Rückwärts in die Zukunft denken

Spinnerei bei Rymhart
Spinnerei bei Rymhart © Rymhart

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Richard Haimann

Während die Corona-Pandemie erst die Weltwirtschaft in die Rezession getrieben und nun durch Engpässe in den Lieferketten deren Erholung verzögert, zählen diese Betriebe zu den Gewinnern: Textilmanufakturen, die Kleidungsstücke in Deutschland produzieren. Nicht nur der inländische Produktionsriese Trigema hält die Tradition hoch und sichert Arbeitsplätze im Land. Auch eine Reihe kleiner Firmen strickt, schneidert und walkt zwischen der norddeutschen Geest und der Schwäbischen Alb – und hat dabei Klassiker made in Germany geschaffen, die rund um den Globus gefragt sind

In der Strickerei Karl Siegel in Stade geht es auch zu Beginn des Advents, der alljährlichen Stoßzeit im Textilgeschäft, norddeutsch gelassen zu. »Alles sutsche«, sagt Marketingleiter Sven Promer. Dabei surren, schwirren und rattern in der Manufaktur 25 Strickmaschinen, um zu fertigen, was viele Segler und Naturliebhaber am Heiligen Abend auf dem Gabentisch zu finden wünschen: den Rymhart – ein je nach Größe bis zu zwei Kilo wiegender Seemannspullover von legendärem Ruf: Die Wollprodukte gelten als beinahe unzerstörbar. Sie altern mit ihren Besitzern und nehmen mit der Zeit die Patina gemeinsam erfahrener Abenteuer an.

Doch trotz der eingehenden Flut an Bestellungen sind Promer und die übrigen 42 Mitarbeitenden der Strickerei entspannt. In der Schneiderei konfektionieren sieben Mitarbeiterinnen mit ruhigen, versierten Händen aus den gestrickten Einzelteilen die klassischen Troyer, Wollmützen und Hoodys, die bei Wassersportlern, Fischern, Jägern und Alpinisten hoch im Kurs stehen.

Die aus Südamerika stammende Wolle für das Sortiment sei längst eingetroffen, sagt Promer. Von den weltweit aus dem Takt geratenen Lieferketten sei die Strickerei nicht betroffen. »Wir müssen uns nicht sorgen, dass bestellte Lieferungen aus Fernost wegen fehlender Frachtkapazitäten auf den Weltmeeren nicht rechtzeitig für das Weihnachtsgeschäft eintreffen«, sagt der Mann mit der Glatze und der markanten schwarz umrandeten Brille. Auf der Website hat er zur Beruhigung der Kunden vermerken lassen: »Es gibt keinen Grund für voreilige oder frühzeitige Bestellungen.«

Langlebigkeit ist Lebensqualität

»Rüm hart – klaar kiming.« Das jahrhundertealte Motto friesischer Kapitäne dient als Namensgeber der Marke: Weites Herz – klarer Horizont. Das raue Wetter in der Elbmündung und die nahe, stürmische Nordsee haben erst Berufs- und Freizeitkapitäne zu den Pullovern greifen lassen, die auch einer steife Brise widerstehen. Inzwischen sind auch Golfer, Wanderer und Bergsteiger hinzugekommen. Mit Preisen von bis zu 300 Euro sind die Wollwaren aus Stade kein Schnäppchen. »Wir sind im hochpreisigen Bereich unterwegs«, gibt Promer unumwunden zu. Die Kunden störe es nicht. »Wir bieten Langlebigkeit und transportieren ein Stück Lebensqualität.«

Das 1948 von Gründer Karl Siegel in einer Baracke auf dem einstigen Militär-Flugplatz in Stade-Ottenbeck aufgebaute Unternehmen zählt zu den wenigen deutschen Textilanbietern, die immer noch hier im Land produzieren. Es ist eine kleine Riege von Firmen, die sich dem Globalisierungstrend widersetzt und ihre Produktion nicht in Niedriglohnstaaten im Fernen Osten oder ins Baltikum ausgelagert haben. Stattdessen setzen sie auf Qualität »Made in Germany«.

Jetzt, da die Corona-Pandemie erst die Weltwirtschaft in die Rezession getrieben hat und nun durch Engpässe in den Lieferketten deren Erholung verzögert, zählen diese Betriebe zu den Gewinnern. Ein Beispiel dafür ist die Mufflon Strickwarenfabrik im schleswig-holsteinischen Wahl­stedt, Fertigungsstätte der bei Outdoor-Enthusiasten begehrten Jacken, Ponchos und Röcke aus gewalkter Wolle, die mit dem Namen des robusten Wildschafs vertrieben werden. »Die Wolle aus Neuseeland, Südafrika und Südamerika für unsere Mufflon-Produkte ist längst angekommen. Unsere Garne beziehen wir direkt aus Österreich«, sagt Inhaber Frank Schürmeyer.

Zwar kosten die zum Nähen verwendeten Textilgewirke aus der Alpenrepublik deutlich mehr als Garne aus China. »Dafür ist die Qualität aber deutlich besser und wir haben keine Lieferprobleme«, erklärt Schürmeyer. Das wissen Fachhändler wie Arts-Outdoors, Bergfreunde, Globetrotter, Grube und Unterwegs zu schätzen, bei denen die Mufflon-Waren seit Jahren fester Bestandteil des Sortiments sind. »Die Nachfrage aus dem Fachhandel ist in diesem und den vergangenen Jahren deutlich gestiegen«, sagt der Inhaber.

Es geht auch ohne »höher, schneller, weiter«

Das liegt zum einen an dem mit der Pandemie ausgelösten Drang in die Natur. Zum anderen an der Erkenntnis, dass Mufflon seine Ware verlässlich liefern kann. Im Gegensatz dazu müssen Fachhändler bei den großen international produzierenden Textilherstellern bibbern, ob und wann georderte Ware den Weg in die Geschäfte findet. Globetrotter, mit 1.100 Mitarbeitenden und 21 Filialen quer verteilt über Deutschland der Primus der Outdoorbranche, warnt in der aktuellen Winter-Ausgabe seines Kundenmagazins gleich auf mehreren Seiten: »Lieferengpässe sind möglich.«

Wachstumsgelüste hat Schürmeyer jedoch nicht. Zum einen aus Prinzip. Eine etablierte Firma könne auch ohne »schneller, höher, weiter« dauerhaft existieren, wenn sie mit ihren Produkten überzeuge, sagt der Inhaber. Zum anderen aufgrund von Zwängen: »Hier in Wahlstedt haben wir keine Erweiterungsmöglichkeiten«, sagt Schürmeyer.

Und ein Umzug an einen anderen Standort komme nicht in Frage. Allein schon deshalb, weil Fachkräfte schwer zu finden sind. Der mit der Verlagerung der Produktion nach Fernost eingeleitete Niedergang der deutschen Textilindustrie hat dazu geführt, dass kaum noch junge Menschen eine Ausbildung in dieser Branche anstreben. Für Mufflon war deshalb der Zustrom der Flüchtlinge im Jahr 2015 ein Geschenk. »Unter unseren 22 Mitarbeitenden sind drei Afghanen und ein Syrer«, berichtet der Inhaber. »Sie haben das Schneidern und die Techniken der Wollverarbeitung in ihren Heimatländern gelernt.«

Hingegen sind unter den in Deutschland geborenen Beschäftigten eine Reihe von Quereinsteigern zu finden. Menschen, die erst andere Berufe erlernt und dann ihre Leidenschaft für Textilproduktion entdeckt haben. »Wir haben sogar eine frühere Verwaltungsangestellte bei uns«, sagt Schürmeyer. »Sie hat irgendwann entdeckt, dass ihr diese Tätigkeit einfach keine Freude macht.«

Umsatzsteigerung ohne kostspielige Werbekampagnen

Kräftig partizipiert vom Pandemie getriebenen Trend zur Natur haben auch die Stader. 2020 wurden erstmals 21.000 Artikel aus dem Rymhart-Sortiment verkauft. »Dieses Jahr werden es mindestens 25.000 Hoodys, Troyer, Shirts und Mützen sein«, sagt Marketingchef Promer. Und das ohne große Werbekampagne. »Das Marketing-Budget beträgt gerade einmal drei Prozent des Umsatzes«, sagt Promer. Anzeigen in Printmedien? Radio-Spots? Fehlanzeige. »Wir werben nicht aggressiv«, sagt der Marketingchef. Die Strickerei erzähle lediglich auf ihrer Internetseite die Geschichte ihrer Pullover und setze auf Mund-zu-Mund-Propaganda. »Unsere beste Werbung sind zufriedene Kunden«, sagt Promer.

Ganz anders verfährt Trigema, der mit Abstand größte noch in Deutschland fertigende Textilproduzent. 1919 im schwäbischen Burladingen gegründet, produzieren heutzutage in der 12.000 Einwohner zählenden Kleinstadt auf der Schwäbischen Alb rund 1.200 Beschäftigte hochwertige Sport- und Freizeitkleidung sowie Tag- und Nachtwäsche.

Bundesweit bekannt gemacht hat Wolfgang Grupp, Inhaber und alleiniger Geschäftsführer, sein Unternehmen mit einem Affen: 25 Jahre lang, von 1990 bis 2015, ließ der heute 79-Jährige werktäglich in der »Best Minute« vor der Tagesschau einen Schimpansen, bekleidet mit Hemd und Krawatte, von den Vorzügen der Textilien Made in Baden-Württemberg künden. Alles ohne Werbeagenturen, von denen Grupp wenig hält. Für den Spot wurde ursprünglich für einen Großkonzern erstelltes  Filmmaterial verwendet und mit einer neuen Tonspur unterlegt.

Auch Trigema ist nicht von funktionierenden, kurz getakteten Lieferketten quer über die Weltmeere hinweg abhängig. Vom Garn bis zum fertigen Poloshirt realisiert das Unternehmen alle Produktionsstufen im eigenen Haus. Wie bei anderen noch immer in Deutschland produzierenden Unternehmen war auch für Grupp die Fertigung im eigenen Land immer eine Grundüberzeugung. Ein Beitrag zur Sicherung des Wohlstands der Gesellschaft. »Nur wer Arbeit hat, kann investieren – und nur wenn Investitionen getätigt werden, ist auch Arbeit da«, lautet das Credo des Unternehmers. »Eine Wirtschaft, die diese Wechselwirkung vergisst, gefährdet den Wohlstand ihrer Gemeinschaft zugunsten einiger weniger Profiteure.«

Arbeitslöhne in Deutschland sind nicht zu hoch ...

Für die Menschen im Zollernalbkreis ist Trigema einer der bedeutendsten Arbeitgeber. Wer bei Grupp schafft, ernährt nicht nur seine eigene Familie, sondern sichert mit seiner Kaufkraft auch die Existenz von Einzelhändlern und Handwerksbetrieben – von der Bäckerei bis zum Zimmerer. Daran soll sich auch künftig nichts ändern. Jedes Jahr bildet das Unternehmen 40 bis 50 junge Menschen in Produktion, Verwaltung und Vertrieb aus.

»Wir dürfen nicht noch mehr Arbeitsplätze abbauen, verdiente Mitarbeiter auf die Straße schicken und der Jugend keine Perspektiven mehr bieten«, sagt Grupp. »Der Arbeitslohn ist in Deutschland nicht zu teuer, wenn die Arbeitskraft richtig eingesetzt wird, die Arbeitnehmer motiviert sind und die Leistung in ein verkaufbares Produkt eingeht.« Aufgabe der Unternehmer sei es, dafür die Bedingungen zu schaffen. »Nicht Macht, Marktanteile und Größe dürfen für unser Handeln bestimmend sein, sondern Solidität, Verantwortung für die Mitmenschen, Gerechtigkeit und Beständigkeit«, sagt Grupp.

Gitta und Peter Plotnicki, studierte Modedesigner, Lebens- und Geschäftspartner, steuern kein Traditionsunternehmen in die Zukunft. Sie haben ein untergegangenes wieder auferstehen lassen. Vor mehr als zehn Jahren entdeckt das Berliner Paar beim Flohmarktbummel in der Spreemetropole ein 1911 gefertigtes, gut erhaltenes Knopfleistenhemd. Geschneidert in der vor 110 Jahren von Balthasar Merz gegründeten Textilmanufaktur Merz b. Schwanen auf der Schwäbischen Alb. »Wir waren sofort in das Stück verliebt«, sagt Gitta Plotnicki. »Es kribbelte in den Fingern.«

Sie recherchieren, fahren schließlich nach Albstadt, knapp 60 Kilometer vor dem Bodensee, um dort Rudolf Loder zu treffen. Der zählt ebenfalls zur kleinen Schar der noch immer in Deutschland fertigenden Textilhersteller, produziert mit seiner kleinen Traditionsmarke Gota noch heute Damen- und Herrenunterwäsche in altbewährter Weise in der 45.000 Einwohner zählenden Kleinstadt auf der Alb. Und Loder verfügt über einen Schatz: Rundwirkmaschinen aus dem vergangenen und vorvergangenen Jahrhundert. Seit Jahrzehnten unbenutzt und mit Staub bedeckt.

»Merz b. Schwanen« – ein Unternehmen kehrt zurück

Der Textilproduzent und die Modedesigner finden schnell zueinander. »Gittas und Peters Idee faszinierte mich: Diese alten Maschinen wiederzubeleben, mit der Absicht einen neuen und zugleich traditionell hergestellten Jersey zu fertigen«, sagt Loder.

Die komplexen alten Maschinen werden restauriert, Fachkräfte gefunden, die sie noch bedienen können. Die Nachkommen von Balthasar Merz sind von der Idee begeistert, gestatten dem Berliner Paar, den ursprünglichen Markennamen »Merz b. Schwanen« zu verwenden. »Auf einmal hielten wir mehr als ein Jahrhundert Unternehmensgeschichte in unseren Händen«, sagt Peter Plotnicki. »Wir hätten uns keine bessere Unterstützung und Motivation vorstellen können.«

Im Januar 2011, exakt 100 Jahre nach Gründung der einstigen Manufaktur, kommt die erste Kollektion heraus, präsentiert auf der internationalen Modemesse »Bread & Butter« in Berlin: Henleys, Knopfleistenhemden im Stil der 1920er und 1930er Jahre, kombiniert mit modernem Design. Inzwischen sind T- und Sweatshirts sowie Unterwäsche aus Biobaumwolle und Viskose sowie Merinowollpullover hinzugekommen. »Wir führen die Geschichte von Merz b. Schwanen mit authentischen sowie modernen Stoffen und Designs fort«, sagt Gitta Plotnicki. »Dabei achten wir darauf, im Einklang mit der Tradition der Marke zu bleiben.«

Heute sind die Produkte des Berliner Paares in Fachgeschäften rund um den Globus zu finden. Bei Brogue in Hamburg und im 14oz. Warhouse in Berlin ebenso wie bei Hansen in Kopenhagen und bei Pinkomo in Helsinki, im Pariser Centre Commercial genauso wie im Freeport von Tokio, im Moskauer Tweed Hat und bei Ab Fits in San Francisco.

Was auffällt: Die aktuell im Marketing gängigen Schlagworte »Nachhaltigkeit« und »Ökologie« sind in der Eigendarstellung der meisten kleinen, noch im Land produzierenden Textilhersteller rar gesät. Obwohl sie auf Kunstfasern verzichten, stattdessen überwiegend Wolle und Bio-Baumwolle verwenden.

Bei Rymhart sei dies eine bewusst gewählte Entscheidung, sagt Marketingchef Promer: »Wir wollen mit der Qualität unserer Produkte überzeugen und nicht mit mahnenden Worten Menschen für den Schutz von Natur und Umwelt bekehren.« Ein zu »grüner Anstrich« in der Eigendarstellung könnte jene verschrecken, denen diese Aspekte derzeit nicht wichtig sind. »Wir kommen als Gesellschaft nicht weiter, wenn wir uns immer mehr polarisieren«, sagt Promer. »Die Transformation zu einer nachhaltigen Gesellschaft und Wirtschaft ist ein langer Prozess.« Änderungen im Konsumverhalten könnten nicht herbeigeführt werden, »indem radikal ein Schalter von einem Tag auf den anderen umgelegt wird«.


Ein Beitrag von
Richard Haimann,
freier Journalist