Mentale Stärke in unsicheren Zeiten

Angst und Stress
Angst und Stress bestimmen in Krisenzeiten den Alltag vieler Menschen. © Pixabay / Pete Linforth

Aktuelles
Resilienz

Susanne Müller

Wenn die Angst an die Haustür klopft: Weite Teile der Bevölkerung sind verstört angesichts der Weltereignisse und persönlicher Existenzsorgen. Lässt sich psychische Resilienz aufbauen? Das Krisen-Interventionsteam von HumanProtect kennt sich aus. Geschäftsführerin und Trauma-Therapeutin Karin Clemens gibt handfeste Tipps, wie wir alle wieder runterkommen, und erklärt, warum die News des Tages getrost einmal ignoriert werden dürfen.

Karin Clemens und ihre Kollegen sehen mehr menschliches Leid, als der durchschnittliche Bundesbürger sich überhaupt vorstellen mag. Denn sie sind überall dort im Einsatz, wo sich Katastrophen, Unfälle, Geiselnahmen oder Angriffe ereignet haben. Vor mehr als 20 Jahren von der R+V Versicherung als Pilotprojekt zur Unterstützung für Bankangestellte gegründet, die nach Raubüberfällen mit den psychischen Folgen zu kämpfen hatten, hilft HumanProtect als Tochtergesellschaft von R+V heute bei der Bewältigung traumatischer Ereignisse aller Art. Ob 9/11 in New York, Flutkatastrophe im Ahrtal, Explosionen, Gewalttaten oder Terroranschläge, die Psychologen von HumanProtect unterstützen die Opfer dabei, das schreckliche Geschehen zu verarbeiten. Und haben dementsprechend Erfahrung im Umgang mit Panik und Stress.

Derzeit scheint die Gesellschaft geradezu paralysiert zu sein. Atomkrieg und Klimakatastrophe, aber auch der „alltägliche Wahnsinn“ beispielsweise mit finanziellen Nöten oder diffuse Vorstellungen von Übergriffen – Szenarien, die teilweise noch gar nicht eingetroffen sind, machen vielen Menschen zu schaffen. Und wie ein Virus verbreitet sich diese Stimmungslage in ganz Deutschland. Jammern auf hohem Niveau?

Innerliches Erstarren

Karin Clemens sieht das anders. „Es ist ja tatsächlich etwas vorgefallen“, sagt sie. „Was wir seit nunmehr drei Jahren erleben, ist eine so genannte Stapelkrise. Corona, Klima, Ukraine-Krieg, Inflation – das geht vielen Menschen unter die Haut. Angst ist im Grunde etwas Gutes, hilft mir, mich zu schützen – sofern ich gerade einem Säbelzahntiger ins Auge blicke. Doch die momentane Situation ist nicht oder kaum kontrollierbar. Wir können angesichts der Vorkommnisse nicht kämpfen oder vor ihnen flüchten – und da neigt der Mensch dazu, innerlich zu erstarren.“ Wer sich jetzt von Ängsten überflutet fühle, solle sich überlegen, was er oder sie ganz konkret tun kann, um die Lage zu entspannen, rät die Expertin. Und verweist auf die Vier-A-Strategie des Wissenschaftlers und Autors in der Stressforschung, Gert Kaluza: Annehmen – Abkühlen – Analysieren – Aktion oder Ablenklung, so lautet die Faustformel.

Akzeptieren und Abkühlen

„Zuerst ist eine radikale Akzeptanz der aktuellen Situation nötig: Die Lage ist nun mal so, wie sie ist, auch wenn sie nicht schön ist, sie ist erst einmal nicht zu ändern. Punkt!“, erläutert Karin Clemens. „Besonders sensiblen Menschen empfehle ich durchaus, eine Weile keine oder nur sehr dosiert Nachrichten zu schauen oder von Zeitungsberichten Abstand zu nehmen. Die Kommentare in den Medien sind durchaus Furcht einflößend, aber Angst verursacht ja eigentlich erst deren Interpretation. Das Internet macht Katastrophenberichte viel präsenter als früher. Und da muss ich mir überlegen: Wie viele News vertrage ich? Sollte ich mich absichtlich davon zurückziehen oder sie zumindest dosieren?“ Haben Betroffene einmal die Phase Akzeptanz durchlaufen, sind sie bereit fürs Abkühlen, so die Psychologin. „Sich um das persönliche Wohlergehen zu kümmern, ist in Zeiten wie diesen überaus wichtig“, meint Karin Clemens. „Bewegung oder bewusstes Atmen können unterstützen, Anspannung zu lösen. Sich ablenken ist gut. Oder in die Aktion gehen – bei Konfliktgesprächen mit Freunden oder der Familie beispielsweise.“

Nach dem Schock die Belastung

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von HumanProtect wenden bei ihren Einsätzen unterschiedliche Methoden an. „Zunächst einmal geht’s darum, die traumatisierte Person – Opfer oder Augenzeugen – mit Stabilisierungstechniken zu beruhigen. Sie sind nicht krank im wörtlichen Sinne, aber belastet und im Ausnahmezustand.“ Erste Hilfe leisten übrigens meist die Feuerwehr, Peers oder berufsverwandte Gruppen. Unter anderem über die Berufsgenossenschaften kommt dann HumanProtect ins Spiel.

„Am dringlichsten ist, umgehend eine Risikoeinschätzung vorzunehmen. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit einer Trauma-Folgeerkrankung, welche Personen in der Gruppe sind die riskiertesten – diese Faktoren schätzen wir ab und bieten dann sofort entsprechende Hilfe an, zum Beispiel durch engmaschige Nachsorge und Vermittlung von Beruhigungs- und Distanzierungstechniken.“ Gerade die Hochrisikopersonen kristallisieren die Notfallpsychologen auf der Stelle heraus und unterstützen bei der Vermittlung in adäquate Behandlung. Menschen mit mittlerem oder geringem Risiko erhalten selbstverständlich ebenfalls Begleitung – am Arbeitsplatz oder zuhause, denn nach der ersten Schock-Reaktion können auch noch nachfolgend starke Belastungsreaktionen auftreten.

Die Menschen sind erschöpft

Doch auch Menschen, die nicht von Traumata betroffen sind, fühlen sich oft schlecht. Laut Statistischem Bundesamt hat sich das Arbeitsunfähigkeitsvolumen aufgrund von Depressionen und Burn-Out seit  dem Jahr 2000 mehr als verdoppelt. „Corona hat nach Erkenntnissen aktueller Studien weltweit einen Anstieg von Depressionen und Angststörungen um 25 Prozent verursacht“, erläutert Karin Clemens. „Generell herrschen in unserer Leistungsgesellschaft ein hohes Tempo und eine hohe Arbeitsdichte – das erfordert mehr Anpassungsmechanismen und führt dazu, dass Menschen häufig über ihre eigenen Grenzen hinaus gehen. Durch die derzeitigen Krisen scheinen die Menschen immer erschöpfter zu werden. So habe ich mich während der Pandemie oft gefragt, wie Eltern Home-Office, Home-Schooling und viele weitere Aufgaben unter einen Hut bringen – zusätzlich zur Furcht vor Erkrankung. Dass solche Konstellationen jede Menge Kraft kosten, liegt auf der Hand, und die Folgen sehen wir jetzt.“

Lernen von kleinen Kindern

Und an dieser Stelle kommt sie wieder auf die Selbstfürsorge zurück.  „Betroffene sollten sich auf ihre Bedürfnisse zurückbesinnen, sich auf das konzentrieren, was sie wirklich brauchen, was ihnen gut tut.“ Das klingt einfach – doch woher weiß ich denn, was mir fehlt? Karin Clemens schmunzelt. „In der Tat sind viele Menschen darüber erstaunt, wie einfach sich das beantworten lässt: Indem man reflektiert und ins Fühlen kommt – und damit wieder unmittelbar in Kontakt mit den eigenen Bedürfnissen. Bei kleinen Kindern kann man gut beobachten, wie sie unmittelbaren Kontakt zu ihren Bedürfnissen haben, und sie sind insofern Vorbilder. Doch auch Erwachsene sehnen sich zum Beispiel nach Anerkennung, Wertschätzung und Sicherheit.“

Therapie und Coaching kann hierbei unterstützen, wieder mehr auf sich und die eigenen Bedürfnisse zu achten. „Angst befällt nicht von außen die Seele. Die Hintergründe stammen meist aus der eigenen Biografie und werden in bestimmten Situationen angetriggert. Es ist halt Interpretationssache. Ich ärgere mich über den Regen, weil ich durchnässt werde, doch der Bauer freut sich über jeden Tropfen.“ Hinzu kommt, dass unterschwellige Bedrohungsszenarien, bei denen der Feind nicht sichtbar ist, die Leute spalten. „Und hier plädiere ich dafür, achtsam miteinander umzugehen. Extreme Handlungen werden keinerlei Entspannung bringen.“

Susanne Müller