Keine Sorgen vor dem Morgen

Smarte Roboter
Smarte Roboter im Einsatz beim Urban-Farming © Es sarawuth – stock.adobe.com

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Hubertus Siegfried

Die Transformation der Arbeitswelt durch die vierte industrielle Revolution und der Umbau zur klimaneutralen Wirtschaft ängstigt viele Deutsche. Beschäftigte fürchten um ihre Jobs. Einzelhändler sorgen sich um die künftige Kaufkraftentwicklung. Tatsächlich aber verläuft der Wandel langsam und verträglich genug, um den Wohlstand im Land zu bewahren

Bielefeld, Duisburg, Düsseldorf, Grevenbroich, Köln, Lüdenscheid, Neuss: In zahlreichen Städten Nordrhein-Westfalens marschieren am letzten Oktober-Freitag dieses Jahres insgesamt 9.000 Gewerkschafter der IG Metall. Es ist keine Demonstration für Lohnerhöhungen. Es ist ein Appell an die Ampel-Koalition, die Interessen der Arbeitnehmer bei der Transformation der Wirtschaft zur Klimaneutralität nicht zu vergessen. »FairWandel – sozial, ökologisch, demokratisch«, lautet das Motto.

Die Demonstrationen künden von den Ängsten bei den Industriebeschäftigten im einstigen Land von Kohle und Stahl. Rund um den Globus befinden sich Arbeitswelten und Gesellschaften inmitten eines rapiden Wandels. Von Europa über die USA bis hin zu Japan und China sind Staaten dabei, ihre Volkswirtschaften neu auszurichten, um den Klimawandel zu begrenzen. Fossile Brennstoffe wie Kohle, Gas und Öl sollen nicht länger als Energiequelle dienen, weil bei ihrer Verfeuerung das Treibhausgas Kohlendioxid entsteht. Stattdessen sollen Sonnenkraft, Wasser und Wind künftig primär zur Stromerzeugung genutzt werden.

Hinzu kommt die vierte industrielle Revolution. Die über das Internet gesteuerte Digitalisierung der Produktionsprozesse lässt immer mehr Unternehmen Roboter einsetzen. Die automatisiert arbeitenden Maschinen übernehmen dabei Tätigkeiten, die in der Vergangenheit von Menschen ausgeführt wurden.

Der Konsument von morgen hat mehr Kaufkraft als heute

Erste Beispiele dafür gibt es bereits. Im BMW-Werk in Landshut ist bei der Qualitätsprüfung von Stoßfängern ein Sensorsystem im Einsatz, das Gesten der Arbeiter deuten kann: Erachtet ein Mitarbeiter ein Teil für gut, wird es nach einer Wischgeste von Robotern weitertransportiert. Bei der Würth-Gruppe, Spezialist für Befestigungstechnik im baden-württembergischen Künzelsau, wird die Materialversorgung der Montagearbeiter mithilfe von Werkzeugkästen gesteuert, die selbstständig Schrauben nachbestellen. Beim Maschinenbauer Trumpf in Ditzingen bei Stuttgart steuern Mitarbeiter die Fertigung, ohne direkt daneben stehen zu müssen. Auf Tablets sehen sie Videobilder vom Zustand der Maschinen.

»Es wird zu einer deutlichen Umschichtung von Arbeitsplätzen kommen«, sagt Enzo Weber, Arbeitsmarktforscher und Mit-Autor einer Studie des IAB Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit. »Davon werden vor allem Beschäftigte, die heute Maschinen und Anlagen bedienen, betroffen sein.« Die Bandbreite reicht dabei der Studie zufolge vom Bäckerhandwerk bis hin zum Anlagenbau.

Dafür würden jedoch neue Arbeitsplätze in anderen Bereichen entstehen, etwa im Hochlohnsektor. Der Bedarf an Ingenieuren, Chemikern, Physikern und Naturwissenschaftlern werde deutlich wachsen. Benötigt würden Mitarbeiter mit IT-Kenntnissen, die in der Lage seien, »innovativ und in übergreifenden Prozessen zu denken«, sagt Weber. Darüber hinaus würden künftig mehr Beschäftigte »in den Dienstleistungsbereichen« benötigt – »unter anderem im Einzelhandel«. Denn die Konsumenten würden künftig über mehr Kaufkraft verfügen und deshalb in weit größerem Umfang qualifizierte Beratung verlangen.

Zukunft der Stahlindustrie-Arbeitsplätze entscheidet sich jetzt

Diese Schlussfolgerung mag auf den ersten Blick überraschen. Doch Experten erwarten, dass Deutschlands Haushalte künftig über deutlich mehr Einkaufskraft verfügen werden – aufgrund der vierten industriellen Revolution, die Produkte und Lebensmittel durch automatisierten Anbau immer billiger machen wird. So prognostiziert der wissenschaftliche Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums in einem Gutachten, dass »die Renten der nächsten Generation rund 30 Prozent mehr Kaufkraft haben werden als die heute ausgezahlten Renten«.

Solche Studien dämpfen jedoch die Ängste der von der Transformation betroffenen Beschäftigten nicht. Die wenigsten Facharbeiter im Maschinenbau sind zuversichtlich, sich zu Ingenieuren fortbilden zu können. Zugleich sind sie nicht erpicht darauf, geringer bezahlte Tätigkeiten im Dienstleistungsbereich auszuüben. »Die Beschäftigten erwarten von der neuen Bundesregierung, dass sie die soziale und ökologische Gestaltung der Industrie zum Kernprojekt der nächsten Legislaturperiode macht«, sagt deshalb bei den FairWandel-Demonstrationen Knut Giesler, Bezirksleiter der IG Metall NRW.

Die größte Herausforderung sieht Jürgen Kerner, Hauptkassierer der IG Metall in Nordrhein-Westfalen, in den Klimaschutzauflagen. »In den nächsten Monaten entscheidet sich die Zukunft der Arbeitsplätze in der Stahlindustrie.« Die Arbeitnehmer seien bereit, die Herausforderungen anzunehmen und ihren Beitrag für das Projekt einer klimaneutralen Stahlproduktion zu leisten. Doch dafür müssten Rahmenbedingungen geschaffen werden. »Deutschland muss Indus­trieland und damit Stahlland bleiben – mit zukunftsfähigen Arbeitsplätzen«, fordert Kerner. »Dazu muss sich die künftige Bundesregierung eindeutig bekennen und in den ersten 100 Tagen konkret handeln.«

Tragfähige Perspektive für zukunftsfähige Beschäftigung

Die FairWandel-Demonstrationen zeigen, dass die künftige Bundesregierung aus Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen die Menschen mitnehmen und unterstützen muss, wenn sie Deutschland erfolgreich in eine digitale, klimaneutrale Zukunft führen will. Bislang herrscht bei zahlreichen Beschäftigten Furcht vor einer neuen Wirtschaftswelt, in der Roboter zunehmend Menschen ersetzen und Maßnahmen gegen den Klimawandel oberste Priorität genießen sollen. Nicht wenige Arbeitnehmer sorgen sich, sie könnten sich am Ende auf der Straße wiederfinden. »Allein in Nordrhein-Westfalen sind 200.000 Arbeitsplätze durch die Transformation gefährdet«, sagt Gewerkschafts-Bezirksleiter Giesler. »Es braucht eine tragfähige Perspektive für zukunftsfähige Beschäftigung.«

Besonders stark betroffenen von der Transformation ist neben dem Maschinen- und Anlagebau der zweite Bizeps der deutschen Wirtschaft, die Automobilindustrie. Bereits die erste von Angela Merkel geführte Bundesregierung hat mit dem im Jahr 2007 verabschiedeten »Integrierten Energie- und Klimaprogramm« den Grundstein gelegt für das Ende der Verbrennungsmotoren. »Elektrische Fahrzeugantriebe bieten mittel- und langfristig die größten Potenziale zur Reduktion der verkehrsbedingten CO2-Emissionen sowie der Importabhängigkeit von Erdöl«, heißt es darin. Deshalb habe sich die Bundesregierung »zum Ziel gesetzt, ihre Anstrengungen zu bündeln und zu erhöhen, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands bei dieser Zukunftstechnologie zu stärken, die Marktentwicklung zu beschleunigen und – ähnlich wie beispielsweise in Japan und den USA – dafür eine langfristige und koordinierte Forschungs- und Entwicklungsförderung zu ermöglichen«.

Seither sind beinahe von Jahr zu Jahr höhere Millionenbeträge für die Entwicklung leistungsfähigerer Akkus, den Ausbau der Ladeinfrastruktur und für Kaufprämien an die Erwerber von Stromern aus dem Bundeshaushalt aufgewendet worden. Zu Beginn dieses Jahres addiert sich die seit 2009 eingesetzte Summe nach Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums auf »rund drei Milliarden Euro«. Allein in der ersten Hälfte dieses Jahres erhielten mehr als 258.000 Käufer von Plug-in-Hybriden und Elektromobilen aus Steuereinnahmen finanzierte Förderungen zwischen 3.750 Euro und 6.000 Euro.

Elektromobilität reduziert Arbeitskräfte

Elektromobile bieten den Vorteil, dass sie während der Fahrt keine Schadstoffe ausstoßen. Damit leisten sie einen massiven Beitrag zur Reinhaltung der Luft in Wohngebieten. Ob jedoch Stromer Kohlendioxidemissionen reduzieren, hängt allein davon ab, auf welche Weise der zu ihrem Antrieb genutzte Strom erzeugt wird. Stammt der aus Kohle- oder Gaskraftwerken, wird das bei der Verfeuerung fossiler Brennstoffe entstehende Treibhausgas nur an anderer Stelle freigesetzt.

Was Elektromobile jedoch in jedem Fall langfristig reduzieren werden, ist die Zahl der Beschäftigten in der Automobilindustrie. Während Benzin- und Dieselmotoren aus mindestens 1.200 Teilen besteht, die exakt zusammengesetzt werden müssen, bestehen Elektromotoren aus lediglich 200 einzelnen Komponenten. Und: Elektromobile benötigen im Gegensatz zu Verbrennern kein Getriebe. Damit sind bei der Produktion von Stromern deutlich weniger Mitarbeiter nötig als bei der Herstellung von Verbrennern.

Nach einer Studie von Wissenschaftlern der von der Großen Koalition 2018 eingesetzten NPM »Nationale Plattform Zukunft der Mobilität« könnten durch die Umstellung auf die E-Mobilität bis zum Jahr 2030 bis zu 410.000 Arbeitsplätze in der Automobilindustrie obsolet werden. Angesichts von derzeit rund 833.000 Beschäftigten in Fahrzeug-, Motoren- und Getriebewerken zwischen München und Stuttgart im Süden, Bremen und Wolfsburg im Norden, Köln im Westen und Eisenach im Osten entspräche dies einem Verlust von beinahe jedem zweiten Arbeitsplatz in der Branche.

Zu einem ähnlichen Resultat kommt eine Studie des Münchner Ifo-Instituts im Auftrag des Verbands der Automobilindustrie (VDA). Danach würden bereits bis zum Jahr 2025 rund 178.000 Stellen in der deutschen Wirtschaft durch den bis dahin erwarteten Zuwachs in der Elektromobilität überflüssig werden. 137.000 davon direkt in der Automobilfertigung. Die übrigen 41.000 Stellen bei Raffinerien, Tankstellen und Werkstätten. Zwar gehen in den kommenden vier Jahren ohnehin rund 116.000 dieser Beschäftigten in den Ruhestand. Damit verbleiben jedoch 62.000 jüngere Menschen, deren Arbeitsplatz binnen vier Jahren existenziell bedroht erscheint. Das sind immerhin 7,4 Prozent der heute in der Automobilwirtschaft Beschäftigten.

Muss der Einzelhandel in Wolfsburg bangen?

Ein solcher personeller Aderlass dürfte kaum ohne Konsequenzen für den Einzelhandel in den Automobilstandorten bleiben. Insbesondere in Wolfsburg nicht, dem Hauptsitz des Volkswagenkonzerns, der mehr als 50.000 Menschen in der Region Arbeit gibt. Im Zukunftsatlas des Prognos-Instituts belegt die 123.840 Einwohner zählende Stadt Rang Fünf unter den 402 Landkreisen und kreisenfreien Städten Deutschlands – und zählt damit zu Regionen mit »Top-Zukunftschancen«.

Wird sich das ändern, wenn der VW-Konzern wie angekündigt von 2033 an keine Verbrenner mehr produzieren wird? Vorstandschef Herbert Diess hat diesen Herbst mehrere Szenarien zur Zukunft von Volkswagen durchrechnen lassen. Im Extremfall müssten danach in den kommenden Jahren 30.000 Arbeitsplätze gestrichen werden, sollte VW bei der Transformation zur Elektromobilität nicht mit Mitbewerbern aus China, Südkorea, Japan und dem US-Stromerproduzenten Tesla mithalten können.

Diess wird daraufhin prompt vom Land Niedersachsen, das 20,2 Prozent der Anteile hält, und anderen Aufsichtsräten eingefangen. Im November verkündet der Konzernchef, VW sei »ein soziales Unternehmen«. Kein Beschäftigter müsse Angst haben: »Wir haben eine Arbeitsplatzsicherung bis 2029 ausgesprochen«, sagt Diess.

Wie die Wolfsburger gehen auch andere deutsche Unternehmen die Transformation zurückhaltend und damit sozialverträglich an. Das zeigt eine Studie der staatlichen Förderbank KfW. Die Horrorprognosen der Vergangenheit über einen massiven Stellenabbau bei Mittelstand und Konzernen hätten sich nicht erfüllt, sagt deren Ökonom Martin Müller. »Obwohl die Digitalisierung weit vorangeschritten ist, steigt die Erwerbstätigkeit von Rekord zu Rekord.«

Wirtschaft so stabil wie in den 1970er Jahren

Auch eine Beschleunigung des Strukturwandels, die Arbeitsplätze immer unsicherer mache und von den Beschäftigten immer schnellere Anpassungen erfordere, lasse sich für die Gesamtwirtschaft kaum nachweisen. »Der sektorale Strukturwandel hat sich in den vergangenen zehn Jahren weiter verlangsamt, die Wirtschaftsstruktur ist so stabil wie noch nie seit den 1970er Jahren«, sagt Müller. »Das hat ein hohes Maß an Arbeitsplatzsicherheit geschaffen – nicht für jeden, aber für den Großteil der Erwerbstätigen.«

Das bedeute jedoch nicht, dass Arbeitnehmer davon ausgehen sollten, bis zum Rentenbeginn ihrer heutigen Beschäftigung nachgehen zu können. »Durch die Automatisierung relativ einfacher Tätigkeiten lässt Digitalisierung anspruchsvollere Arbeitsplätze entstehen«, sagt Müller. »Der erhöhte Qualifizierungsbedarf wird voraussichtlich bestehen bleiben.« Jedoch hätten private und betriebliche Weiterbildung in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Viele Arbeitnehmer seien bereit, sich auf den Wandel einzustellen.

Zudem dürften längst nicht alle theoretischen Möglichkeiten, die die Digitalisierung erlaube, Realität werden. »Schon mit heutiger Technik wären Restaurants möglich, in denen der Gast sich an einen Tisch setzt, an einem elektronischen Pult sein Menü auswählt, mit Karte bezahlt und wartet, bis ein Roboter ihm maschinell gekochtes Essen vorsetzt«, sagt Müller. Allerdings sei nicht anzunehmen, dass ein solches Restaurant viele Gäste gewinnen würde, sagt der Ökonom. »Damit digitale Innovationen sich durchsetzen, müssen Menschen sie akzeptieren.«

Dabei gebe es auch kulturelle Unterschiede: »In britischen Supermärkten werden schon seit 15 Jahren Kassenautomaten eingesetzt, heute sind sie dort die Regel«, sagt Müller. »In Deutschland dagegen nicht.« Das liege schlichtweg daran, dass Deutsche relativ häufig mit Bargeld bezahlen, sagt der Ökonom. »Das macht den Einsatz von Kassenautomaten teurer.«  


Ein Beitrag von
Hubertus Siegfried,
freier Journalist