Mit Siebzig noch mal durchstarten

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Vincent Müller
Influencer, Clubgänger, Fashion-Ikone – all das sind Dinge, die wir im ersten Moment mit einem jungen Menschen verbinden. All das ist aber auch Günther Krabbenhöft, ein 78-jähriger Berliner, der durch seine extravaganten Outfits und seine weltoffene Art im Internet Berühmtheit erlangt hat. Günther Krabbenhöft bewegt sich in Kreisen, in denen er auffällt. Dadurch lässt er sich allerdings nicht davon abhalten, einfach er selbst zu sein. Und dafür wird er belohnt, denn seit seinem Internet-Debüt wurde er in vielen internationalen Medien als Berliner Hipster-Opa bekannt und wird nun von Menschen jeden Alters für seine Authentizität gefeiert.
Was Günther Krabbenhöft – neben seinem auffallenden Kleidungsstil – ausmacht, ist seine Liebe für die Clubszene. Man trifft den Rentner regelmäßig in Berliner Techno-Clubs an, wo er inmitten einer jugendlichen Masse tanzt, als gäbe es keinen Morgen. Er selbst fragt sich, wieso Leute in seinem Alter so selten in Clubs zu finden sind, denn immerhin feiert diese Musik ihre Anfänge auch in den 70er Jahren. Als Günther anfing, Diskotheken zu besuchen, hatte er in seinem Kopf noch einige Hemmungen. „Die jungen Leute sehen mich und denken: Was will denn der Alte hier? Der kriegt gleich `‘nen Herzkasper!” Oft kommen sogar Menschen auf der Tanzfläche zu ihm und fragen nach seinem Alter. Doch zu seiner eigenen Überraschung sind die Reaktionen auf seine Anwesenheit durchweg positiv. Die Komplimente von den jungen Partygängern nimmt er auch sehr gerne an – denn er weiß, sie würden es gar nicht erst sagen, wenn es nicht auch ernst gemeint wäre.
Droge aus dem Lautsprecher
Die Musikrichtung House und Techno entspricht genau dem Bewegungsdrang des 78-Jährigen. Besonders gut gefällt ihm, dass es keine festen Schrittfolgen und keine Vorgaben gibt. „Man kann sich dem Rhythmus ganz hingeben und wird dann ganz von alleine von tollen Gefühlen überströmt. Aus dem Lautsprecher kommt die Droge, die mich durch den Tag trägt.” Günther tanzt immer mit dem Rücken zum DJ. Er will die Leute um ihn herum anschauen, möchte ihre Energie in sich aufnehmen. „Wir sind doch nicht in der Schule, warum soll ich denn nach vorne gucken?” witzelt er.
Energiegeladen und neugierig
Doch was unterscheidet Günther von den anderen Senioren? In ihm brennt nach wie vor ein Feuer, das bei vielen Menschen leider zu früh erlischt. „Ich bin kein Großvater, der zuhause auf dem Sofa sitzt und darauf wartet, dass er besucht wird. Ich fühle mich noch energiegeladen und neugierig. Ich nehme mir all das, was mir Glück beschert und mich erfüllt.” So kann er auch nicht verstehen, wenn jemand eigentlich etwas tun möchte, aber sich nicht traut. Egal ob es daran liegt, dass man keine Begleitung hat oder die Aktivität vielleicht für sein Alter unpassend findet. „Ich akzeptiere keine Grenzen, die mir andere Leute setzen”. Seinen Lifestyle empfindet Günther aber gar nicht als großen Unterschied zu anderen Leuten in seinem Alter. „Der eine angelt vielleicht gerne, und ich tanze”. Er hat einfach weiterhin Lust darauf, sich zu bewegen und von Menschen umgeben zu sein.
Persönlichkeit auf der Haut tragen
Günther Krabbenhöfts Interesse gilt der Kleidung, nicht der Mode. Denn letztere ist flüchtig und wandelbar – Günther achtet mehr auf die Stoffe und ist damit zeitloser unterwegs. „Kleidung ist für mich eine Fortsetzung meines inneren Befindens”, erzählt der gelernte Koch. Dabei geht es nicht darum, ein Klischee zu erfüllen oder einen gewissen Stil nachzuahmen, sondern seine Persönlichkeit auf der Haut zu tragen. „Ich wollte nicht ein eleganter Herr sein oder aussehen wie ein englischer Landlord.“ Klassische Herrenmode dient ihm eher als Inspiration. „Wenn ich Bock habe, dass die Hose nach Hochwasser aussieht, dann mache ich das.” Günther bricht die Konventionen auf und entwickelt so mit viel Kreativität seinen eigenen Stil. Das war natürlich nicht immer so. In der Jugend gab es viel Trial and Error, bis er seinen jetzigen Kleidungsstil gefunden hatte – den er selbst als „die Kür” bezeichnet. Nur eins war immer klar: Bloß nicht wie die anderen. „Das bin nicht ich, was die Masse getragen hat. Ich habe immer gesucht, was zu mir passt. Um das herauszufinden, musste ich immer ein bisschen was ausprobieren, das war nicht gleich da. Ich war auf der Suche nach der Kleidung, bei der ich gespürt habe: Das bin ich!”
Auf der Suche nach Schätzen
Wichtig bei der Auswahl seiner Kleidung: die Haptik. Internetbestellungen kommen für ihn nicht in Frage: „Ich brauche diesen Moment, in dem ich mich vor dem Spiegel drehen kann.” In der Coronapandemie hat er im Internet höchstens mal eine Unterhose bestellt. Die Stoffe anzufassen, die Silhouette der Anzüge am eigenen Körper zu sehen – das ist für ihn ein Muss. „Ich gucke danach, was das für ein Material ist, das ich da auf meinen Körper bringe, und welche Qualität das hat.” Das Stichwort sind Naturstoffe. Synthetik findet er eher „gruselig”, er greift stattdessen zu reiner Baumwolle oder Leinen. Dafür hat er schon früh die Second-Hand-Läden für sich entdeckt. Selbst als diese noch nicht mit schmeichelhaften Begriffen wie „Vintage” oder „Nachhaltig” beschrieben wurden, hat Günther Krabbenhöft die gebrauchte Kleidung als eine Fundgrube erkannt. Auch heute findet er dort noch viele Schätze aus ungewöhnlichen Mustern und wertigen Stoffen. Um seinen Stil zu vervollständigen, hat er sich mittlerweile einen Fundus an kleinen Handarbeitsläden zugelegt, die Schleifen und Tücher noch vor Ort herstellen. Er rät: Immer hochwertige Accessoires kaufen. Das muss nicht gleich bedeuten, dass sie auch teuer sind. Aus großen Brands macht er sich zum Beispiel gar nichts. „Warum soll ich für jemanden Reklame laufen und dafür auch noch Geld bezahlen?”
Sei einfach du! Ein Mutmacher-Buch
Sein bewegtes Leben hat auch zu der Veröffentlichung eines Buches geführt. „Sei einfach du! – Zum Jungsein bist du nie zu alt.” heißt sein 2020 erschienener Lebensratgeber. Darin beschreibt er, dass es in der Jugend nicht einfach war, einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Irgendwann ist er aber an Menschen geraten, die ihn unterstützt und gefördert haben und letztendlich auch dazu beigetragen haben, dass er ein neues Selbstbewusstsein erlangen konnte. „Mein schwerer Weg mit Höhen und Tiefen soll auch für einige ein Mutmacher sein, die vielleicht in der gleichen Situation stecken.” Die Leute in seinem Leben haben ihn dazu motiviert, das Buch zu verfassen, und es hat zwei Jahre gedauert, um alles niederzuschreiben. Zwischendurch haben ihn auch Selbstzweifel geplagt. Plötzlich hatte er Angst, mit seinen intimsten Gedanken doch zu sehr in der Öffentlichkeit zu stehen. Dann hat er sich selbst gesagt: „Ey Alter, vor was hast du denn da Bedenken?”. Das Buch ist ein Appell, sich selbst zu hinterfragen und keine Stagnation zuzulassen. Es sei zwar gut, im Leben ein Ziel zu haben, aber es lohne sich doch oft, diese verlockenden Nebenwege zu gehen. Manchmal werde ein Nebenweg dann eben zum Hauptweg. Egal ob persönlich oder gesellschaftlich – „Alles bleibt in Bewegung, bis zum Schluss”, sagt er. Das trifft mit Sicherheit auch auf Günther Krabbenhöft zu.
Vincent Müller,
Freier Mitarbeiter