Kraftquellen in Krisenzeiten

Glas halb leer oder halb voll?
Glas halb leer oder halb voll? Privat alles cool, aber draußen herrscht Endzeitstimmung. © Ollyy – shutterstock.com

Aktuelles
Optimismus

Susanne Müller

„Deutschland auf der Flucht vor der Wirklichkeit“ ist eine aktuelle Studie des rheingold Instituts betitelt. Auf tiefenpsychologischer Ebene beleuchten die Experten die Befindlichkeiten des Volkes in einer Zeit voller Wirren. Ergebnis: Zwei Drittel misstrauen der Politik und suchen Ausgleich im Privatleben. Wo ist noch Raum für Optimismus? Der Gründer des Kölner Markt- und Medieninstitutes, Psychologe Stephan Grünewald, weiß Antworten.

Ein Großteil der Bevölkerung ist derzeit desillusioniert und – gelinde gesagt – verunsichert. „Draußen herrscht eine Art Endzeitstimmung“, beschreibt der Experte die Lage im Land. „Im Zuge der multiplen Krisen haben sich die Menschen in ihr privates Schneckenhaus zurückgezogen. Sie befinden sich in einer Verdrängungsphase und versuchen mit aller Macht, äußere Angstfaktoren auszublenden.“ Schuld an dieser Massenflucht vor der Wirklichkeit sind maßgeblich die großen Schrecknisse Corona, Klimawandel und Ukraine-Krieg – die Leute kamen sozusagen vom Regen in die Traufe und sind aufgrund der Weltlage inzwischen dauerbedrückt.

Einigeln im Privaten

Im Privatbereich sieht das hingegen völlig anders aus. Laut rheingold-Studie fühlen sich dort 87 Prozent der befragten 18- bis 65-Jährigen pudelwohl und glücklich: „Sie genießen es, einfach ihre Ruhe zu haben.“ Aber sickert die Außenwelt durch moderne Kommunikationskanäle nicht doch ins Refugium ein? „Tatsächlich hat sich das Medienverhalten mittlerweile gewandelt“, weiß Stephan Grünewald. „Die Leute konsumieren weniger Nachrichten und meiden einschlägige Internetplattformen. Stattdessen schauen sie lieber Netflix, weil sie auf diesem Kanal unbehelligt von News und Horrormeldungen sind. Dort läuft nicht einmal Werbung – ans Kochen und ähnliche alltägliche Verrichtungen werden sie also auch nicht erinnert und können komplett abschalten.“

Drei Kraftquellen

Die perfekte Abschottung also. Stephan Grünewald erklärt, wie sich das in der Praxis zeigt. „Zurzeit ist eine fast narzisstische Selbstbespiegelung zu beobachten. Die Menschen schöpfen aus drei Kraftquellen: zum einen das selbstbezügliche Ego mit der eigenen Person als Dreh- und Angelpunkt. Genährt wird das Ich zum Beispiel durch Sport oder Meditation. Eine weitere Rolle spielt die Wohnung als Wohlfühloase – diese wird dann verschönert und behaglich gestaltet. Und die dritte Komponente sind soziale Bollwerke. Das bedeutet, die Leute bewegen sich ausschließlich unter ihresgleichen, pflegen eine Art Wagenburgmentalität.“ Im Prinzip bewertet der Experte diese Verhaltensmuster positiv, tragen sie doch zumindest vordergründig zur Stärkung des Selbstvertrauens bei.

Ressourcen bleiben ungenutzt

Immer nur im kleinen Kreis zu zirkulieren und die Kräfte dort zu bündeln, berge dennoch eine gewisse Gefahr, ist Stephan Grünewald überzeugt: „Demokratie lebt von Kompromissen, Austausch und Auseinandersetzungen. Wer sich einigelt oder ausschließlich mit gleich Denkenden umgibt, nimmt sich diese Möglichkeiten.“ Zwar sei ein solches Verhalten psychologisch nachvollziehbar und ein Versuch, sich Unglück vom Leib zu halten. „Doch langfristig gesehen ist es problematisch: Abschottung führt letztendlich zu Weltfremdheit. Betroffene Menschen sind nicht mehr imstande zum Perspektivenwechsel, lassen Ressourcen ungenutzt und können nicht mit Problemen umgehen.“

Hadern mit der Politik

Ein diffiziler Zwiespalt, der die Gesellschaft umtreibt. Erschwerend kommt hinzu, dass die Politik wenig Anlass zum Durchatmen gibt. Die Ampelregierung sei derzeit kein gutes Role Model, meint Stephan Grünewald: „Sie lebt Zwietracht und Zank vor.“ Laut Studie vertrauen aktuell nur 34 Prozent der Regierung. Das sei zwar noch kein völliger Abgesang auf die Demokratie, denn 83 Prozent erachten diese auch in politisch herausfordernden Zeiten nach wie vor als beste Lösung. Doch die Kluft zwischen der wahrgenommenen Leistungsfähigkeit amtierender Politiker und dem, was die Bevölkerung als politisch notwendig erachtet, sei immens. Stephan Grünewald analysiert: „In einer Ära großer multipler Krisen steckt die Politik ein Stückweit im Machbarkeitsdilemma. Die Bürger erwarten, dass Politiker sie von ihrem ganzen Ballast befreien, und suchen obendrein einen Sündenbock. Andere pflegen den Glauben an die rettende Technologie oder an die nachfolgende Generation. All das sind Varianten einer Erlösungshoffnung.“

Spielarten des Optimismus

Und trotzdem ist das positive Denken nicht verloren gegangen. Stephan Grünewald unterscheidet verschiedene Spielarten: „Gesunder Optimismus sieht die Probleme, erkennt aber auch die Chancen und bringt beides in Balance. Blinder Optimismus registriert zwar die Chancen, negiert aber die Probleme. Last but not least gibt’s den primären Optimismus, der die Chancen zu hoch wertet – frei nach dem US-Motto ‚Yes we can‘ – und dabei Gefahr läuft, etwas zu übersehen.“ Ausgewogenheit ist also die Glücksformel. Die Deutschen scheinen in diesem Punkt noch nachbessern zu müssen. „Bei uns dominiert der sekundäre Optimismus“, so Stephan Grünewald. Wir beschäftigen uns sehr lange mit den Problemen, haben dadurch eine hohe Kenntnis, packen sie Sachen aber nicht wirklich an.“

Etappenziele können helfen

Eine Lösung könne von der Politik kommen: „Die Ampelregierung sorgt im Moment eher für Orientierungslosigkeit. Gefühlt befinden sich die Menschen nicht in einer Zeitenwende, sondern in einer Nachspielzeit. Hier muss die Politik ein visionäres Vakuum schließen und Etappenziele formulieren.“ Was er damit meint? „Im Winter galt es zum Beispiel, ein Blackout zu vermeiden. Alle haben mitgemacht und fleißig Energie gespart. Das überflutete Ahrtal ist ein weiteres Beispiel, als zahllose Helfer gemeinsam die Ärmel hochgekrempelt haben. Die Beteiligung an solchen Maßnahmen trägt Selbstwirksamkeit in sich: Menschen fühlen sich weniger ausgeliefert, verlassen ihre Komfortzone, agieren miteinander und haben Erfolgserlebnisse. Das fördert den Zusammenhalt und pusht optimistische Denkweisen.“

Susanne Müller