Nachtzug schlägt Auto

Reisen im Nachtzug
Reisen im Nachtzug erfreuen sich zunehmender Beliebtheit © Julija Sapic – stock.adobe.com

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Vision

Richard Haimann

Nachtzüge feiern ein Comeback in Europa. Treibende Kraft ist Andreas Matthä, Vorstandschef der Österreichischen Bundesbahnen. Seine Vision: Mit schnellen Verbindungen Reisende aus der Luft auf die Schiene zu holen, um die Kohlendioxidemissionen im Reiseverkehr zu verringern

 

Hamburg Hauptbahnhof, 20:08 Uhr, Gleis 14: Mit einer Minute Verspätung verlässt der »Nightjet« der ÖBB, der Österreichischen Bundesbahnen, den Bahnsteig. Die Elektrolokomotive zieht das Ensemble aus zwei Doppelstock-Schlafwagen, drei Liegewagen und zwei Waggons mit Sitzabteilen über die Weichengasse auf das Hauptgleis Richtung Süden. Draußen strahlen Straßenlampen und Neonreklamen im  Dunkel der Winternacht, bis der Zug die südlichen Bezirke der Hansestadt hinter sich lässt und in die Marschlandschaft rollt, wo Wolkenfetzen vor dem Vollmond treiben. Um 9:19 Uhr am nächsten Tag soll das Ziel erreicht sein: Wien, Hauptbahnhof.

»Grüß Gott«, begrüßt der Schaffner mit vorarlbergischem Dialekt bei der Fahrscheinkontrolle die Reisenden und wünscht anschließend »A guats Nächtle«. Zuvor gibt er jedem noch einen PCR-Gurgeltestkit. Die Probe kann bei der Ankunft in der österreichischen Hauptstadt an jeder der 620 Filialen der REWE-Gruppe abgegeben werden: Bei Billa, Lekkerland, Penny, Rewe oder Toom. Das Ergebnis liegt innerhalb von 24 Stunden vor.

Reisende aus der Luft auf die Schiene bringen

Sicher, schnell, bequem – mit ihren Nachtzügen will Österreichs Staatsbahn die Schiene zur Alternative für den Flugverkehr machen. Der »Nightjet« sei eine »klimafreundliche Alternative zum Kurzstreckenflug innerhalb Europas«, sagt ÖBB-Chef Andreas Matthä. Den 59-jährigen treibt eine Vision: Er will mit schnellen Nachtzug-Verbindungen Reisende aus der Luft auf die Schiene holen und so den Ausstoß des Treibhausgases Kohlendioxid im Reiseverkehr langfristig verringern – und zugleich Umsatz und Gewinn der ÖBB steigern. »Abends gemütlich einsteigen, zurücklehnen und den Komfort genießen; in der Früh entspannt und mit einem Frühstück gestärkt in den Tag starten«, werben die Bundesbahnen aus der Alpenrepublik für ihren Nightjet.

Nachtzüge mit ihren Schlafwagen waren einst die vornehmste Art des Reisens. 1872 geht es erstmals durch die Dunkelheit von Paris nach Wien. Am 5. Juni 1883 wird die Verbindung bis nach Istanbul verlängert. Der Name des Zuges wird zur Legende: Orient-Express. Bald rauschen Fernzüge von Berlin über Budapest und Bukarest bis nach Konstanza am Schwarzen Meer, von London, samt Fähre über den Ärmelkanal, bis Athen, von Brüssel über Basel und Mailand bis Venedig.

Milliardenverluste der Bahn in den 90er Jahren

Die Züge, die Staaten in Europa verbinden, schreiben Literaturgeschichte: Agatha Christies 1934 erscheinender Kriminalroman »Mord im Orient-Express« wird zum Klassiker. »Nachtzug nach Lissabon«, 2004 vom Schweizer Schriftsteller und Philosophen Peter Bieri unter dem Pseudonym Pascal Mercier verfasst, wird in 32 Sprachen übersetzt und findet allein im deutschsprachigen Raum mehr als zwei Millionen Käufer. Der Emdener Journalist und Autor Roland Siegloff lässt in seinem 2016 veröffentlichten Roman »Nächster Halt: Südkreuz« die Handlung in zwei Nachtzügen spielen, die zeitgleich von Budapest und Paris durch die Dunkelheit nach Berlin rollen.

Tatsächlich ist zu diesem Zeitpunkt das Ende der Nachtzüge bei der Deutschen Bahn längst beschlossene Sache. In den 1980er Jahren beginnt hierzulande das Interesse an Zugreisen zu sinken. Schnelle, bequeme Automobile und Flugreisen sind erschwinglich geworden. 1993 schreibt die Deutsche Bahn einen Verlust von 7,9 Milliarden Euro. Die Eingliederung der Reichsbahn der früheren DDR schlägt ebenso zu Buche wie sinkende Fahrgastzahlen. Mit der Bahnreform will die Politik den Staatskonzern wieder in die »Schwarzen Zahlen« führen; sogar ein Börsengang wird zeitweise angestrebt. Herauskommt jedoch ein Sparprogramm: Die Zahl der Mitarbeiter wird reduziert. Immer mehr Nebenstrecken werden stillgelegt. Investiert wird vor allem in die schnellen neuen ICE, die Intercity-Express-Züge. Am übrigen rollenden Material nagt immer kräftiger der Zahn der Zeit.

1,5 Millionen Buchungen in den »Nightjets«

2016 nimmt die Deutsche Bahn die letzten Schlafwagen-Verbindungen aus dem Fahrplan. Die Waggons seien zu alt, Neuanschaffungen aufgrund der sinkenden Nachfrage nicht rentabel, argumentiert das Unternehmen. Als Ersatz werden mehr ICE-Verbindungen in der Nacht angeboten, ohne Schlaf- oder Liegewagen. Doch diese Züge werden kaum angenommen. Unter der Schlagzeile »Der Nacht-ICE: Ein Alptraum ohne eine Minute Schlaf« berichtet der Autor und TV-Moderator Marcus Werner in der Wirtschaftswoche über seine Fahrt mit einem nächtlichen ICE von Bielefeld nach Berlin. Sein Fazit: »Den ganzen Tag danach war ich ein Wrack.«

2016 ist auch das Jahr, in dem Andreas Matthä oberster ÖBB-Chef wird. Während die Deutsche Bahn den klassischen Nachtzug aufgibt, dreht der neue Vorstandsvorsitzende in Wien richtig auf. Aus der zuvor unter dem Namen »Euronight« vermarkteten Nachtzuggattung wird der »Nightjet« – eine Formulierung, die direkt auf die Konkurrenz in der Luft zielt. Ein Teil der von der Deutsche Bahn aufgegebenen Strecken wird noch im selben Jahr übernommen, zusätzliche Verbindungen geschaffen.

Das kommt bei den Reisenden an. »In den Jahren vor der Pandemie ist die Zahl der Fahrgäste in den Nachtzügen von Jahr zu Jahr um zehn Prozent gewachsen«, sagt ÖBB-Sprecher Bernhard Rieder. 2019 verzeichnen die ÖBB bereits mehr als 1,5 Millionen Buchungen in ihren »Nightjets«. Weitere Verbindungen werden aufgebaut. Selbst im vergangenen von der Pandemie geprägten Jahr wächst das Netz weiter. »Vier neue Linien hatten 2021 Premiere«, sagt Rieder. Seit vergangenen Mai ist täglich der Nightjet auf den Strecken Wien – Amsterdam und Innsbruck – Amsterdam unterwegs. Mit Fahrplanwechsel im Dezember sind zwei weitere Destinationen hinzugekommen. »Dreimal pro Woche geht es seither über Nacht von Wien über München und Strasbourg nach Paris, und auch der neue Nightjet Zürich – Amsterdam hat seine tägliche Fahrt aufgenommen«, erklärt Rieder. Zudem gibt es seit vergangenem Juni in den Sommermonaten eine Nachtzug-Verbindung nach Split an der kroatischen Küste – inklusive Autozug, damit das eigene Fahrzeug mitgenommen werden kann.

Der Erfolg der Österreicher basiert auch auf deren Kooperation mit den nationalen Bahngesellschaften anderer Staaten. Diese Partnerschaft soll nun weiter ausgebaut werden. Darauf haben sich die ÖBB, die Deutsche Bahn, die Schweizerischen Bundesbahnen SBB und die SNCF, die Nationale Gesellschaft der französischen Eisenbahnen, verständigt. Von 2023 an sollen Nightjets von Berlin nach Paris und Brüssel sowie von Wien nach Brüssel rollen. 2024 soll die Verbindung Zürich – Barcelona hinzukommen.

Die SBB und die SNCF haben sich dabei bereiterklärt, die finanziellen Risiken auf ihren jeweiligen nationalen Schienenstrecken zu übernehmen. »Der Nachtzug ist ein Geschäft unter Partnern«, sagt Deutsche-Bahn-Chef Richard Lutz. »Wenn jede Bahn ›ein bisschen Nachtzug‹ machen würde, wäre niemandem geholfen; die Lösung ist eine klare Arbeitsteilung, eingebettet in echtes Teamplay.« Dennoch ist die Deutsche Bahn zurückhaltender, geht nicht auf den eigenen Strecken finanziell ins Risiko. Sie ergänzt jedoch auf einigen Verbindungen die Nightjets mit zusätzlichen Sitzwaggons, um eine höhere Auslastung zu ermöglichen.

Schlafwagen günstiger als Pariser Parkhaus

Ganz in die Vollen gehen hingegen die ÖBB. Bis 2024 investieren die Österreicher 790 Millionen Euro, um 33 neue Züge anzuschaffen und das Angebot auszuweiten. »Wir wollen so in die Gewinnzone kommen«, sagt ÖBB-Sprecher Rieder. Je mehr Fahrgäste mit einer größeren Zahl von Zügen transportiert werden können, desto unbedeutender würden die vom Buchungssystem verursachten Fixkosten. 2019, im Jahr vor der Pandemie, habe die Gesellschaft mit dem Nightjet eine »schwarze Null geschrieben«. 2020 und 2021 hätten Lockdowns und immer wieder neue Covid-19-Wellen zu Verlusten geführt. »Im Sommer waren die Nachtzüge zwar immer voll ausgelastet«, sagt Rieder. Nicht aber während des hohen Infektionsgeschehens in den Wintermonaten.

Sobald die Pandemie vorüber sei, dürften die Nightjets wieder sehr hohe Buchungszahlen aufweisen, sagt Rieder. Das liegt auch an den vergleichsweise günstigen Preisen. Eine Fahrt von Wien nach Paris im Sitzwagen wird für 29,90 Euro angeboten. Eine dreiköpfige Familie zahlt für ein Abteil im Schlafwagen auf dieser Strecke zusammen 269,70 Euro. »Das ist günstiger als die Gebühr für einen einwöchigen Stellplatz in einem Pariser Parkhaus, von den Kosten für Kraftstoff und Autobahnmaut in Frankreich ganz zu schweigen«, betont Rieder. »Der Nachtzug schlägt das Auto – beim Preis und beim Komfort.«


Ein Beitrag von
Richard Haimann,
freier Journalist