»Mehr für die Sportler, weniger für die Funktionäre«

Klaus Zeyringer
Klaus Zeyringer © S. Fischer Verlag GmbH

Interview
Vision

Susanne Osadnik

Der Kulturwissenschaftler Klaus Zeyringer über die verführerische Macht des Sports, sektenartige Strukturen des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) und warum Diktaturen so gute Partner bei sportlichen Großereignissen sind


Herr Zeyringer, wie viele Wettbewerbe der Olympischen Winterspiele in Peking haben Sie am Bildschirm mitverfolgt?
Klaus Zeyringer: Ziemlich wenige. Mal ein bisschen Frauen-Biathlon und manchmal die Zusammenfassungen der Wettbewerbe im ORF Sport, die häufig im englischen Original aus Peking ausgestrahlt wurden und die reinste chinesische Propaganda waren.

Im Vorfeld dieser und auch schon der Vorgänger-Spiele in den vergangenen Jahren wurde immer viel Kritik geäußert. Sobald die Spiele dann liefen, zählte in der Berichterstattung der Medien nur die Zahl der Medaillen und die tränenreichen Bekundungen der Siegerinnen und Sieger, einfach nur dankbar zu sein. Wie heuchlerisch sind wir als Gesellschaft?
Da ist schon was dran. Sport ist aber auch zu verführerisch. Die Menschen lieben Sport – egal ob Fußball, Leichtathletik oder Wintersport. Und wenn man vor dem Bildschirm sitzt und mitfiebert, vergisst man halt schnell, dass die treibenden Kräfte hinter diesen Veranstaltungen durch und durch korrupt sind. Ich selbst ertappe mich immer wieder, dass ich mir vornehme, diese pompösen Fußballveranstaltungen zu boykottieren, indem ich einfach nicht einschalte. Aber ich schaffe es dann doch meist nicht.

Könnte kritischere Berichterstattung aufrütteln, wenn man sich gerade in seiner Wohlfühlblase eingerichtet hat?
Es gibt wenige Medien, die sich kritisch mit den Hintergründen von Großereignissen wie Olympischen Spielen auseinandersetzen. Sobald die Spiele erst laufen, konzentrieren sich alle auf Erfolgsmeldungen der eigenen nationalen Sportler. Allerdings ist das in Deutschland noch nicht so schlimm wie etwa in Frankreich, wo der Gewinner eines Wettbewerbs häufig gar nicht mehr genannt wird – wenn er nicht Franzose ist. Dort haben Nationalismus und Chauvinismus eine ganz eigene Dynamik entwickelt. In Österreich sind ORF und Kronenzeitung Partner der großen Sportverbände – da gab es auch keinen einzigen kritischen Ton. Man muss das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Deutschland schon fast loben, dass sie dem einstigen Skirennfahrer Felix Neureuther und seinem Versuch einer kritischen Reportage im Vorfeld der Spiele einen guten Sendeplatz eingeräumt haben. Ernüchternd ist aber auch, dass Neureuther  Christophe Dubi, dem IOC-Exekutivdirektor und Organisationschef der Spiele, im Gespräch auch nicht mehr als altbekannte Floskeln entlocken kann. Mantraartig wiederholen Funktionäre wie Dubi & Co., dass es bei den Spielen nicht um Politik geht, sondern darum, Brücken zu bauen. Jeder weiß, dass es immer nur um Geld geht und dem Geldverdienen alles andere untergeordnet wird. Daher ist auch Neureuthers Fazit nicht weiter verwunderlich, wenn auch einigermaßen frustrierend: Wir werden nie auf einen Nenner kommen.

Also waren auch diese Olympischen Spiele nichts Neues – sondern nur die Fortsetzung einer IOC-Politik, die sich seit Jahrzehnten durch Korruption, Menschenrechtsverletzungen, Ausbeutung, Manipulation und ökologische Skrupellosigkeit auszeichnet?
Viel Neues gab es tatsächlich nicht. Außer, dass auch diese Spiele noch gigantischer waren als die letzten. Und obwohl das IOC von Mal zu Mal behauptet, es werde die Olympische Spiele wieder kleiner und weniger pompös und mehr auf sportliches Miteinander ausrichten, passiert genau das Gegenteil: Sie entfernen sich immer weiter von den vollmundig angekündigten Intentionen.

Menschen neigen dazu, in Nostalgie zu verfallen, wenn sie zurückblicken auf vermeintlich bessere Zeiten. Hat es solche Zeiten bei den Olympischen Spielen der Neuzeit tatsächlich gegeben?
Man darf sich da nichts vormachen. Das IOC hat sich schon seit seiner Gründung nicht an seine eigenen Werte gehalten, und das ist im Laufe der Jahrzehnte immer schlimmer geworden. Schon um die Jahrhundertwende versanken die ersten Olympischen Spiele im Chaos. Zunächst 1900 in Paris und vier Jahre später in St. Louis, wo die Spiele wiederholt mit der Weltausstellung zusammengelegt wurden und sich über fast fünf Monate erstreckten. Eigentlich feierte man den Kauf des Louisiana-Territoriums von Frankreich; die Spiele gingen dabei fast unter. Viele Wettbewerbe wurden zudem nicht als »olympisch« qualifiziert, sondern als Veranstaltungen der Weltausstellung. Die Spiele von 1916, die in Deutschland stattfinden sollten, fielen aus, weil man sich schon im Ersten Weltkrieg befand. Stattdessen fanden sie dann 1936 in Berlin statt – da hatte man auch von Seiten des IOC keine Berührungsängste mit den Nazis. Eigentlich sollten Olympische Spiele unpolitisch sein und die Nationen der Welt zusammenführen, so hat es der Gründer der neuzeitlichen Olympischen Spiele, Pierre de Coubertin, einst erklärt – obwohl er das selbst auch nicht beherzigt hat. Das nationalsozialistische Deutschland nutzte die Spiele in Berlin für seine Propaganda. Hitler wollte die Spiele und bekam sie – und das, obwohl man im Ausland sehr skeptisch war. Denn Hitler hatte zu dem Zeitpunkt schon die ersten Gesetze gegen jüdische Mitbürger erlassen. Bei den Qualifikationen zu den Spielen wurden die Hürden für jüdische Sportler so hoch gelegt, dass sie sich gar nicht erst qualifizieren konnten. So viel zur Tradition vermeintlich unpolitischer Spiele.

Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit der Historie von Olympischen Spielen und Großereignissen wie internationalen Meisterschaften in diversen Sportarten. Kann man eigentlich festmachen, ab wann  solche Veranstaltungen diese ex­trem kommerziellen Züge bekamen?
Das kann man. Die größte Veränderung der Spiele ging mit der Übertragung im Fernsehen einher. Da hielt der Kommerz Einzug in die Stadien. Richtig viel Geld gemacht hat das IOC erstmals bei den Sommerspielen in Rom 1960. Zuvor war das IOC eher ein vergleichsweise mittelloser Verband, der sein Büro im Hinterzimmer eines Juweliers in Lausanne hatte. Doch mit dem Fernsehen kam die Werbung und vor allem nachdem der Sportschuhhersteller Adidas eingestiegen war, hat sich das Ganze immer weiter in eine neoliberale Richtung entwickelt. Man hatte die Spiele als Gelddruckmaschine entdeckt. Plötzlich konnte man Millionen Menschen gleichzeitig erreichen – auch als Werbekunden. Ich nenne das immer gern einen Fassadenschwindel. Man gibt vor, etwas zu sein oder zu tun – nach außen für die Öffentlichkeit. Hinter den Fassaden passiert aber etwas vollkommen anderes. Da zählt der olympische Gedanke schon lange nicht mehr. Bei den Spielen in Tokio hatte das IOC bereits einen eigenen Fernsehkanal und zum Teil Eurosport übernommen.

Wer am besten schmiert, erhält den Zuschlag – so sehen es inzwischen viele Kritiker auf der ganzen Welt. Erklären Sie uns Laien doch bitte, wie es dazu kommen konnte, dass zum Schluss des Auswahlverfahrens für die Winterspiele 2022 nur noch China und Kasachstan übrig geblieben sind – also die Wahl zwischen zwei Staaten, die für Demokratie nicht das Geringste übrig haben.
Das IOC tut sich lieber mit Diktaturen zusammen als mit demokratisch regierten Ländern. Das hat einen simplen Grund: Dort gibt es keine Mitspracherechte der Bevölkerung. Für die Winterspiele 2022 gab es auch Bewerbungen aus Barcelona, Krakau, München, Stockholm und Lemberg. Die wurden allesamt zurückgezogen, weil die Bürger im jeweiligen Land mitentscheiden wollten, wo was gebaut und zu welchen Kosten gebaut wird. So arbeitet man aber nicht beim IOC.

Wie arbeitet man denn beim IOC?
Das System ist nahezu diktatorisch. Aktuell kann man das gut selbst nachlesen im Internet. Da findet man den Vertrag für die Winterspiele 2026, die in Mailand und Cortina d’Ampezzo ausgetragen werden. In diesem Vertrag verpflichten sich die Italiener wichtige Hoheitsrechte an das IOC abzutreten. Da gehört das Recht des IOC dazu, vier Jahre vor den Spielen und ein Jahr nach den Spielen keine Steuern zahlen zu müssen. Außerdem wird das nationale Arbeitsrecht ausgesetzt. Es gibt einen Maulkorberlass für alle Beteiligten; es darf keine Demonstrationen, große Konferenzen oder Ähnliches geben, während die Spiele stattfinden. Sie dürfen in keiner Weise gestört werden. Dem IOC wird ferner Extraterritorialität gewährt, verbunden mit dem Recht, alle akkreditierten Personen ohne jegliche Kontrolle einreisen zu lassen – selbst, wenn es sich dabei um Kriminelle handeln sollte. Und letztlich wird auch das Medienrecht des Landes eingeschränkt, weil das IOC die weitestgehende Kontrolle über die Übertragungen und Bilder hat. Ähnliche Verträge schließen FIFA und UEFA übrigens auch ab.

Nichts und niemand soll den Ablauf der Spiele stören. Hat Wladimir Putin mit Rücksicht auf China den Angriff auf die Ukraine deshalb erst nach Ende der Spiele begonnen?
Er weiß wohl, was ein günstiger Moment ist. 2014 hat er es ähnlich angelegt. Gerade noch hat der IOC-Präsident Thomas Bach in herzlichem Einverständnis mit Putin auf der Tribüne in Sotschi, wie immer, von den besten Winterspielen geschwärmt – und kurz darauf ließ Putin die russischen Truppen auf der Krim einmarschieren. Und diesmal hatte er vermutlich nicht vor, die Chinesen, die ja jetzt den Krieg in der Ukraine partout nicht als Invasion sehen wollen, bei ihrem olympischen Propagandahöhepunkt zu stören.

Sie sagten mal, dass das IOC nach Schweizer Recht nicht mehr als ein Verein ist, ähnlich einem Kegelclub. Weshalb ist es so mächtig, dass sich Städte und Länder dessen Dogma unterwerfen?
Eitelkeiten spielen dabei immer eine Rolle. Jedermann will Teil des gigantischen Ereignisses sein und das eigene Image aufpolieren, in dem man der Welt zeigt, was man alles kann. Und natürlich wollen alle jede Menge Geld verdienen. Dabei verdienen nur das IOC und die von ihm beauftragten Unternehmen daran. Häufig ist es aber auch schlicht die Uninformiertheit der Bewerber, die dazu führt, dass man sich bewirbt, ohne zu ahnen, was auf einen zukommt. Graz und Schladming hatten sich auch für die Winterspiele 2026 beworben und gehofft, damit reich und berühmt zu werden. Nach einer wenig wissenschaftlichen Machbarkeitsstudie hat das Österreichische Olympische Komitee die Bewerbung zurückgezogen, weil die Landesregierung das Ganze nicht mehr unterstützen wollte. Es fehle für ein solches Unternehmen einfach das Geld. Der Grazer Bürgermeister Siegfried Nagel hat mehr oder weniger im Alleingang seine Idee in den Medien präsentiert und führende Landespolitiker aus der Steiermark hatten das erst aus der Zeitung erfahren. Die Bewerbung scheiterte letztlich an der Hybris der Betreiber, die schlecht informiert waren.

Weder in China noch in Katar, wo die nächste Fußballweltmeisterschaft stattfinden wird, haben Bürgermeister die Initiative ergriffen. Was sind die Motive solcher Staaten, unbedingt sportliche Großereignisse ausrichten zu wollen?
Deren Motive sind eindeutig anders gelagert. Es geht darum, über den Sport geopolitische  Umstrukturierungen zu betreiben. Ihr politisches Image in der Welt ist schlecht, also setzen sie auf ihr Unterhaltungs-Image. Sport ist hochemotional und erreicht darüber Millionen Menschen. Wer sonst vielleicht zu Kritik an einem politischen System neigt, schaltet beim Sport das Gewissen aus und will einfach nur mal begeistert sein. Unbewusst trägt das auch zu einem positiveren Blick bei. Eine globale Macht wie China will alle Bereiche besetzen und der westlichen Welt ihre Überlegenheit demonstrieren.

Hat ja auch geklappt. Die Einschaltquoten waren gut. Thomas Bach, der amtierende IOC-Präsident, lobte die Ausrichter für die Spiele. Die meisten Sportler äußerten sich ebenfalls positiv zu Ablauf und Organisation – vor allem vor dem Hintergrund der Pandemie. Und es gab nur einen medienwirksamen Doping-Fall.  Kann man Sportlerinnen und Sportlern eigentlich die Verantwortung aufbürden, dafür zu sorgen, dass die Spiele/Meisterschaften wieder fair, sauber, ökologisch und unpolitisch werden?
Das kann man eigentlich nicht von ihnen verlangen – zumindest nicht, so lange sie selbst in ein System eingebunden sind, das ihnen wenig Freiraum lässt. Es handelt sich bei Spitzensportlern, die an Olympischen Spielen teilnehmen wollen, um Menschen, die täglich hart trainieren, auf fast alles nebenbei verzichten, viele private Opfer bringen und das gesamte Leben für einige Jahre nur dem Sport unterordnen. Sie leben in dieser Zeit in einer Blase, in der sie wenige Informationen von außen aufnehmen. In der Kette des Hochleistungszirkus´ sind sie wohl das schwächste Glied. Sie müssen um jede Nominierung kämpfen. Kommen sie einem Verband in die Quere, müssen sie damit rechnen, geschasst zu werden. Sie sind von Sponsoren abhängig und verdienen meist wenig Geld. Das ist anders als bei Fußballern, die schon mit 18 Jahren Millionenverträge abschließen können. Ein Wintersportler hat in Peking gerade mal 20.000 Euro für eine Goldmedaille erhalten. Ein italienischer Sportler immerhin 180.000 Euro. Die nationalen Unterschiede sind da groß. Aber das ist immer noch nicht viel im Vergleich zu dem, was Fußballer verdienen.

Wo könnte ein Ansatz sein, Olympia wieder glaubwürdiger zu machen. Thomas Bach ist eine Reizfigur. Aber ihn zu ersetzen, würde auch nicht viel ändern, oder?
Einen Fürsten gegen den anderen auszutauschen, ist nur die Fortsetzung einer Dynastie, die sich selbst bereichert. Das IOC ist ein closed shop, ein fast sektenartiger Verein, in dem man gewählt wird. Warum sollte man jemanden wählen, der etwas verändern will an einem System, das für die Herrschenden so prima funktioniert? Auf der Ebene wird sich nicht viel tun. Als Josef Blatter endlich das Feld räumte, hoffte man, dass sich etwas zum Besseren wendet. Aber es wurde noch schlimmer. Medial wird zurzeit Juan Antonio Samaranch Junior als Nachfolger von Bach gehandelt – also so etwas wie eine Erbdynastie, weil er der Sohn des einstigen IOC-Präsidenten Juan Antonio Samaranch ist. Er nennt sich Finanzmanager und Sportfunktionär. Das allein weist schon den künftigen Weg, den das IOC nehmen wird.

Kann man das System IOC und Olympia überhaupt reformieren?
Man könnte schon, aber dafür fehlt es am Willen der Beteiligten. Man bräuchte viel mehr Druck von Seiten der Politik und den Medien.

Wie sähe Ihre Vision für Olympische Spiele aus, mit der Sie leben könnten?
Zunächst müssten die Spiele wieder viel weniger aufgeblasen werden und ihre gigantische  Form aufgeben. Aus ökonomischer und ökologischer Sicht sollten die Spiele auch nur an einem Ort stattfinden, damit das Hin- und Herreisen zwischen verschiedenen Wettkampfstätten entfällt. Beim Bau von Sportstätten müsste zudem die Gemeinnützigkeit von neutraler Stelle geprüft werden. Das könnte verhindern, dass es weitere Bauten überall auf der Welt gibt, die nur zwei Wochen benutzt werden und dann als Milliardengräber verrotten. Und dann sollte das viele Geld, das mit den Spielen verdient wird, gerecht und kontrolliert verteilt werden – also mehr für die Sportler und weniger für die Funktionäre. Und natürlich wäre es ein positives Signal, wenn die Funktionäre nicht in 5-Sterne-Hotels residieren würden, sondern gemeinsam mit Sportlern und Trainern im olympischen Dorf. Das könnte man ohne viel Aufhebens sofort umsetzen.


Das Gespräch führte
Susanne Osadnik,
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Klaus Zeyringer ist Germanist und Kulturwissenschaftler und lehrte als Professor für Germanistik in Angers. Zuletzt veröffentlichte er u.a. »Olympische Spiele – Eine Kulturgeschichte. Band I: Sommer« (S. Fischer, 2016), »Olympische Spiele – Eine Kulturgeschichte. Band II: Winter« (S. Fischer, 2018), »Das wunde Leder. Wie Kommerz und Korruption den Fußball kaputt machen« (mit S. Gmünder, Suhrkamp, 2018) und »Schwarzbuch Sport – Show, Business und Skandale in der neoliberalen Gesellschaft« (Springer, 2021).