Nostalgie-Comeback

Modellbahnen
Neues altes Hobby in Pandemie-Zeiten: Modellbausätze und Modellbahnen © qphotomania – stock.adobe.com

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Hubertus Siegfried

Die Modelleisenbahn ist wieder da. Um in Pandemie-Zeiten den Kopf freizubekommen, stürzen sich die Deutschen enthusiastisch auf die Gestaltung von Landschaften und Gleisanlagen. Lokomotiven, Waggons und Häuserbausätze sind gefragt wie seit langem nicht mehr. Die Digitalisierung der Schienentechnik und Social-Media-Kanäle dürften dazu führen, dass der Trend weiter anhält

Florian Sieber, geschäftsführender Gesellschafter des Modellbahn-Herstellers Märklin in Göppingen, ist mit einem guten Gefühl in das aktuelle Geschäftsjahr gestartet: »Wir hatten einen um 40 Prozent höheren Auftragsbestand als zum gleichen Zeitpunkt im Vorjahr.«

Gute Zahlen meldet auch Faller, Hersteller von Gebäudebausätzen und Figuren für Modellbahnen in Gütenbach im Schwarzwald. »In dem im Juni zu Ende gegangenen Geschäftsjahr 2020/21 haben wir im Ergebnis ein Plus von 35 Prozent – bei einem Umsatz, der mehr als zwei Millionen Euro höher als im Vorjahr lag«, sagt Marketingmitarbeiter Francisco Hoya.  

Was Spielwarenfachhändler verleitet, mehr Lokomotiven, Waggons, Bahnhöfe, Häuser und Figuren für Modellbahnen zu bestellen, ist die Corona-Pandemie. Die Lockdowns in 2020 und erneut in diesem Frühjahr haben weltweit Begeisterung für die Miniatureisenbahnen geweckt. »Viele Märklin-Fans haben auffallend mehr Zeit mit ihrem Hobby verbracht und andere haben die Modellbahn als neue Freizeitbeschäftigung für sich entdeckt«, sagt Sieber. Zwar sei schon in den Jahren vor der Pandemie die Zahl der Modellbahner und Modellbauer wieder gestiegen, sagt Horst Neidhard, geschäftsführender Gesellschafter von Faller. »Zuletzt hat sich dieser Trend aber rasant verstärkt.«

Enkel wollen den neuesten ICE steuern

In der Pandemie hätten viele Erwachsene ihr früheres Hobby wiederentdeckt und die erneut entflammte Leidenschaft mit Kindern und Enkelkindern geteilt, sagt Steffen Kahnt, Geschäftsführer des BVS Handelsverbands Spielwaren. »Die Corona-Zeit ist zur Modellbauzeit geworden.« Der Trend dürfte anhalten, da sich nun viele Kinder und Jugendliche für die Welt der Miniatureisenbahnen begeistern und Freude daran gefunden haben, aus Plastikbausätzen Automobile, Flugzeuge, Gebäude und Schiffe zu basteln und zu bemalen. »Insbesondere der Absatz von topmodernen Zügen ist spürbar gestiegen«, sagt Kahnt. »Das liegt daran, dass die Enkel gerne den neuesten ICE auf der Modellbahnanlage steuern wollen.«

Die Modellbausparte zähle zu den wirtschaftlichen Gewinnern der Pandemie, sagt Günter Vornholz, Professor für Immobilienökonomie an der EBZ Business School in Bochum. »Hersteller und Fachhändler zählen neben der Möbelbranche zu den wenigen Wirtschaftssektoren, die sich erfolgreich gegen den Konsumstau stemmen konnten.« Nach Berechnungen der Bundesbank ist die Sparquote der Deutschen von Januar 2020 bis April dieses Jahres von 10,9 auf 16 Prozent des frei verfügbaren Einkommens gestiegen. Zusätzliche 228 Milliarden Euro sind so auf den Konten der Banken gelandet.

In der Modellbahnwelt gibt es kein Corona ...

»Dass nicht noch mehr Geld auf Spar-, Tages- und Festgeldkonto gelandet ist, liegt daran, dass viele Menschen die Lockdowns genutzt haben, um die eigenen vier Wände zu verschönern oder in ihre Hobbys zu investieren«, sagt Vornholz. An Letzterem hätten vor allem Hersteller und Fachhandel von Modellbausätzen und Modellbahnen gut partizipiert. »Beides sind ideale Freizeitbeschäftigungen in einer Pandemie, weil sie keine Verletzungsrisiken bergen und allein ausgeübt werden können«, sagt Vornholz. Zudem sei dieses Hobby noch aus einem anderen Grund ideal in einer von vielen Menschen als bedrohlich empfundenen Zeit, sagt der Professor: »Auf ihrer Modellbahnlandschaft können sich Menschen eine heile Welt schaffen, in der kein Sars-CoV-2-Virus existiert.«

Damit hat sich in der Pandemie das bereits zuvor begonnene Revival der Modellbau- und -bahnbranche mit Macht fortgesetzt. Es ist eine 180-Gradwende zur Entwicklung in den Jahren nach dem Millenium. Damals scheint das Ende der Modellbahn nahe. Es sind fast nur noch Rentner, die ihre Zeit damit verbringen, Modelllandschaften entstehen zu lassen. Unter Jugendlichen gilt das Hobby schlichtweg als »uncool«. Am 4. Februar 2009, 153 Jahre nach der Gründung, sieht sich Märklin gezwungen, beim Amtsgericht Göppingen Insolvenz anzumelden. Das Unternehmen, dass der Spengler Theodor Friedrich Wilhelm Märklin 1856 gegründet hatte, um Kinderherzen zu erfreuen, ist zahlungsunfähig – weil Kinder in der neuen digitalen Welt kein Interesse mehr an dessen Produkten haben, sich stattdessen der Game Station und dem PC zuwenden.

2005 ist bereits der österreichische Mitbewerber Roco in Bergheim in die Insolvenz gegangen, wird vom Unternehmer Franz-Josef Haslberger aufgekauft und unter dem Dach der neugegründeten »Modelleisenbahn Holding« restrukturiert. 2008 übernimmt die Holding den Nürnberger Modellbahn-Hersteller Fleischmann. Um wieder in die Gewinnzone zu kommen, werden in Deutschland und Österreich Arbeitsplätze gestrichen und Teile der Produktion nach Vietnam verlagert.

Digitalisierung beschert schnellen Aufschwung nach dem Niedergang

Auch die Hersteller von Modelbahn-Zubehör trifft die Krise. Der Schöpflocher Gebäudehersteller Kibri geht 2010 insolvent und wird vom Mitbewerber Viessmann im hessischen Hatzfeld übernommen. Das auf Lichtsignale und Oberleitungen spezialisierte Unternehmen übernimmt 2014 auch Modell-Lizenzen der Marke Vollmer, die im Sommer jenen Jahres den Betrieb einstellt. Die Produktion wird nach Ungarn verlagert.

Dem Niedergang der Branche nach der Jahrtausendwende folgt bald ein neuer Aufschwung. Bei Märklin arbeitet Insolvenzverwalter Michael Pluta mit den Gläubiger-Banken, der BW-Bank, Goldman Sachs und der Kreissparkasse Göppingen einen Plan aus, damit das Unternehmen aus eigener Kraft gesunden kann. 2012 erzielt Märklin wieder einen Gewinn vor Steuern und Zinsen von rund zehn Millionen Euro – bei einem Umsatz von 109 Millionen Euro. 2013 übernehmen der Gründer des Spielzeugherstellers Simba-Dickie, Michael Sieber, und sein Sohn Florian den Modellbahn-Hersteller.

Die Digitalisierung wird massiv vorangetrieben. »Märklin verbindet die klassische Mechanik mit immer mehr Elektronik bis hin zur digitalen Welt«, sagt Jörg Iske, Marketingleiter des Göppinger Modellbahnproduzenten. Züge lassen sich über einen WLAN-Router per App über Smartphone, Tablet oder Desktop-PCs steuern. Das weckt bei technikaffinen Jugendlichen Interesse am Hobby. Hinzu kommen die neuen sozialen Medien: »YouTube und Instagram bringen jüngere Männer zum Modellbau«, sagt Faller-Marketeer Hoya. »Sie posten auf den Kanälen Videos und Fotos, wie sie Bausätze erstellen.« Das weckt bei den Zuschauern die Lust, selbst in den Modellbau einzusteigen. Lag das Durchschnittsalter der Kunden zuvor jenseits des 50. Lebensjahrs, erwerben nun immer mehr Unter-40-Jährige Bausätze – oder sie machen sich daran, Modellbahnlandschaften zu kreieren.

Modellbau macht den Kopf frei

Die Pandemie schließlich beflügelt das Branchenrevival massiv. »Immer mehr Menschen entdecken für sich, dass der Modellbau den Kopf freimacht«, sagt Hoya. Wenn kleine Plastikteile exakt bemalt und zusammengeklebt werden, ist Konzentration gefragt. »Da bleibt keine Zeit, um an das Virus zu denken.«

In den Jahren vor der Pandemie ist die Zahl der Spielwarenfachhändler kontinuierlich gesunken. Existierten 2017 noch 2.963 Einzelhändler mit dem Schwerpunkt Spielwaren, registriert der Fachverband BVS im Jahr 2019 nur noch 2.815 solcher Firmen. »Aufgegeben wurden Geschäfte vor allem, weil stationäre Händler, die das Rentenalter erreicht hatten, keinen Nachfolger fanden«, sagt Hoya.

Nur wenige junge Unternehmer wagten sich noch in das Segment angesichts der Konkurrenz durch E-Commerce-Anbieter. Nicht ganz zu Unrecht. »Amazon ist unser größter Einzelabnehmer«, sagt der Faller-Marketingmann. Nach BVS-Berechnungen wurden 2019 noch 42 Prozent der Spielwaren in Deutschland über das Web verkauft. Im vergangenen Jahren waren es, mitbedingt durch die Lockdowns, 52 Prozent  – allerdings nicht nur über reine Online-Händler wie Amazon, sondern auch über die Internet-Vertriebskanäle der Fachhändler und Warenhäuser. Der Absatzanteil im stationären Fachhandel ist den Verbandszahlen zufolge hingegen von 26 Prozent in 2019 auf 18 Prozent in 2020 gesunken.

Chancen für den stationären Fachhandel

Allerdings gehört die Haptik zum Hobby Modellbahn unbedingt dazu. Für Lokomotiven werden Preise von zum Teil mehr als 600 Euro aufgerufen. »Wer so viel Geld ausgibt, will das Produkt vor dem Kauf in die Hand nehmen«, sagt Ökonom Vornholz. Ohne umfassende Beratung im Fachhandel ließen sich die Kernprodukte der Modellbahnbranche nur schwerlich verkaufen.

Das Wachstum der Branche werde sich in den kommenden Jahren fortsetzen, meint Märklins Marketingleiter Iske. »Wir sind überzeugt, dass der Trend nachhaltig ist.« Wer einmal in das Hobby eingestiegen ist, bleibe dabei. »Der Spaß entsteht mit der kontinuierlichen Beschäftigung immer wieder aufs Neue«, sagt Iske.

Um weitere Kunden zu gewinnen, setzt Märklin bei seiner diesjährigen Weihnachtswerbung auf »die Erinnerung an die positiven Erlebnisse während der eigenen Kindheit, als man mit Eltern oder Großeltern Bahn gespielt hat«, sagt der Marketingleiter. Der Videospot, der auf YouTube und der eigenen Website flimmert, zeigt, wie ein Vater und seine Tochter – wie durch Magie – gemeinsam in eine Modellbahnlandschaft eintauchen und Teil von ihr werden.

Es ist keineswegs der erste geschlechterübergreifende Spot der Göppinger. Bereits 1963 ließ das Unternehmen in einem Werbefilm ein Geschwisterpaar samt deren Eltern mit einer Modellbahn spielen. Motto: Märklin, für Jung und Alt, für Mann und Frau.


Ein Beitrag von
Hubertus Siegfried,
freier Journalist