Quartiere brauchen Unschärfe

Dr. Thomas Beyerle
Dr. Thomas Beyerle © IVG AG / Gaby Sommer

Interview
Herausforderung

Susanne Osadnik

Dr. Thomas Beyerle, Chef-Researcher der Catella Real Estate AG, einem europaweit tätigen Anbieter für Immobilieninvestments, zur städtischen Quartiersentwicklung

Herr Dr. Beyerle, Catella kommt im August auf die stattliche Anzahl von 564 Quartiere zwischen Kiel und Garmisch-Partenkirchen. Kann man bei Quartieren von einer eigenen Assetklasse sprechen?
Dr. Thomas Beyerle: Wir sind etwas zurückhaltend, Quartiere als eigene Assetklasse zu betrachten. Denn was ein gutes Quartier ausmacht, ist seine Heterogenität und Unschärfe durch einen Nutzungsmix, der keinesfalls zu standardisiert sein soll. Mehr noch: Ein Quartier ist immer in Bewegung und unterliegt immer einem gewissen Veränderungsdruck und -willen. Das alles weist darauf hin, dass Quartiere untereinander nicht wirklich vergleichbar sind. Das müssten sie aber sein, wenn man sie im Rahmen eines eigenen Immobiliensegments betrachten würde.  

Sollten Quartiere daher besser Experimentierflächen für städtische Entwicklungen bleiben?
Auf jeden Fall. Es wäre fatal, ihnen die Kreativität zu nehmen. Bei einer Quartiersentwicklung entsteht meist ein autarker und eigenständiger Raum, der im besten Fall Strahlkraft nach außen besitzt, was voraussetzt, dass er so angelegt wird, dass eine Öffnung nach außen möglich ist. Das beste Beispiel dafür ist die Hamburger Hafencity, die wächst und sich den Bedürfnissen der Menschen entsprechend weiter entwickelt. In den meisten Fällen entstehen Quartiere auf Flächen, die einst anders genutzt wurden, etwa in Mönchengladbach, wo auf dem ehemaligen Güterbahnhofsgelände das Projekt Seestadt mg+ entsteht – mit starkem Fokus  auf publikumsbezogene Nutzung in Form von Kitas, Car-Sharing und E-Bike-Stationen, die das Angebot von Wohn- und weiteren gewerblichen Flächen ergänzen. Solche neuen Quartiere können das gesamte Stadtbild nachhaltig verändern.

Welchen Einfluss hat die Covid19-Pandemie auf künftige Quartiersentwicklungen?
Dass es Veränderungen geben wird, sehen wir schon jetzt. Seit Monaten wählen wir die »kurzen Wege« und kaufen wieder verstärkt beim Bäcker um die Ecke ein. Corona hat bewirkt, dass wir einerseits mehr online bestellen und uns das Essen durch den Lieferservice nach Hause bringen lassen, aber andererseits auch wieder mehr auf lokale oder regionale Produkte setzen. Denn im Lockdown haben wir gelernt: Alles, was von weit her kommt, kann in Krisenzeiten schnell nicht mehr verfügbar sein. Das ist die Chance für den stationären Einzelhandel in den Quartieren und ein Wiederbeleben für sogenannte Tante-Emma-Läden in der Version 2.0. Ein Geschäft, das in den vergangenen Monaten sowohl Schuhreparaturen einnahm als auch Schüssel fertigte und Batterien in allen Größen vorrätig hatte, war ein Segen für die Kunden. In der Nahversorgung können solche Konzepte künftig eine größere Rolle spielen. 

Das Gespräch führte
Susanne Osadnik,
Chefredakteurin GCM