Noch sind nicht alle wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie sichtbar

Dr. Frank Schlein
Dr. Frank Schlein © Crifbürgel

Interview
Dranbleiben

Leonore Maria Lubenow

Im vergangenen Jahr haben weniger Menschen ihre private Insolvenz erklärt als 2019. Ein Minus von gut 35 Prozent sind aus Sicht von Dr. Frank Schlein, Geschäftsführer des Informationsdienstleisters Crifbürgel, aber keineswegs gute Nachrichten. Die rückläufigen Privat-insolvenzen seien nicht als Zeichen der Entspannung zu interpretieren, sondern als Beginn einer Insolvenzwelle. Denn die Zahlen verschleierten die tatsächliche finanzielle Situation vieler Privatpersonen

Crifbürgel geht davon aus, dass die Zahl der Insolvenzen im vergangenen Jahreigentlich um 25.000 höher liegen müsste als die offiziellen Zahlen zeigen. Worauf beruht diese Einschätzung?
Dr. Frank Schlein: Crifbürgel hat in einer Szenarioanalyse die gesamtwirtschaftliche Lage der Privatpersonen in Deutschland analysiert. In diesen Modellen wurde berechnet, wie viele Privatinsolvenzen es unter normalen wirtschaftlichen Bedingungen gegeben hätte. Diese Zahl haben wir dann mit den tatsächlichen Privatinsolvenzen im Jahr 2020 verglichen. Die berechneten 25.000 Privatinsolvenzen werden nachgelagert zu den diesjährigen Insolvenzen hinzukommen. Daher gehen wir auf Basis unserer Modellberechnungen für 2021 aktuell von bis zu 90.000 Privatinsolvenzen aus. Hinzu kommt 2020 die Besonderheit, dass viele Privatpersonen vergangenes Jahr entsprechende Insolvenz-Anträge zurückgehalten haben. Sie wollten von einer Gesetzesreform profitieren, die Betroffenen von Privatinsolvenzen künftig schon nach drei, statt wie bisher nach sechs Jahren eine Restschuldbefreiung ermöglicht. Da diese Reform ein großer Vorteil für verschuldete Privatpersonen ist, haben viele Antragssteller auf den entsprechenden Beschluss des Bundestages gewartet. Die Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens auf drei Jahre wird rückwirkend auch für alle Insolvenzverfahren gelten, die ab dem 1. Oktober 2020 beantragt wurden. Damit können auch diejenigen Schuldnerinnen und Schuldner bei einem wirtschaftlichen Neuanfang unterstützt werden, die durch die Covid-19-Pandemie in die Insolvenz geraten sind.

›Ob die Zahlen der Privatinsolvenzen ab 2023 wieder sinken werden, hängt auch von der weiteren Dauer der Pandemie ab.‹

Für 2021/2022 sollen die Zahlen sich wieder dem Wert von 2010 annähern, der vermutlich mit den Auswirkungen der Immobilien- und Finanzkrise zu tun hatte. Damals waren die wirtschaftlichen Konsequenzen nicht so schlimm wie erwartet. Wird es dieses Mal ähnlich laufen und die Zahlen dann ab 2023 wieder runtergehen oder prognostizieren Sie für diese Krise ein anderes Szenario?
Ob die Zahlen der Privatinsolvenzen ab 2023 wieder sinken werden, hängt auch von der weiteren Dauer der Pandemie ab. Noch sind nicht alle wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie sichtbar. Die höhere Arbeitslosigkeit – auch bedingt durch den Anstieg der Firmeninsolvenzen – wird zu mehr Privatinsolvenzen führen, da die betroffenen Verbraucher bei weiterhin hohen Kosten über weniger Geld verfügen. So bleibt den Menschen weniger Geld, um ihren Verpflichtungen wie Kreditzahlungen, Mieten oder Finanzierungen nachzukommen. Auf Dauer führt weniger Einkommen erst in die Überschuldung und dann in die Privatinsolvenz. Arbeitslosigkeit war und ist weiterhin Hauptursache bei den Privatinsolvenzen. Da in den Insolvenzstatistiken vor allem die Vergangenheit abgebildet wird, sie gewissermaßen ein Blick in den Rückspiegel sind, werden die wirtschaftlichen Folgen durch die Corona-Krise erst 2021 und auch verstärkt 2022 einen Einfluss auf die Insolvenzzahlen haben.

Vor Corona waren die Gründe für Insolvenzen meist hohe Mieten. Gilt das auch jetzt?
Grundsätzlich sehen wir sechs Hauptursachen, die die Betroffenen in eine finanziell prekäre Lage führen und damit eine Privatinsolvenz auslösen können. Zu den Gründen gehören Arbeitslosigkeit und reduzierte Arbeit, Einkommensarmut, gescheiterte Selbstständigkeit, unwirtschaftliche Haushaltsführung, Veränderungen in der familiären Situation wie Scheidung beziehungsweise Trennung und Krankheit. Hohe Mieten als alleinige Ursache für eine Privatinsolvenz kommen in der Praxis eher selten vor. Über den Weg der Schulden und der Überschuldung können erhöhte Mieten – als sogenannte Primärschulden – aber als Mit-Auslöser für eine Privatinsolvenz gesehen werden.

Wird in diesem Zusammenhang die frühere Entschuldung (Gesetzesreform) überhaupt langfristig Wirkung zeigen?
Kurzfristig wird es durch die Verkürzung der Restschuldbefreiung auf drei Jahre mehr Privatinsolvenzen in Deutsch­land geben. Ob die Gesetzesreform auch langfristig Wirkung zeigen wird, werden wir in den nächsten Jahren sehen.

Was heißt diese Gesamtentwicklung für das künftige Konsumverhalten der Menschen – vor allem in den Großstädten?
Für den stationären Handel beziehungsweise Anbieter im Konsumentengeschäft sind die Konsequenzen durch Einschränkungen im Konsum spürbar. Nicht umsonst gibt es in Deutschland ein umfangreiches Maßnahmenpaket, um die Folgen der Corona-Pandemie abzumildern. Beim Online-Handel zum Beispiel muss differenziert werden. Seit dem Start des Lockdowns haben wir auf der Datenbank signifikant höhere Anfragen von Online-Shops und -Händlern verzeichnen können. Daher kann die der E-Commerce als ein Gewinner der Krise bezeichnet werden – allerdings ist zu bedenken, dass Händler, die auch POS-Geschäft haben, trotzdem Verluste verzeichnen.

Warum führt Norddeutschland das Negativranking der Privatinsolvenzen an?
Hauptgrund für die Privatinsolvenz ist die Arbeitslosigkeit. Und diese ist im Norden höher als im Süden Deutschlands. Daher gibt es im Norden tendenziell mehr Privatinsolvenzen als im Süden der Republik.

Das Interview führte
Leonore Maria Lubenow,
freie Journalistin

 

Im vergangenen Jahr haben 56.324 Menschen ihre private Insolvenz erklärt. Das sind 35,1 Prozent weniger als 2019. Laut »Schuldenbarometer 2020« des Informationsdienstleisters Crifbürgel sind die Privatinsolvenzen damit das zehnte Mal in Folge auf den niedrigsten Stand seit 2004 (39.213 Privatinsolvenzen) gefallen. Dank Kurzarbeit, weniger Konsum und der Bereitschaft der Bürger auch eigene Ersparnisse aufzubrauchen, haben diese die finanzielle Schieflage teilweise abgemildert. Zudem gab es 2020 eine deutliche Zurückhaltung bei Anschaffungen und eine Einschränkung des Konsums bei den Privatpersonen. Zweitens war das Angebot bei den Schuldnerberatungen stark eingeschränkt, wie unter anderem die Schuldnerberatung in Schleswig-Holstein berichtet, sodass viele überschuldete VerbraucherInnen im vergangenen Jahr auf eine Beratung verzichtet oder diese bewusst verschoben haben. Für Privatpersonen besteht bei Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung keine unmittelbare Insolvenzantragspflicht.

Dass die Privatinsolvenzzahl derart niedrig ist, liegt auch daran, dass viele Privatpersonen letztes Jahr entsprechende Anträge zurückgehalten haben. Sie wollten von einer Gesetzesreform profitieren, die Betroffenen von Privatinsolvenzen künftig schon nach drei, statt wie bisher nach sechs Jahren eine Restschuldbefreiung ermöglicht. Da diese Reform ein großer Vorteil für verschuldete Privatpersonen ist, haben viele Antragssteller auf den entsprechenden Beschluss des Bundestages gewartet. Die Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens auf drei Jahre wird rückwirkend auch für alle Insolvenzverfahren gelten, die ab dem 1. Oktober 2020 beantragt wurden. Damit können auch diejenigen Schuldnerinnen und Schuldner bei einem wirtschaftlichen Neuanfang unterstützt werden, die durch die Covid-19-Pandemie in die Insolvenz geraten sind.