Nichts ist mehr, wie es war – vieles ist dennoch schon was geworden

»anti-virales« Autokino
Auch in der Pandemie müssen Immobilien Menschen an sich binden. Dafür sind Kreativität und Reaktionsstärke gefragt – wie beim »anti-viralen« Autokino auf dem Blautal-Center in Ulm

Handel und Immobilien
Strategie

Joachim Stumpf

Es gibt keinen Lebensbereich, der nicht durch die Corona-Krise tangiert wurde. Wenn wir die Implikationen auf den Handel analysieren, dann sind sie geprägt von Ladenschließungen, Reisebeschränkungen, Einkaufshürden und Konsumveränderungen. Der Handel als Mieter in unseren Handelsimmobilien beeinflusst deren Werte, Vermietbarkeit, Transaktionen, Positionierungen und somit deren Zukunft

Handelsimmobilien und -unternehmen bilden seit Jahrzehnten die Leitfunktion unserer Innenstädte und somit stellt sich die Frage nach der Zukunft von Handel, Immobilie und Innenstadt.

Privater Konsum ist trotz Krise gewachsen

An der fehlenden Kauflust der Deutschen allein liegt das nicht. Noch während des ersten Lockdowns im März hätte kaum jemand erwartet, dass der deutsche Einzelhandel das Jahr 2020 mit einem nominalen Umsatzplus von voraussichtlich ein bis zwei Prozent abschließen wird. Der private Konsum ist trotz Kurzarbeit und Rückgang des BIP um circa fünf bis fünfeinhalb Prozent gewachsen, auch weil viele Ausgaben für zum Beispiel Restaurantbesuche und Urlaubsreisen weggefallen sind.

Von dem nicht ganz freiwilligen Rückzug ins Privatleben profitieren einige Branchen besonders, beispielsweise der Möbelhandel, Baumärkte, Fahrrad- und Lebensmittelhändler, vor allem aber der Online-Handel. Allein bei Büromöbeln ist der Umsatz seit März dieses Jahres um 46 Prozent gestiegen. Für das Weihnachtsgeschäft liegt die Umsatzprognose im Online-Handel um 19 Prozent über dem Vorjahreswert. Auffällig ist, dass diese Branchen schon vor Corona überdurchschnittlich gewachsen waren. Damit ist die Pandemie in erster Linie ein Trendbeschleuniger. Die Kehrseite: Branchen wie der Modehandel und Betriebsformen wie das Warenhaus, die schon vor Corona negative Prognosen hatten, verloren entsprechend weiter. Bei Anzügen und Sakkos etwa liegt der Umsatzverlust bei fast 60 Prozent.

Trendbeschleuniger für Geschäftsmodelle und Trendumkehrer für Einkaufslagen

Im Einzelhandel gibt es eine sehr hohe Korrelation zwischen der Frequenz und dem Umsatz und damit auch zwischen Frequenz und der Miethöhe. Während des Lockdowns im März und des Lockdowns ,light‘ zum Jahresende sanken die Besucherzahlen stark (siehe Grafik). Obwohl die Capture- und Conversionrate, also der Besucher- und Käuferanteil an der vorhandenen Frequenz, während der Einschränkungen stiegen, soll das nicht darüber hinwegtäuschen, dass einzelne Lagen massiv vom Kundenschwund betroffen waren und sind.  
 
Tatsächlich wirkt Corona in Bezug auf die Einkaufslagen als vorübergehender Trendumkehrer: Die stärksten Lagen aus Prä-Corona-Zeiten, die Fußgängerzonen in den Top-Lagen, Flughäfen und überregionale Shopping Center, leiden am stärksten unter Frequenzrückgängen. Ihnen fehlen die Touristen aus dem In- und vor allem Ausland sowie die Besucher von Sport- und Kulturveranstaltungen. Hinzu kommt der Verlust von Kunden an den Online-Handel. Während vor der Pandemie die Einzelhandelszentralität vor allem in größeren Städten stieg, kaufen mittlerweile wieder mehr Menschen in der Nähe ihres Wohnorts ein. Der Einkaufsbummel in der nächstgrößeren Stadt blieb oft aus, und parallel dazu ist die Bedeutung der kleineren und mittleren Städte als Handelsstandorte wieder gestiegen. Das ist aber nur eine Momentaufnahme, mittel- und langfristig wird sich der Druck auf die Ortszentren sicherlich wieder erhöhen.

In Zukunft gibt es weniger Nonfood-Retailfläche, was einen breiteren Nutzungsmix erfordert

Eine Tatsache müssen wir aber für die Zukunft akzeptieren: Es gab und gibt ein Overstoring an Nonfood-Retailfläche in Deutschland und diese muss in Zukunft weniger werden. Dadurch wird es in den oberen Etagen der Shopping Center genauso wie in vielen Objekten der Highstreet eine Substitution von Retail-Flächen durch andere Nutzungen geben. Außerdem wird die 1a-Lage enger gefasst werden und an den Rändern ausfransen. Die substituierten Retailflächen sind ausschließlich standortindividuell zu betrachten, es gibt kein Patentrezept für die Umstrukturierung von einer monostrukturellen Nutzung hin zu Mixed-use-Objekten (siehe Beispiel Gerber in Stuttgart – mit entsprechenden Maßnahmen schon vor Corona). Dabei gibt es eine weitere Tatsache festzuhalten: Je größer das Einzugsgebiet, umso vielfältiger die Nutzungsoptionen außerhalb des Handels. Die Beimischung ist je nach Standort, Wettbewerb und Einzugsgebiet sehr unterschiedlich und reicht von Fitnessstudios über Büros, Arztpraxen, Coworking Spaces, Hotels und Wohnungen bis hin zu öffentlichen Einrichtungen, Kunst und Kulturangeboten und Kindergärten. Die wirtschaftlichen Implikationen der Neupositionierung vieler Objekte hängt neben den Nutzungsalternativen vor allem davon ab, in welcher Phase des Lebenszyklus sich die Immobilie befindet. Je kürzer die letzte Investitionsphase zurückliegt, umso schmerzlicher ist die damit verbundene Neuinvestition.

Städte benötigen eine Vision über den zukünftigen Nutzungsmix und müssen die Immobilieneigentümer ins Boot holen

Der Handel wird zwar langfristig die Leitnutzung in den Innenstädten bleiben, es bedarf aber dringend Diskussionen und Konzepte über Aufgaben der Ortszentren und den Umgang mit drohenden Verlusten der Zentralität. Die Politik und Kommunen sind gefordert, Strategien zu entwickeln, damit Innenstädte weiterhin vital bleiben. Dafür müssen sie bestmögliche Rahmenbedingungen für die Unternehmen der Ortszentren schaffen. Ich halte nichts davon, dass die Kommunen selbst zum Projektentwickler werden. Vielmehr müssen sie dringend beginnen, eine Vision zu entwickeln, wie der zukünftige Branchenmix aussehen soll, und neben den Stakeholdern aus Handel, Gewerbe und Verbrauchern rechtzeitig den Dialog mit den Immobilieneigentümern suchen.

Online-Auftritt und digitale Sichtbarkeit unverzichtbar für jeden Händler

Was heißt das für die Händler selbst? Was vor Corona richtig war, ist jetzt noch wichtiger: Der Online-Auftritt ist für das stationäre Geschäft ergänzend und alternativlos geworden. Gerade mittelständische Fachhändler galten vor Corona als Verlierer des digitalen Wandels. Sie finden sich in den Lagen, die früher problematisch waren – in Seitenstraßen, in der Nähe der Quartierslagen. Jetzt profitieren sie von dieser örtlichen Nähe zum Kunden. Viele haben im ersten Lockdown ihren Vorteil genutzt, schneller als die großen Konzerne auf die Krise reagieren zu können. Manche Händler haben per Videoanruf ihre Kunden durch den Laden geführt, um das Angebot zu zeigen. Oder sie haben per WhatsApp und Handyvideo Modeschauen gezeigt und Anproben versendet. Wieder andere haben auf digitalem Weg Beratungen außerhalb der Öffnungszeiten vereinbart. Das hat die Kunden überzeugt – weil es die Beratung individueller gemacht hat.

Vermietung wird Königsdisziplin und mehr Ideen pro Quadratmeter im Marketing

Angesichts dieser Herausforderungen muss das Vermietungsmanagement ganz neue und vielfältige Anforderungen erfüllen. Die nötige Argumentationstiefe für eine Neuanmietung ist angesichts einer restriktiven Expansionspolitik der Händler gestiegen, Laufzeiten werden immer flexibler verhandelt. Die Geschäftsmodelle der Händler müssen zudem sehr viel sorgfältiger auf ihre Wettbewerbsfähigkeit abgeklopft werden. In den kommenden zwei Jahren – bis zur Normalisierung der Post-Corona-Zeit – werden interimistische Lösungen zu bevorzugen sein, um anschließend an guten Standorten neue Langfristlösungen umsetzen zu können. Das wird eine Beschleunigung von Pop-up-Anmietungen auslösen mit der Chance, dass sich einige gute neue Konzepte nach einem »Proof of Concept« auch als dauerhafte Lösung herauskristallisieren. Im Segment Shopping Center bedarf es einer immer intensiveren Abstimmung zwischen Center- und Vermietungsmanagement.

Transaktionsmarkt: Nachfrageüberhang bei Nahversorgern und Vorsicht bei Shopping Centern und Highstreet

Auch das Centermarketing wird nach dem Motto »mehr Ideen pro Quadratmeter« handeln müssen, da der Druck auf Mieten und Objektrentabilität auch Druck auf die Werbebudgets erzeugen wird. Von daher ist Kreativität für einen hohen Wirkungsgrad der Werbung gefragt (siehe Beispiel Blautal-Center).

Die aufgezeigten Verwerfungen haben starke Auswirkungen auf den Transaktionsmarkt und die Mietertragsprognosen für Handelsimmobilien. Angesichts der aktuellen Unsicherheiten im Nonfood-Segment sinken die Transaktionszahlen und die Renditen für alle Retail-Assetklassen, die hohe Nonfood-Anteile aufweisen. Das gilt besonders dann, wenn man die Sondereffekte der Warenhaus- und SB-Warenhaus-Deals eliminiert. In der Folge bringt die Krise vor allem Opportunitäten für risikobewusste Investoren mit hoher Retail-Expertise hervor. Gerade Shopping Center sind mit Ausnahmen aktuell deutlich unterbewertet.

Umgekehrt steigen Nachfrage und Kaufpreise bei allen nahversorgungsgeankerten Retail-Assetklassen, da das Food-Segment nicht nur in den Lockdown-Phasen überdurchschnittlich stark profitierte, sondern abseits davon auch von vielen Megatrends wie der Reurbanisierung oder Mobiliätswende profitiert. Hinzu kommt, dass bei weniger Retail-Angebot und gleichzeitig steigendem Anlagedruck vieler institutioneller Anleger eine Übernachfrage entsteht.

Korrekturen der Mieten

Sicher, es wird auch zu Korrekturen der Mieten kommen, vor allem bei Shopping Centern, die in den vergangenen fünf Jahren neu vermietet wurden und parziell auf der Highstreet. Bei Letzterer gibt es neben den Problemen mit den Nonfood-Anbietern und Gastronomen auch noch den Sondereffekt, dass es ausgerechnet in der Phase der geringsten Nachfrage zu einem Flächenüberhang aus den stillgelegten Warenhäusern kommt. Davon wird nicht mal eine der stärksten Einkaufslagen in München, die Neuhauser Straße, verschont, wo es seit Jahrzehnten erstmals zu Leerständen kommt. In der zweijährigen Erholungsphase werden wir im kommenden Jahr nochmals einige Rückschläge sehen, wenn aktuell gestützte Textilanbieter und Gastronomen zeitversetzt Insolvenz anmelden müssen.

Einzelbetrachtung bei coronabedingten Mietnachlässen

Umso wichtiger ist es, dass in den unsäglich geführten Diskussionen um eine Generallösung für die Stützung der Mieter durch den Vermieter sinnvolle Lösungen gefunden werden. Pauschallösungen können niemals fair sein. Stattdessen muss es immer um die Einzelbetrachtung gehen. Eigentümer sollten den Dialog mit Mietern suchen, um Lösungen auch mit Blick auf das Mietverhältnis zu bewerten: Welche Prognose gibt es für den Mieter hinsichtlich Umsätze, Umsatz-Mietbelastung und Roherträge bis Ende 2021? Wie robust ist der Mieter wirtschaftlich grundsätzlich aufgestellt? Was ist die maximale Miete, die der Mieter zukünftig in dem Objekt erwirtschaften kann? Gäbe es für den Mieter einen adäquaten Ersatz? Wie hoch wäre gegebenenfalls der zu gewährende Mietnachlass?

Mit Retail-Sachverstand Opportunitäten nutzen

Die Aufgaben, die vor uns liegen, wären auch ohne Corona nicht zu vermeiden gewesen. Daher kann die Geisteshaltung für diese Aufgabe nur die sein, mit hohem Retail-Sachverstand proaktiv die Chancen zu nutzen, die sich zweifellos an den meisten Standorten ergeben.

Ein Beitrag von
Joachim Stumpf,
Geschäftsführer, BBE Handelsberatung GmbH und IPH Handelsimmobilien GmbH