Innenstädte sind mehr als Orte des Konsums

La Rambla in Barcelona
La Rambla in Barcelona, Spanien: urbanes Leben gehört seit dem Mittelalter zu Barcelonas Innenstadt © venakr – istockphoto.com

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Konsum

Die Pandemie hat unser Kaufverhalten verändert. Wir konsumieren anders und auch woanders. Der stationäre Handel hat darauf reagiert und die Digitalisierung massiv vorangetrieben. Im Internet und auf den Kanälen der Sozialen Medien sind Händler inzwischen vertreten. Doch das ist nur der erste Schritt in eine Zukunft, in der sich auch unsere Innenstädte maßgeblich verändern werden

»Selten bedenken wir, was wir besitzen, aber stets, was uns fehlt.« Mit diesem Satz in seinem Nachlass hat der Kaufmann und Philosoph Arthur Schopenhauer 1860 in Frankfurt am Main eine Triebfeder des Menschen beschrieben: den Drang zum Konsum. Wer arbeitet, will sich dafür auch etwas leisten können – selbst dann, wenn eine Pandemie herrscht und die Pforten der Geschäfte durch einen Lockdown geschlossen sind.

Aufgabe von Geschäftsinhabern ist es in einem solchen Fall, allen  Widrigkeiten zum Trotz die Wünsche ihrer Kunden zu erfüllen. Und Deutschlands Einzelhändler haben in den vergangenen 22 Corona-Monaten geliefert. Sie sind jetzt in sozialen Medien präsent. Sie verkaufen ihre Waren über Online-Plattformen oder eigene Internetseiten. Sie bieten ihren Kunden kontaktloses Bezahlen per Smartphone im Geschäft: Deutschlands Einzelhändler haben in der Pandemie digital aufgerüstet. Das zeigt eine repräsentative Umfrage unter mehr als 500 Unternehmen durch den Bundesverband der deutschen Informationstechnologie- und Telekommunikationsbranche, Bitkom.

»Krisis« bedeutet »Entscheidung«

72 Prozent der Einzelhändler sind danach heutzutage auf Social-Media-Plattformen wie Facebook oder Instagram aktiv. 2019, im Jahr vor der Pandemie, waren es nur 28 Prozent. Mit 34 Prozent investiert mehr als ein Drittel in Anzeigen im Internet. Und acht Prozent der befragten Unternehmen kooperieren mit Influencern, damit diese auf die Produkte ihrer Sponsoren aufmerksam machen. Vor zwei Jahren waren es weniger als ein Prozent. »Corona war für einen großen Teil der Handelsfirmen ein Weckruf«, sagt Bitkom-Präsident Achim Berg. Um während der Lockdowns weiterhin Kontakt mit ihren Kunden zu halten und Waren verkaufen zu können, hätten sich viele stationäre Anbieter im Internet ein zweites Standbein aufgebaut. Die Pandemie habe deutlich gemacht: »Eine gute Online-Präsenz bietet für Einzelhändler kein kleines Zubrot – sie ist ein Pflichtprogramm«, sagt Berg.

Krisen haben durch die Äonen hinweg immer gravierende Neuerungen hervorgebracht. Nach dem ersten Schock haben Menschen immer schnell Anpassungen vorgenommen, um im veränderten Umfeld weiter bestehen zu können. Der griechische Begriff krisis, abgeleitet vom Verbum krínein, bedeutet nicht Katas­trophe. Vielmehr steht es für »Entscheidung«. Für einen Entschluss, aktiv auf eine Situation zu reagieren, um sie zum Besseren zu wandeln.

Die Pandemie ist eine klassische Krise im besten Sinn des Wortes krisis. Ein Ereignis, das die Welt massiv verändert – und Menschen zu Höchstleistungen treibt, um einer neuen Gefahr zu begegnen. Forscher von Pharmaunternehmen haben in Rekordzeit Impfstoffe gegen das Sars-CoV-2-Virus entwickelt. Ingenieure haben neue Luftreiniger konstruiert, die effektiv Viren aus der Raumluft von Klassenzimmern und Restaurants filtern können. Flugzeuge wurden binnen Monaten so umgerüstet, dass die Luft in den Kabinen innerhalb von Sekunden komplett ausgetauscht wird.

Einzelhändler, die zuvor nicht im Internet oder in Sozialen Medien präsent waren, mussten für diesen Schritt viel Geld in die Hand nehmen. Dennoch sehen 75 Prozent von ihnen, das zeigt die Bitkom-Umfrage, die Digitalisierung als neue Chance für ihr Unternehmen – obwohl sie nun gezwungen sind, kontinuierlich weiteres Kapital aufzubringen, um die neu geschlagenen Pfade zu ihren Kunden zu pflegen. »Digitalisierung hat einen Anfang, aber letztlich kein festes Ende«, sagt Bitkom-Chef Berg. »Digitalisierung ist ein dauerhafter Prozess und verlangt entsprechend dauerhafte Investitionen.«

Pandemien haben Städte schon immer verändert

Was die Umfrage des Branchenverbands auch zeigt: Trotz der Konkurrenz durch reine E-Commerceanbieter und der finanziellen Mehrbelastung durch die Pandemie sieht ein Großteil der Handelsunternehmen die Existenz der Ladengeschäfte nicht bedroht. Nur zwei Prozent der Befragten sind der Auffassung, dass der stationäre Handel keine Zukunft habe. Es ist eine Schlussfolgerung, die auch der  Bundesverband der Informationstechnologie- und Telekommunikationsbranche teilt. »Innenstädte sind mehr als Orte des Konsums«, sagt Berg. »Sie sind ein Raum, in dem Menschen zusammenkommen, wo öffentliches Leben stattfindet – und dazu gehört auch in Zukunft zwingend der Handel.«

Dass Geschäfte weiter existieren werden – dafür dürfte auch ein Umbau der Städte sorgen, den Experten für die kommenden Jahren erwarten. »Waren unsere Innenstädte bis zuletzt häufig von Einzelhandels- und Büronutzungen dominiert, tagsüber belebt und nachts verlassen, so ist dieses städtebauliche und immobilienwirtschaftliche Leitmotiv in den vergangenen Jahren zunehmend unter Druck geraten«, sagt Henrike Waldburg, Leiterin Investment Management Global bei Union Investment Real Estate, dem Immobilienfondsanbieter der Volks- und Raiffeisenbanken. »Immobilienwirtschaft und Kommunen sind gleichermaßen gefragt, Strategien zu entwickeln, Strukturen und Nutzungskonzepte zu etablieren, die auch künftig flexibel auf Veränderungen des Marktes reagieren können.«

Damit dürfte sich wiederholen, was in der Vergangenheit immer wieder nach großen Seuchen geschehen ist. »Pandemien haben durch die Geschichte hinweg immer dazu geführt, dass sich Städte wandeln«, sagt Thomas Beyerle, Chef-Researcher der Immobilienberatungsgesellschaft Catella. »Neue hygienische Erkenntnisse und durch Seuchen veränderte Lebensgewohnheiten haben das Antlitz der Zentren verändert.«

Paris: große Boulevards statt enger Gassen

Besonders radikal ist dieser Wandel im vorvergangenen Jahrhundert in Paris ausgefallen. In Frankreichs Hauptstadt wütet von 1831 an die Cholera. Zehntausende fallen der durch das Bakterium Vibrio cholerae verursachten Magen-Darm-Entzündung zum Opfer. Blutige Diarrhö und massiver Vomitus entziehen dem Körper so viel Flüssigkeit, dass die Erkrankten dehydrieren und sterben – manchmal binnen 24 Stunden nach der Infektion.

Um künftige Seuchenausbrüche zu verhindern, wird der erfahrene Verwaltungsexperte Georges-Eugène Haussmann 1853 von Frankreichs Kaiser Napoléon III. zum Präfekten von Paris ernannt. Zwar ist der Erreger zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannt. Auffällig ist jedoch, dass Cholera-Fälle vor allem in jenen Quartieren auftreten, in denen Menschen besonders eng zusammenleben.

Haussmann lässt neue Quartiere mit weiter auseinander stehenden Mietkasernen vor der Stadt errichten. Dann werden die mittelalterlichen, eng aneinander klebenden Häuser im Pariser Zentrum nacheinander dem Erdboden gleichgemacht. Zehntausende Arbeiter sind damit beschäftigt, die Gebäude entlang enger Gassen wie der damaligen Rue des Marmousets oder der Rue de Jardinet niederzureißen. An ihrer statt entstehen breite Boulevards gesäumt von neuen Wohn- und
Geschäftshäusern im neuen Stil des Klassizismus. Eine der Prachtstraßen trägt den Namen des Neugestalters: der Boulevard Haussmann, der sich über 2.530 Meter hinweg durch das 8. und 9. Arrondissement zieht.

Auch unter der Erde wird gearbeitet. Haussmann lässt eine Kanalisation bauen: ein mehr als 600 Kilometer langes Netz aus Schächten und Rohren mit getrennten Systemen für Trink- und Abwasser. Damit endet die Jahrhunderte alte Ära der Nachttöpfe, in denen Menschen Urin und Exkremente sammeln und durch ein offenes Fenster in die Gassen kippen.

Kanalisation und Konsum

Es ist die entscheidende Waffe im Kampf gegen die Seuche. Die britischen Ärzte Arthur Hill Hassall und John Snow isolieren beim Cholera-Ausbruch von 1855 in London den Erreger. Sie finden Vibrio cholerae in Stuhlproben von Erkrankten – und in der Themse, in die zugleich die Abwässer fließen und aus der über Pumpenanlagen das Trinkwasser geholt wird. Londons Stadtregierung beschließt daraufhin, unter Großbritanniens Hauptstadt ebenfalls eine Kanalisation zu schaffen – nach Pariser Vorbild. In den kommenden Dekaden wird jede größere Stadt in Europa dem Beispiel folgen.

Der Bau der Kanalisation ist die größte Investition der öffentlichen Hand im 19. Jahrhundert. In der Dimension übertreffen die Ausgaben, gemessen an Kaufkraft und Steueraufkommen, die 1.000 Milliarden Euro des European Green Deal, die die EU-Kommission bis 2030 aufwenden will, um Europa auf dem Weg zur Klimaneutralität voranzubringen. Allein Berlin investiert von 1873 bis 1890 den gewaltigen Betrag von 87,2 Millionen Mark in den Bau der Kanalisation – bei einem jährlichen Steueraufkommen von lediglich 13,7 Millionen Mark. Doch mit den Investitionen in die Abwassersiele und Trinkwasserleitungen kommen europaweit Millionen Arbeiter in Lohn und Brot, erhalten die Finanzkraft, um zu konsumieren – und geben so dem Handel Auftrieb.

Es ist die Grundlage für den Gründerboom und die Hochkonjunktur der europäischen Wirtschaft in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Besonders stark profitiert Deutschland davon. Von 1871 bis 1914 versechsfacht sich die industrielle Produktion des neuen Kaiserreichs, die Ausfuhren vervierfachen sich. Bis 1914 entwickelt sich Deutschland zur größten Wirtschaftsnation Europas: Ihr Anteil an der Weltindustrieproduktion liegt bei 15 Prozent, der Großbritanniens bei 14 Prozent. Mit den USA allerdings kann bereits damals keine europäische Nation mehr mithalten. Ihr Anteil beträgt 32 Prozent.

Kiez der kurzen Wege

»Wie die Cholera-, wird auch die Corona-Pandemie das Antlitz der Städte verändern«, prognostiziert Analyst Beyerle, der von Haus aus Diplom-Geograf ist. Diesmal nicht durch den milliardenschweren Bau neuer Hygieneeinrichtungen, wie es bei der Einführung der Kanalisation in Europa der Fall war, sondern durch eine Anpassung der Quartiere an die neuen Bedürfnisse der Menschen. »Überall in europäischen Städten gibt es eine zunehmende Vernetzung der Grundfunktionen des Daseins in den einzelnen Wohngebieten«, sagt Beyerle. »Arbeiten, Einkaufen, Wohnen, dazu Angebote aus Bildung und Kultur – all dies wird zunehmend in jedem einzelnen Kiez geboten.«

Damit entsteht, was der französisch-kolumbianische Professor für komplexe Systeme und intelligente Städte an der Pariser Sorbonne Universität als Konzept bereits vor etlichen Jahren erdacht hat: Die 15-Minuten-Stadt – Quartiere, in denen Menschen von ihrer Wohnung aus binnen eines viertelstündigen Fußwegs zu ihrem Job, zu ihren Freizeittätigkeiten und zu ihren Geschäften gelangen können.

Die Idee der »Kieze der kurzen Wege« entspräche den Anforderungen, die künftige Pandemien stellen würden, sagt Beyerle. »Menschen wären nicht mehr gezwungen, lange Fahrzeiten in öffentlichen Verkehrsmitteln und die damit verbundenen Infektionsrisiken auf sich zu nehmen, weil sie alle Ziele im täglichen Leben zu Fuß erreichen könnten.«

Rückkehr zum Marktplatz

Beispiele für solche Quartiere gibt es schon. Im kanadischen Vancouver sind bereits in der Rezession von 2001 bis 2003 leerstehende Bürotürme in kombinierte Wohn- und Arbeitsviertel umgewandelt worden. In den unteren Geschossen sind Geschäfte, Restaurants, Arztpraxen und Fitnesscenter zu finden. Die zweiten, dritten und vierten Etagen verblieben für Büros. Die darüber liegenden Stockwerke sind zu Wohnungen geworden.


»Ein weiteres Beispiel ist Barcelona«, sagt Beyerle. In den Ramblas im Zentrum der Hauptstadt Kataloniens sind die Erdgeschosse und Soutterrains der Wohnhäuser gefüllt mit Geschäften, Bars, Restaurants und kleinen Handwerksbetrieben, während die ersten Stockwerke häufig von Arzt- und Rechtsanwaltspraxen sowie kleineren Unternehmen angemietet sind. Diese Aufteilung in der 1,6 Millionen Einwohner zählenden Mittelmeer-Metropole ist aber keineswegs auf den Eingriff moderner Stadtplaner zurückzuführen. Im Gegenteil: Hier sieht es schon sehr lange so aus. »Im Zentrum Barcelonas haben sich die alten Wohn-, Arbeits- und Einkaufsstrukturen aus dem Mittelalter bis heute gehalten«, sagt der Researcher. Die 15-Minuten-Stadt sei quasi eine Rückkehr in frühere Zeiten, als der Marktplatz, an dem Händler ihre Waren feilboten, noch der Mittelpunkt urbanen Lebens war.


Ein Beitrag von
Richard Haimann,
freier Journalist