Krisenbewältigung hatten wir verlernt

Klaus Striebich
Klaus Striebich © RaRE advise

Interview
Dranbleiben

Petra Steinke

Zehn Jahre lang lief die Wirtschaft wie geölt. Dadurch hat sich auch der Blick für schon länger anstehende Veränderungen getrübt. Dann kam die Corona-Pandemie und hat alles verändert. Was das für die Zukunft unserer Innenstädte bedeutet, weiß der Retail-Experte Klaus Striebich

Herr Striebich, wir befinden uns immer noch mitten in der Pandemie. Wo stehen wir heute mit Blick auf die Handelslandschaft?
Klaus Striebich: Wir stehen vor einem dramatischen Shake-Out. Viele Marktteilnehmer werden wahrscheinlich in kurzer Zeit verschwinden, aus emotionalen oder psychologischen Gründen oder weil sie die pandemische Situation wirtschaftlich nicht überleben können. Die größte Gruppe sind Händler, betroffen sind aber auch andere Marktteilnehmer. Daneben gibt es aber auch positive Entwicklungen, gerade im Handel. Nehmen sie Click & Meet, Click & Collect und andere Konzepte. Man sieht sehr viele gute Ideen und sehr viel Engagement, sehr viel Ärmelhochkrempeln. Viele Unternehmen haben einen starken Lebenswillen und sind in der Lage zu adaptieren. Es gibt einfache Lösungen, um den Kundenkontakt aufrecht zu erhalten und wenigstens ein bisschen Ertrag zu erwirtschaften. Zu warten, bis das Geld vom Staat kommt, das kann böse ausgehen.

Schlägt jetzt die große Stunde der kleinen Händler, die an ihren Standorten bestens vernetzt sind und durch individuellen Service punkten können?
Es ist ein Systemthema. Große Anbieter sind prozessorientiert und müssen sich Konzepte überlegen, die überall gleichermaßen funktionieren. Das ist in der aktuellen Situation problematisch. Man kann schnell Gefangener seines Systems werden. Es zeigt sich jetzt, dass beide, Systemanbieter und Individualisten, ihre Berechtigung haben. Ich habe Verständnis dafür, dass ein Systemanbieter nicht für jeden Standort individuelle Lösungen anbieten kann. Er hat aber andere Möglichkeiten, um auf die Krise zu reagieren, etwa über Online-Aktivitäten und Cross-Channeling oder die intensive Nutzung sozialer Medien. Ich habe aber auch große Händler gesehen, die sehr flexibel auf die Lage reagieren, auch individuell bezogen auf ihre Standorte. Sie haben aus dem Problem eine Chance gemacht.

Warum werden im Einzelhandel viele Marktteilnehmer verschwinden?
Die Ausgangslage vor der Pandemie war ein überhitzter Markt. Wir kommen aus einer Zeit der Glückseligkeit. Es gab zehn Jahre lang keine wirtschaftliche Krise. Das war vorher anders, es gab immer ein Problem, nehmen Sie allein die Dotcom-Blase. Seit der Finanzkrise 2009 haben wir nichts anderes gesehen, außer dass es steil nach oben ging. Krisenbewältigung hatten wir verlernt. Die Blase, die sich in diesen Jahren gebildet hat, hat sich jetzt aufgelöst. Das ist unbequem und unpopulär. Aber es ist so.

Warum konnte sich die Blase überhaupt so aufbauen?
Die Flächen sind in den letzten Jahren massiv gewachsen, es hat eine unsägliche Expansion gegeben. Das sagt jemand, der das selber mit produziert hat. Es sind nicht nur Center entstanden, sondern extrem viel mehr. Enormes Flächenwachstum der Discounter, jede Menge Fachmarktzentren, 1B-Lagen in den Innenstädten, die plötzlich eine Daseinsberechtigung hatten – all das schmilzt jetzt wieder ab. Das Problem ist, dass wir von einem hohen Niveau kommen und uns jetzt wieder auf einem normalen einpendeln müssen. Das tut vielen weh, aber der Prozess muss stattfinden.

Dieser Prozess hätte aber ohnehin stattgefunden. Er wird durch Corona beschleunigt …
Ja. Aber es gibt ein Beharrungsvermögen in der Immobilienbranche und im stationären Einzelhandel. Das hat im Grunde triviale Gründe. Die Stakeholder – Vermieter und Banken – sind in ihrer Umsetzung sehr, sehr langsam. Sie haben langfristige Verträge, die sie nicht zwischendurch »anfassen« wollen. Dass so ein Vertrag unter Umständen relativ wenig Wert hat, sieht man jetzt. Denn wenn der Partner, mit dem man einen Vertrag hat, platt ist, dann ist auch der Vertrag wertlos. Eine Erkenntnis aus der Pandemie ist, dass solche langfristigen Verträge eigentlich Unsinn sind. Das führt relativ schnell zur Frage, was die richtigen Vertragslaufzeiten sind.

Im Immobilienmarkt ist bereits jetzt spürbar, dass es deutlich mehr Flexibilität gibt…
Das ist auch gut so. Denn die beiden Faktoren Standortsicherung und Standortrisiko befinden sich nicht mehr im Gleichgewicht. Vor dreißig Jahren war Standortsicherung ein Riesenthema. Der Händler als Mieter wollte seine Standorte sichern. Es gab nicht genug Angebot an Flächen, also wurden langfristige Mietverträge abgeschlossen. Irgendwann kam der Zeitpunkt, an dem das kippte. Dann war so viel Angebot und Wettbewerb vorhanden, dass das Standortrisiko größer wurde. Diese Äquivalenz von Risiko und Sicherung stellt sich gerade wieder ein. Gerade internationale Händler haben häufig ihren Vermietern sig­nalisiert: »Ich nehme deine Fläche, aber zu meinen Bedingungen und nach meinen Regeln«, indem sie beispielsweise ein permanentes Sonderkündigungsrecht in ihre Verträge einbauten. Das finde ich allein vom Wortlaut her schon schwierig. Wo ein Risiko ist, muss auch eine Sicherungsmöglichkeit sein. Das kann man regeln, man muss aber fair bleiben. Es gilt, den positiven Einsatz abzusichern, aber auch den negativen. Den negativen muss der Händler für sich abgesichert wissen, wenn es mal schlecht läuft, damit er eine Chance hat nachzujustieren, also zu verkleinern, zu verändern oder auch aufzulösen. Und nach oben muss es die Chance für den Eigentümer geben, ebenfalls zu partizipieren.

›Leerstand kann nur dann passieren, wenn es wirklich keine andere Alternative gibt!‹

Haben kleinere Händler im Vergleich zu großen Filialisten hier eine Chance?
In Deutschland gibt es durchaus Privateigentümer, die sagen: »Ich möchte, dass die Immobilie, die mein Vater mir vererbt hat oder die ich abbezahlt habe, in guten Händen ist.« Man wird vielleicht nicht unbedingt auf Filialisten springen, denn die haben in der Corona-Krise ein relativ schlechtes Bild abgegeben. Einige Große haben nicht nur mit Vermietern verhandelt, weil es ihnen so schlecht geht, sondern weil sie ihre Marktmacht missbraucht haben. Das nimmt man ihnen teilweise übel.

Es gibt aber auch Vermieter, die gegenüber dem Handel sehr unbeweglich waren und sind.
Die Phalanx der Unbeweglichen bricht langsam auf. Problematisch ist die derzeitige Diskussion darüber, dass die Pandemie eine Veränderung der Geschäftsgrundlage sei und man das Recht auf Anpassung habe. Das war auf der einen Seite gut und auf der anderen schlecht, weil nirgendwo geschrieben stand, wie man das macht. Darf man Miete reduzieren? Vielleicht sogar den Vertrag kündigen? Wir müssen warten, bis das Ganze zum BGH hochrollt – und das dauert bis zu fünf Jahre. Bis dahin wird es viel Unbill geben. Ich empfehle Händlern, ihr Wissen gegen das Wissen der Eigentümer zu stellen und im Zweifel hart zu argumentieren. Man sollte nicht so tun, als sei alles Friede, Freude, Eierkuchen. Das ist es nämlich nicht.

Adidas und Deichmann haben im ersten Lockdown Mietzahlungen ausgesetzt beziehungsweise reduziert. Dafür gab es viel Kritik. Berechtigt?
Jein. Adidas ist den Schritt ohne Vorankündigung gegangen, das war ein bisschen zu hart, und dafür wurde das Unternehmen dann auch sehr geprügelt und musste zurückrudern. Deichmann hat es anders gemacht und wurde zu Unrecht abgestraft. Damals hat man einen Lockdown von sechs Wochen erwartet. Heute denkt man anders darüber: Der Mieter muss verlangen dürfen, dass man ihm auf Augenhöhe begegnet, dass er Gehör findet. Und dass man Offenheit zeigt für Argumente und Hintergründe.

Ist die Umsatzmiete ein Modell für die Zukunft?
Ich möchte mich nicht allein auf dieses Modell konzentrieren. Das wäre zu kurz gesprungen. Ich bevorzuge Risk-Share-Modelle. Das kann ein gutes Umsatzmieten-Modell sein. Aber es gehört mehr dazu. Damit kommen wir zu einem Systemproblem: Der Händler muss tagesaktuell arbeiten und entscheiden. Der Vermieter arbeitet ausschließlich langfristig orientiert. Hier kommen die Banken ins Spiel: Der Vermieter hat das Objekt gebaut und eine Abschreibungsdauer von in der Regel 50 Jahren. Verpflichtet ist er gegenüber seinen Banken. Gelänge es, den Stakeholder Finanzmarkt flexibler zu gestalten, wäre vieles einfacher.

Wie könnte das funktionieren?
Die Immobilienwirtschaft arbeitet auf einem hohen Multiplikator- und Fremdfinanzierungs-Leverage. Das heißt: Man kann mit relativ wenig Geld große Finanzvolumina stemmen, weil man zur Bank geht, sich das Geld holt und der Kick darin liegt, dass der Finanz-Zins von der Bank kleiner ist als die Rendite aus dem Objekt heraus. Das ist zum Exzess getrieben worden. Objekte waren bis zu 95 Prozent fremdfinanziert. Der Hebeldruck war also massiv. Die Sorge ist, dass, wenn ein Mietvertrag ausläuft, die Miete sinkt, dadurch die Bewertung ebenfalls sinkt und die Banken Rückforderungen stellen, weil das Objekt weniger wert ist als ihr Darlehen. Der Vermieter ist also gefordert, seine Einnahmen möglichst hoch zu halten und nicht nachzugeben. Das System krankt an dieser Hochhebelung. Damit haben viele Leute viel Geld verdient. Aber es gibt einen in der Nahrungskette, der damit ein Problem hat. Und das ist der Nutzer. Es gibt Eigentümer, die sich vernünftig finanzieren, die mit ihren Banken klare Verabredungen haben und die nicht zu hoch geleveraged haben. Sie wollen lieber einen nachhaltigen Wert als einmal schnell das Geld verdienen. Der eigentliche Kick in der Immobilienbranche war: Wir jubeln es hoch, verkaufen es dann und kassieren den so genannten Developer Profit ab. Diese Unart müsste gestoppt werden. Und sie wird auch gestoppt – durch Risk Share-Modelle.

Folgt auf die Corona-Krise eine Krise oder gar der Zusammenbruch des Immobiliensektors?
So würde ich das nicht bezeichnen. Es ist eher eine Justierung. Viel Ungesundes wird verschwinden. Das wird aber nicht zu einem Zusammenbruch führen. Das Ungesunde wird jetzt auf die harte Tour vom Markt wegradiert. Braucht man in einer 1C-Lage nochmal eine Handelsergänzung, wenn doch genug da ist? Es kann bis heute keiner erklären, warum auf der Neuhauser Straße in München 350 Euro pro Quadratmeter Miete zu bezahlen sind. Das ist betriebswirtschaftlich völliger Unsinn. Dabei ging es um nichts anderes als darum, Angebot und Nachfrage hochzutreiben. Und es ist auch immer ein Dummer aufgestanden, der unterschrieben hat.

In Zusammenhang mit einem befürchteten Händlersterben kursieren Horrorszenarien von Leerständen in weiten Teilen unserer Städte. Wird das so kommen?
Nein. Diese Horrorvisionen von schlimmen Leerständen werden meist von den Menschen prognostiziert, die nicht bereit sind, etwas zu verändern und anzupassen. Leerstand kann nur dann passieren, wenn es wirklich keine andere Alternative gibt. Es gibt Nachfrage nach Fläche. Diese hat nur einen anderen Preis. Wenn man in einer Fußgängerzone von 200 Metern Länge über 50 Meter Leerstände hat, weil keiner die Miete von 150 Euro bezahlen kann – dann wird das Szenario Realität. Aber dann muss man sich überlegen, welche anderen Nutzungen dort sinnvollerweise stattfinden könnten. Eins ist immer besser als Null. Man kann aus einer Einzelhandelsimmobilie eine Gewerbeimmobilie machen oder ein Hotel, vielleicht ein Bürogebäude oder ein Mischkonzept, das auch Wohnen einschließt. Die Miete liegt dann nicht mehr bei 150 Euro, sondern vielleicht bei 50 oder 20. Das ist immer noch besser als nichts.

Ist für Investitionen in solche neuen Nutzungskonzepte Geld da?
Das kommt darauf an, wie man denkt und rechnet. Wenn eine Immobilie nichts erzielt, ist sie nichts wert. Hier kommt im Übrigen ein weiterer Stakeholder ins Spiel, das sind die Bewerter. Es gibt zwei Systeme, den Sachwert und den Ertragswert. Heute wird meist der Ertragswert gewählt. Wenn dieser Null ist, ist das Objekt nichts wert. Es ist ein Grundstück mit Steinen drauf. Wenn ich Null habe und Wohnungen bauen möchte, muss ich diese durch die Wohnungsmieten finanzieren. Man braucht also clevere Konzepte. Es kann Leute geben, die eine Immobilie im Zweifel lieber leer stehen lassen, weil sie darauf spekulieren, dass die Phase schlechter Entwicklung irgendwann überstanden ist. In einem solchen Fall nützt es leider auch nichts, wenn eine Stadt Briefe schreibt.

Was können Kommunen tun, um das zu verhindern?
Es gibt Kommunen, die sich in diesem Bereich sehr einsetzen. Sie versuchen beispielsweise, solche Immobilien zumindest teilweise zu übernehmen und Sanierungsgebiete auszuweisen. Viele dieser Methoden sind stumpfe Schwerter. Ich finde es aber wichtig, dass Städte es trotzdem versuchen. Sie haben Möglichkeiten, weil sie Genehmigungsbehörden sind. Jeder Eigentümer braucht die Stadt irgendwann zu einem Thema. Das kann sie dann im positiven Sinne einsetzen. Man muss aber manchmal auch Kante zeigen.

Verfügen die Kommunen über ausreichend Kompetenz?
Man kann nicht erwarten, dass diese Kompetenz in der Wirtschaftsförderung und in den Liegenschaftsämtern von Kom­munen vorhanden ist. Die haben andere Themen zu lösen. Ich würde den Städten empfehlen, sich die Kompetenz reinzuholen und damit das Verständnis zu entwickeln. Eine Kommune muss zumindest über die Hintergründe und Mechanismen aufgeklärt werden.

Zu den ungesunden Entwicklungen der letzten Jahrzehnte gehört auch eine massive Expansion bei Shopping Centern. Viele haben keine Berechtigung mehr. Was soll mit ihnen geschehen?
Es gibt nur eine Handvoll Center, die der Markt wirklich nicht mehr braucht, die vielleicht abgerissen und einer anderen Bodennutzung zugeführt werden können – bis hin zum Kartoffelacker. Die anderen werden adaptieren und adjustieren müssen. Das geschieht auch. Dabei geht es um Konzepte, die Retail ersetzen können. Das hat übrigens schon vor der Pandemie begonnen, zum Beispiel mit Blick auf Food Courts, also Gastronomie. Man wird zudem stärker über Entertainment und Freizeit reden. Das beste Beispiel ist das Shopping Center Gerber in Stuttgart. Das hat drei Etagen; die dritte wird nun in ein Hotel umgebaut. Das ist der Rückschwung, den ich meine. Ein Hotel ist sinnvoll dort. Man hat also eine Nutzungsform gefunden, die Rentabilität mit sich bringt. Und das stärkt wiederum den Rest. Es ist ein Einschnitt, der Schmerzen verursacht, aber zur Gesundung beiträgt.

Welche Bedeutung kommt dem klassischen Warenhaus zu? Und hat es in Zukunft noch eine Berechtigung?
Man kann lange darüber diskutieren, ob es Sinn macht, 460 Millionen Euro für einen Warenhauskonzern auszugeben oder nicht: Galeria Karstadt Kaufhof (GKK) hat eine Funktion. Ob man ihn mag oder nicht, spielt keine Rolle. Es gibt viele Menschen, die ihn als Anlaufstelle sehen.

›Es gibt eine hohe Akzeptanz des lokalen Einzelhandels, der sehr gestützt und anerkannt wird.‹

Ist das wirklich immer noch so?
Ja. Die Häuser haben nach wie vor Frequenz, weil sie Horte der Sicherheit sind. Es geht dabei eher um Bedarfsbefriedigung. Wenn man etwas braucht, weiß man, bei Galeria Karstadt Kaufhof findet man das. Was ein Warenhauskonzern nicht kann, ist Spezialisierung oder Individualisierung. Deshalb ist GKK auch angeschlagen. Einzelhandel ist nicht nur dazu da, das, was ich gerade brauche, bereitzustellen. Er hat mittlerweile eine weitreichendere Funktion. Ich glaube, GKK wird nicht mehr die dominierende Rolle im Markt spielen, aber er wird eine Rolle haben. Im Moment wäre es gut, wenn die Städte ein solches Warenhaus erhalten könnten, weil eine Mittel- oder Kleinstadt ein Problem hätte, wenn es weg wäre.

Wie werden sich Einzelhandelsstrukturen in unseren Städten verändern?
Die Bedürfnisse der Menschen werden anspruchsvoller. Man möchte nicht mehr nur Tüten packen und raustragen, sondern individuellere Themen, personalisierte Angebote. Individualisierte Produkte kann man online anbieten – das ist aber auch die Aufgabe des stationären Einzelhandels. Daher haben gerade kleinere Anbieter eine große Chance. Ein weiterer Aspekt ist das Thema Nachhaltigkeit. Es führt zu einer der größten Verhaltensänderungen, die man derzeit erkennen kann. Und schließlich der Aspekt Community. Das, was wir derzeit am meisten vermissen, ist das menschliche Mitei­nander.

Um in eine größere Kommune mit besserem – auch individuellerem – Angebot zu fahren, muss man mobil sein. Was machen die Menschen, die nicht mobil sind?
Ich sehe Chancen für sogenannte Smartstores. Die arbeiten auf digitaler Basis und fahren auch in die Regionen. Dorfläden werden wieder entstehen, auf sozialer Basis oder auf Community-Basis. Das sind keine Riesenkonzepte. Aber es wird sich einiges entwickeln.

Sie klingen, was die Zukunft der Einzelhandelslandschaft betrifft, durchaus optimistisch.
Ja, natürlich. Man kann zwar pessimistisch sein, wenn man sieht, was schon vom Markt verschwunden ist – und was noch verschwinden wird. Viel Substanz ist weg, gerade im Handel. Aber wo es ein Problem gibt, gibt es auch eine Lösung. Die Frage ist nur, wie schnell man auf die Situation reagieren kann – und ob man richtig reagiert. Ob man der Gewinner oder der Verlierer ist. So ist das im Balance-Spiel. Man geht natürlich nicht finanziell und wirtschaftlich gestärkt aus einer pandemischen Situation, aber man geht vielleicht geistig oder inhaltlich gestärkt heraus, weil man weiß, was zu tun ist. Zu wissen, was man tun will, oder besser noch, was man nicht tun will, ist vielleicht die wichtigste Erkenntnis.

Was würden Sie einem Schuhfilialisten raten, der mit monatelangem Lockdown kämpft, für den Click & Meet keine nachhaltige Lösung ist und der Angst um das Fortbestehen hat?
Er sollte darüber nachdenken, ob er wirklich Schuhe verkauft hat oder die Möglichkeit, die Füße zu schützen. War er nur eine Verteilstation für Schuhe vom Produzenten zum Kunden, oder hat er etwas anderes verkauft? Er könnte vielleicht mehr tun, als nur die Verteilfunktion anzubieten. Ich kenne einen Händler, der vor Kurzem ein internes Projekt gestartet hat. Thema: Die Pandemie dauert unendlich lange. Er wollte von seinem Team ausgearbeitet bekommen, was zu tun ist, sollte die Pandemie nicht in ein paar Monaten enden. Das ist vielleicht weit hergeholt, kann aber wichtige Erkenntnisse bringen. Ein Schuhhändler sollte sich seiner Risiken bewusst sein. Da gehört das Thema Standort dazu, aber auch Personal, Sourcing, Standortsicherung. Das wird dazu führen, dass sich viele Vermieter mit den Problemen ihrer Nutzer beschäftigen müssen. Das ist vorher nie passiert. Dem Eigentümer war meist egal, wer der Nutzer ist. In jeder anderen Geschäftsbeziehung gibt es einen permanenten Austausch und Adjustierungsnotwendigkeit. Das gab es bis dato in der Immobilienwirtschaft nicht.

Welche Rolle können Verbundgruppen spielen?
Sie können eine sehr aktive Rolle spielen. Eine Strategiediskussion kann ein Einzelner kaum leisten. Er braucht jemanden, der mitwirkt, auch um skalieren zu können. Versicherungen, Dienstleistungen, Wissen über Standortsicherung – es gibt vieles, was eine Verbundgruppe unterstützend leisten kann. Das ist nichts anderes als Arbeitsteilung. So sind Konzerne groß geworden. Beim einzelnen Händler ist das genau andersherum. Er ist Generalist. Deshalb muss die Verbundgruppe die Arbeitsteilung bieten, die er braucht, um sein Geschäft zu führen. Sie spielt damit in Zukunft eine sehr wichtige Rolle für den Händler – jenseits der Ware. Denn das Geschäftsmodell des Händlers ist ja nicht allein, Schuhe in den Laden zu stellen und an den Mann und die Frau zu bringen. Es geht um viel mehr.

Welche Fragen müssen sich die Verantwortlichen in den Kommunen jetzt stellen, um Konzepte für die Zeit nach Corona zu entwickeln?
Städte haben dafür Sorge zu tragen, dass sie lebenswert sind. Die Verantwortlichen müssen sich also fragen: Was trägt dazu bei? Sind das nur die Fußgängerzonen oder braucht man mehr? Städte werden viel operativer werden. Sie müssen Angebote machen, treiben und aktivieren. Wie können Kultur und Freizeit kombiniert werden? Wie bekommt man die Stakeholder vor Ort, vom Citymarketing bis zum Kulturverein, unter einen Hut, damit wieder eine Gemeinschaft Stadt entsteht? Die Stadt muss auch in der Lage sein, Umnutzungen schneller zu gewährleisten. Wenn eine Immobilie leer steht, muss die Stadt aktiv werden. Vielleicht muss sie die Immobilie kaufen, um eine Weiterentwicklung zu ermöglichen.

Wie werden unsere Innenstädte in Zukunft aus­sehen?
Die Monostrukturen, wie sie in vielen Städten vorherrschen, werden aufgelöst sein. Wir werden gemischte Nutzungen sehen. Es kann gut sein, dass in einem Objekt verschiedene Nutzungsformen zu finden sind, vom Handel über Kultur, Freizeit und Wohnen oder auch Ausbildung. Warum soll in ein großes Objekt, nehmen wir einen ehemaligen GKK-Standort, im dritten oder vierten Obergeschoss nicht auch eine Universität einziehen können oder Micro-Appartments für Studierende entstehen? Überhaupt wird wieder mehr Wohnraum in Innenstädten entstehen.

Wie viel Zeit wird dieser Weg in Anspruch nehmen?
Es wird ein langer Weg. Einige werden solche Themen schneller umsetzen können, andere langsamer. Es kommt auf die Stadt an, auf die Eigentümer und die weiteren Stakeholder. Unsere Städte sind ja auch nicht über Nacht hochgezogen worden. Nehmen Sie das Beispiel Fußgängerzonen. Früher gab es sie gar nicht. Die Einrichtung von Fußgängerzonen war ein enormer Einschnitt. Und er hat zur Monostrukturierung des Einzelhandels geführt, wie wir sie heute kennen.

Hat die Fußgängerzone eine Zukunft?
Eine gute Frage. Ja, in einer gewissen Dimension hat sie eine Zukunft. Aber ich glaube, man wird sich von ein paar Fußgängerzonen auch trennen müssen. Die Fußgängerzone dient dazu, Kundenfrequenzen gut abzuwickeln, ohne dass im Straßenverkehr etwas passiert. Wenn aber keine Frequenz mehr ist, braucht man die Fußgängerzone nicht mehr. Das führt zu einem anderen Aspekt: Verkehr wird immer gleichgesetzt mit Pkw. Das ist aber nicht alles. Wir müssen auch dem Thema Mobilität einen anderen Anstrich geben. Sie wird eine enorm wichtige Rolle spielen. Es sagt schließlich keiner: »Ich will nicht mehr mobil sein.« Es wird nur gesagt: »Ich will kein Auto mehr fahren.« Verkehr ist nicht nur der Diesel, sondern das sind auch andere Vehikel. Auch das E-Bike braucht einen Ort, wo man es abstellen und laden kann.

Schlägt jetzt die Stunde einer neuen Generation von jungen Unternehmerinnen und Unternehmern, die auch neue Wege gehen können und wollen?
Das glaube ich schon. Wenn eine neue Generation von Unternehmern da ist, kann das in eine neue, gute Richtung führen. Man muss sich aber kümmern, das ist der Nachteil im Einzelhandel. Es gibt gute Beispiele von Nachwuchs-Händlern, die sagen: »Ich mach es nicht mehr so wie mein Vater, fahre nach Mainhausen und ordere 70.000 Paar Schuhe. Ich habe ein anderes Bild von Einzelhandel und Kundenbetreuung.« Die Händler werden künftig näher an den Kunden herankommen können, und damit können sie auch etwas bewegen. Das ist übrigens eine wichtige Erkenntnis aus der Pandemie: Es gibt eine hohe Akzeptanz des lokalen Einzelhandels, der sehr gestützt und anerkannt wurde und wird. Wenn da eine Beziehung aufgebaut wird, hat man eine gute Basis für die Zukunft.

Einige Experten fürchten, unsere Großstädte könnten in einigen Jahren so aussehen wie Chicago und andere US-amerikanische Metropolen. Man findet dort nur noch Stores von internationalen Marken und Gastronomie. Glauben Sie das?
Nein. Das ist mir zu hart. Der Shake-Out wird passieren, und es wird noch eine Welle auf uns zu schwimmen, auch nach der Pandemie; nicht zuletzt auch durch das Aussetzen der Insolvenzantragspflicht. Danach aber wird es bei uns nicht so hart kommen wie in Amerika. Dort geht alles immer durch Multiplikation voran. In Deutschland ist das etwas anders. Es gibt mehr Tendenzen und Bestrebungen, die Lokalität zu fördern.

Welche Sparte ist Ihrer Meinung am schwersten durch Corona getroffen?
Die Gastronomie und klassische Dienstleister wie Friseure oder Kosmetikerinnen. Deren Angebot kann man niemals online verkaufen. Schuhe und Textil konnte man – wenn auch nur zu einem Prozentsatz – sehr wohl online substituieren. Die Gastronomie haben wir vermisst, aber wir haben trotzdem keinen Hunger gelitten.

Im Non-Food-Handel konnte viel Ware nicht verkauft werden, ist aufgrund der Modezyklen aber verderblich. Das ist hart für die Händler.
Auch das kann man nicht nachholen. Wenn man zuhause statt fünf nur noch vier Paar Schuhe hat, merkt man das als Verbraucher nicht. Man hat eben eine Saison lang nicht gekauft. Hinzu kommt: Die Schuhe wurden im Lockdown kaum abgetragen. Man hat das gekauft, was man brauchte. Aber nicht das, was man haben wollte. Wir leben in einer extrem saturierten Gesellschaft. Man ist daher im Handel dann erfolgreich, wenn man Dinge anbietet, die die Leute haben wollen, auch wenn sie sie nicht brauchen.

Werden wir nach der Pandemie die Roaring Twenties erleben, in denen das Versäumte nachgeholt wird?
Ja, es wird einen Nachholeffekt geben. Die Frage lautet: Wie groß wird dieser sein? Die Sparquote ist angestiegen. Die Leute haben Geld. Menschen werden sagen, jetzt gönn‘ ich mir wieder was. Viele werden aber auch genau überlegen, was sie kaufen und wie viel. Ich glaube, es wird einen Trend zu nachhaltigen und Qualitätsprodukten geben. Die klassischen Ex- und Hopp-Produkte werden die Leute nicht mehr haben wollen.


Das Interview führte
Petra Steinke,
schuhkurier/Sternefeld Medien GmbH