuge Handelskolonien vom Schwarzen Meer bis hinüber zur iberischen Halbinsel entstehen.

Dem Schwarzen Tod, dem Seuchenzug der Pest im späten Mittelalter quer durch Europa, fällt Berechnungen des Medizinhistorikers Manfred Vasold in Deutschland nach jeder zehnte Einwohner zum Opfer. In manchen anderen Ländern tötet das Bakterium Yersinia pestis sogar noch größere Teile der Bevölkerung. Was folgt, ist die bisher größte soziale Revolution in der Geschichte des Kontinents.

Gehörten zuvor Menschen ihren Fürsten, die sie für Hungerlöhne die Früchte des Feldes ernten ließen, sind Arbeitskräfte nun rar. Die Leibeigenschaft endet. Das freie Bauerntum entsteht. Nahmen die Zünfte der Handwerker vor der Seuche nur Kinder von Mitgliedern auf, ist der Bedarf an Bäckern, Metzgern, Steinmetzen und Tischlern nun so groß, dass die bisher reinen Familienbetriebe Auszubildende aufnehmen. Das Kapital und damit die Kaufkraft, bislang in Hand weniger, wird nun auf breitere Schichten verteilt. Wohlstand und Wirtschaft wachsen so rapide.

Der Kirche getrotzt, dem irdischen Leben zugewandt

Besonders eindrucksvoll geschieht dies in Italien durch den Handel mit der Levante, damals der reichste Landstrich Europas. Weil es der Kirche, Bittprozessionen und Hochämtern zum Trotz, nicht gelungen ist, der Pandemie Einhalt zu gebieten, fokussieren sich dort Stadtfürsten und Händler nicht länger auf die Spiritualität und das Jenseits. Stattdessen frönen sie fortan irdischen Freuden. Die Kunst erblüht in Gemälden und Statuen, die sich an den Werken der griechischen und römischen Antike orientieren – die Renaissance hält Einzug. Und mit ihr die humanistische Bildung.

Erst steht die Dichtkunst im Vordergrund, dann folgen Mathematik, Astronomie, Physik und Chemie. Das italienische Universalgenie Galileo Galilei erfindet den Rechenschieber, schafft mit dem Thermoskop das erste Temperaturmessgerät und fertigt die ersten brauchbaren Fernrohre. Vor allem aber entdeckt der Forscher, dass – anders als von der Kirche postuliert – die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist, sondern der Planet sich um die Sonne dreht. Seine astronomischen Forschungen schaffen die Grundlage für die Navigation auf hoher See – und ebnet so erst Entdeckern und anschließend Händlern den Weg über die Ozeane. Das Zeitalter der Aufklärung beginnt. Es mündet im freien Unternehmertum, rasantem technischen Fortschritt und schließlich in der industriellen Revolution.

Die Spanische Grippe fegt in drei Wellen von Juni 1918 bis Mai 1919 um den Globus und fordert mit mindestens 20 Millionen Opfern mehr Menschenleben als der gerade beendete Erste Weltkrieg. Die in Relation zur Einwohnerzahl geringsten Todesfälle verzeichnen die USA, in denen Städte harte Lockdowns verhängen und eine Maskenpflicht einführen. Auf die vom Virus A/H1N1 verursachte Influenza-Pandemie folgen die »Goldenen Zwanziger« – eine bis zu der 1929 beginnenden Großen Depression währende Ära des globalen wirtschaftlichen Aufschwungs, gepaart mit einer Blütezeit von Kunst, Kultur und Wissenschaft.

In der Damenmode lösen kurze Flapperröcke und Hosenanzüge die langen Kleider ab. Der Bubikopf verdrängt die bis dahin angesagten langen, mit Nadeln hochgesteckten Haare. In der Herrenmode weichen Gehrock und Zylinder nun Sakko und Fedora. In den USA produziert Ford sein Modell T am Fließband zu Preisen, die es zum ersten automobilen Massenprodukt der Weltgeschichte machen. In Deutschland bringt Opel mit seinem ebenfalls am Montageband gefertigten »Laubfrosch« das erste Auto Europas für Normalverdiener auf – und verkauft in sieben Jahren 119.484 Fahrzeuge.

Börsen auf höchstem Niveau

Es ist ein Aufbruch mit solcher Vehemenz, dass er sich sogar in den Sprachen manifestiert hat. »Happy Twenties«, die glücklichen Zwanziger, nennen Australier, Briten, Kanadier und Neuseeländer die Ära. Von den »Roaring Twenties«, den tosenden Zwanzigern, schwärmen die US-Amerikaner. In Frankreich werden die »Les Années folles«, die goldenen Zwanziger, gefeiert. An die »Anni ruggenti«, die rauschenden Jahre, erinnern sich die Italiener.

An den Börsen wird nun bereits vorweggenommen, dass auf die Corona-Pandemie ebenfalls ein neuer Aufbruch folgen wird. Alle bedeutenden Leitindizes, vom Dow Jones und der NASDAQ in den USA über den EuroStoxx 50 in Europa und dem Nikkei in Japan bis zum deutschen DAX notieren Anfang Februar nahe an oder über ihren bisherigen Höchstständen. Der Optimismus ist gut begründet, wie jüngste Wirtschaftsdaten zeigen. Trotz des in Deutschland seit November anhaltenden zweiten Lockdowns läuft es in Indus­trie-, Chemie- und Pharmabranchen rund. »Der Aufschwung im verarbeitenden Gewerbe ist intakt«, sagt Gertrud R. Traud, Chefvolkswirtin der Landesbank Hessen-Thüringen. »Die Auftragsbestände sind absolut in den vergangenen Monaten größer geworden und haben das Vor-Corona-Niveau überschritten.«

Chinas Aufschwung treibt deutsche Exportwirtschaft an

Ein wesentlicher Grund dafür: China hat durch harte Shutdowns die erste Coronawelle im Frühjahr vergangenen Jahres so gut gemeistert, dass die Wirtschaft dort längst wieder massiv angesprungen ist. Das treibt den deutschen Export – vom Automobil- bis zum Maschinenbau – und sichert hierzulande Arbeitsplätze und Kaufkraft. Ein Blick auf die Volksrepublik im Fernen Osten zeige zudem »wie massiv der Konjunkturaufschwung in Europa nach der Corona-Pandemie ausfallen könnte«, sagt Benjamin Melman, Global Chief Investment Officer von Edmond de Rothschild Asset Management in Paris. Chinas Bruttoinlandsprodukt hat 2020 trotz der Pandemie um 2,3 Prozent zugelegt. Von Oktober bis Ende Dezember betrug das Plus sogar stattliche 6,5 Prozent. »Die Konjunkturerholung ist dort bereits in vollem Gange und scheint dauerhaft«, sagt Melman.

Vor allem aber sind es die Rettungs- und Konjunkturpakete von Regierungen und Notenbanken rund um den Globus, die jene Teile der Wirtschaft stützen, die durch Pandemie und Lockdowns in ihrer Existenz bedroht sind – von großen Fluggesellschaften und Touristikkonzernen bis hin zu kleinen Ladeninhabern und Gastronomen. Die gute Nachricht: »Weitere Fiskalpakete sind unterwegs«, sagt Mark Dowding, Chefstratege bei BlueBay Asset Management in London, der mehr als 50 Milliarden Euro Anlagevermögen verwaltet.

Regionale Produkte weiter auf dem Vormarsch

Sowohl die Europäische Zentralbank als auch die Federal Reserve Bank in den USA haben angekündigt, Wirtschaft und Staaten mit weiteren milliardenschweren Anleihekäufen unter die Arme zu greifen. »Die EZB wird alles tun, um für vorteilhafte Finanzierungsbedingungen in der Eurozone zu sorgen«, steht EZB-Präsidentin Christine Lagarde im Wort. »Die Fed ist bereit, ihre volle Palette an Werkzeugen einzusetzen«, um die Wirtschaft in der Pandemie zu stützen, hat US-Notenbankchef Jerome Powell zugesichert.

Der stationäre Handel scheint auf den ersten Blick zu den klaren Verlierern der Pandemie zu zählen. Er musste seine Geschäfte geschlossen halten, während E-Commerce-Anbieter ihre Umsätze deutlich steigern konnten. Doch auf den zweiten Blick könnte sich Covid-19 für manche Händler als Segen erweisen, weil sie sich zur Digitalisierung ihrer Geschäfte durchgerungen haben, um die Krise zu überstehen. »Da viele Einzelhändler ihre Ladengeschäfte schließen mussten, konnten sie nur noch online Umsätze erzielen«, sagt Jack Neele, Trend-Experte beim niederländischen Asset Manager Robeco, der ein Anlagevermögen von 158 Milliarden Euro verwaltet. Zudem hätten sich für den lokalen Handel neue Chancen aufgetan: »Im vergangenen Jahr ist die Nachfrage nach regionalen Produkten drastisch gestiegen«, ergänzt Robeco-Analyst Richard Speetjens. »Verbraucher unterstützen die Unternehmen und Marken, deren Überleben ihnen wichtig ist.« Es ist ein Fundament, auf dem viele Händler in die Nach-Corona-Ära aufbrechen können …


Ein Beitrag von
Richard Haimann,
freier Journalist