Stärken gebündelt, gemeinsam erfolgreich

virusfreier Einkaufswagen
Virusfreier Einkaufswagen, da der Griff mit dem Spezialstoff von sanSirro überzogen ist © sanSirro

Handel und Immobilien
Strategie

Susanne Osadnik

Der Einzelhandel hat in den vergangenen Monaten bewiesen, dass er sich in Rekordzeit neu erfinden kann. Jetzt aber gilt es, die Weichen für langfristige Planungen zu stellen und dabei kreative Strategien zu entwickeln

Wie findig Unternehmer in Krisenzeiten sein können, haben viele von ihnen in den vergangenen Monaten bewiesen. Der Handel reagierte blitzschnell auf die neuen Herausforderungen, fand Möglichkeiten, unterbrochene Lieferketten zu umgehen und seine Kunden am Ende doch wieder zufriedenzustellen. Engpässe bei Nahrungs- und Versorgungsgütern gab es nur dort, wo Konsumenten überreagierten und mit dem Horten von Waren begannen. Bald sahen wir deshalb in unseren Supermärkten, dass die Hefe auch aus Portugal, das Mehl aus Italien und das Klopapier aus Polen kommen kann. Notstand sieht anders aus.

Antibakterielles Material auch nach Corona

Auch die Bekleidungsindustrie sprang zielsicher auf den Zug auf und stellte ganze Produktionen im Frühjahr auf händeringend gebrauchte Masken um. Das kam teilweise so gut an, dass es inzwischen kaum einen Haushalt gibt, der nicht über eine Stoffmaske des Textilunternehmens van Laack, einem Hersteller für hochwertige Hemden, verfügt – dank dessen Massenproduktion und des Vertriebs über Lebensmitteldiscounter wie Lidl, Aldi, Netto & Co., aber auch über Drogeriemärkte wie dm oder Budnikowski. Die dreilagigen antibakteriellen Mundschutzmasken sind längst ein Klassiker geworden – jahreszeitlich angepasst aktuell auch als Winterversion mit Weihnachtsmann- oder Sternmotiven erhältlich.

Ob im Sommer noch jemand Schutzmasken kaufen wird, ist ungewiss. Denn mit den ersten Impfungen wird vermutlich auch die Bereitschaft in der Bevölkerung sinken, mit dem ungeliebten Accessoire vor dem Gesicht herumzulaufen. Die Gefahr einer Infektion mit Covid-19 wird indes noch länger nicht zuverlässig gebannt sein.

»Kommt der Kunde nicht zu mir, muss ich zum Kunden kommen«

Darauf setzt auch das Unternehmen sanSirro, das einen antibakteriellen Stoff entwickelt hat, der Viren, Pilze und Bakterien deaktivieren soll. Die Österreicher sind sicher, dass es auch künftig noch reichlich Bedarf an ihren Produkten geben wird. »Berührungsängste vor U-Bahn-Haltestangen gibt es nicht erst seit Covid-19, doch den Lichtschalter im Büro oder den Einkaufswagen im Supermarkt sehen viele Menschen durch die Pandemie plötzlich mit anderen Augen«, sagt Hannes Steiner, Geschäftsführer von sanSirro. »Hygiene erhält in der neuen Normalität einen höheren Stellenwert. So werden viele Menschen potenzielle Ansteckungsherde möglichst vermeiden wollen. Vor allem dort, wo Oberflächen berührt werden, waren praktikable Lösungen bislang Mangelware.« Etwa in Krankenhäusern,  Kindergärten, Schulen, öffentlichen Gebäuden, Arztpraxen und Büros. »Virus Free« könne beispielsweise als Handschuh getragen, über Türklinken gezogen oder auf Lichtschaltern angebracht werden. Die Resonanz sei positiv, sagt Steiner. Leider aber gehe der öffentlichen Hand zurzeit das Geld aus. Da sei fraglich, wie viel noch zusätzlich in Hygienemaßnahmen investiert werde. Dennoch ist man bei sanSirro zuversichtlich: »Immerhin kostet die Ausrüstung einer Schule mit rund 100 Türklinken-Ummantelungen gerade einmal 450 Euro«, so Steiner. »Dafür aber spart man die Kosten für Desinfektionsmittel.«

Noch werden die unterschiedlichen Produkte wie Fingerhüte (TIPsafe, etwa zur gefahrlosen Benutzung von Fahrkartenautomaten), Handschuhe (FEELsafe) sowie Ummantelungen für Türklinken (TOUCHsafe) und Einkaufswagen-Griffe (SHOPsafe) über das Internet vertrieben. Aber bald könnte es die antibakteriellen Textilien auch in deutschen Supermärkten zu kaufen geben.

Aus Sicht von Klaus Striebich hat der Handel längst gezeigt, dass er kurzfristig auf schwierige Situationen reagieren kann. Nicht zuletzt die zahlreichen Delivery-Systeme, die in diesem Jahr in Rekordzeit geschaffen wurden, zeugten von der Fähigkeit, sich schnell anzupassen. »Sehr viele Einzelhändler haben schnell verstanden, dass sie sich bewegen müssen, wenn sie ihre Kunden erreichen wollen«, sagt der Inhaber des Beratungsunternehmens »RaRE Advise – Retail and Real Estate«. »Kann der Kunde – wie aktuell coronabedingt – nicht zu mir kommen, muss ich zu meinem Kunden kommen.«

Ob Gastronomie, Buchhandel, Modeboutique – allesamt haben sich mancherorts zusammengetan und über gemeinsame Plattformen versucht, ihre Kunden auch in Ausnahmezeiten zu erreichen. Schon frohlockt die Handelsbranche, dass der digitale Zug, der durch Corona ins Rollen gebracht wurde, bald volle Fahrt aufnehmen wird. Dieter Bullinger ist indes nicht sicher, ob auch alle wirklich immer dasselbe meinen, wenn sie wie aktuell von »Beschleunigung der Digitalisierung« durch Corona sprechen. Der Mann beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Entwicklung, Umstrukturierung und Neupositionierung von Einkaufszentren und hat für Branchengrössen wie ECE gearbeitet, bevor er sich mit seinem Shopping-Center-Beratungsunternehmen debecon GmbH selbstständig gemacht hat und seitdem insbesondere auf Einkaufszentren in der Schweiz, in Österreich und Deutschland spezialisiert ist.

»… Plattformen sind zu klein und zu ineffizient«

Aus Bullingers Sicht gilt es bei der Digitalisierung im Handel grundsätzlich zwei große Bereiche zu unterscheiden: Zum einen die Vertriebsschiene, unter die auch Entwicklungen zum Omnichannel fallen; zum anderen der Bereich geschäftsinterner Prozesse, bei dem es um die Verknüpfung der verschiedenen Unternehmensbereiche geht – von der Lagerverwaltung über das Rechnungswesen bis hin zum Personal- und zum Kundenbeziehungsmanagement. »Vor allem in diesem zweiten Bereich passiert durch die Corona-Krise eher weniger als mehr«, so Bullinger. »Einfach nur eine Homepage basteln lassen, die im weltweiten Riesennetz untergeht und von meinen Kunden gar nicht gefunden wird, ist nicht der richtige Weg.«

Lokale oder regionale Plattformen für den gemeinsamen Warenvertrieb aufzubauen – wie in den vergangenen Monaten häufig schon passiert – sei zwar der bessere Ansatz. Aber: »In den meisten Fällen sind diese Plattformen viel zu klein und zu ineffizient«, sagt Bullinger. »Auch die Bereitschaft der Händler mitzumachen, muss deutlich größer werden.« Häufig fänden sich lediglich ein paar Dutzend Detailhändler zusammen – in einem städtischen Umfeld, in dem es mehrere tausend Handelsunternehmen gebe. Aber auch in den Shopping Centern sei man noch weit von wirklicher Digitalisierung entfernt. Zwar werde versucht, die im Center vertretenen Geschäfte auf einer gemeinsamen Plattform anzusiedeln, aber das sei durchaus problematisch. »Die Händler vor Ort müssten auf dieser Plattform eigentlich ihre Warenwirtschaftssysteme so synchronisieren, dass man als Kunde jederzeit Einblick hat, wie viel Ware wo vorrätig ist«, erklärt Bullinger. »Diese Transparenz ist zwar aus Kundensicht wünschenswert, offenbart meiner Konkurrenz aber auch viel über mein Geschäft. Vor allem, wenn ich ähnliche oder sogar identische Produkte vertreibe, kann das ein Thema sein. Und der Grund, warum ich mich als Detailhändler vielleicht nicht an einer Plattform beteiligen will.«

Starke Marken + kompetente Händler = Erfolg

Selbst für diejenigen, die mit auf den Zug aufspringen wollen, sieht Einzelhandelsexperte Striebich noch einen langen Weg vor sich liegen und ist sicher, dass es nicht jeder Unternehmer schaffen wird. »Allen steht enorme Arbeit beim Aufbau digitaler Strukturen bevor. Dazu kommt, dass der Kunde von heute auch sehr viel fordernder und anspruchsvoller als früher ist«, so Striebich. »Aber, wer sein Geschäft auch künftig noch betreiben will, hat keine Alternative.« Der Handelsverband Deutschland (HDE) sieht zurzeit die Existenz von bis zu 50.000 Geschäften bedroht. Zum Teil ist Corona daran schuld. Aber ebenso sei der Grund dafür auch, dass viele Handelsbetriebe bisher nur in geringer Zahl digitalisiert seien.

Für ebenso wichtig wie das Fortschreiten der Digitalisierung hält Striebich, sich als Händler um Kooperationen mit Marken zu bemühen. »Wir kennen schon zahlreiche Beispiele, die belegen, wie produktiv die Zusammenarbeit von Partnern aus vollkommen unterschiedlichen Branchen sein kann«, sagt der Retail-Fachmann. »Im Bündeln von Stärken steckt der wirtschaftliche Erfolg.«

Beispiel: Montblanc und Pirelli. Auf den ersten Blick verbindet den Hersteller hochwertiger Schreibgeräte und Uhren aus Hamburg nicht das Geringste mit dem italienischen Autoreifenproduzenten. Umso effektvoller ist deren Zusammenarbeit. Montblanc erweitert seine Produktpalette um schicke Koffer und lässt Pirelli dafür die Rollen konstruieren. Das Koffermodell richtet sich speziell an Reisende, die sich unterwegs effiziente, strapazierfähige und komfortable Begleiter wünschen. Für Striebich ist das ein gelungener Coup: »Die Grundkompetenz des Qualitätsreifenherstellers wird mit einer Marke kombiniert, deren Produkte als luxuriös gelten. Damit signalisiere ich meinem Kunden, nur das Allerbeste für ihn zu kreieren.«

Scheint zu funktionieren. Die limitierte Koffer-Kollektion kommt im vergangenen Jahr so gut an, dass in diesem Herbst – trotz Corona und eingeschränkter Reisemöglichkeiten – die beiden Unternehmen nun weitere Gepäckstücke in begrenzter Edition anbieten: Neben der Schale aus schwarzem Polycarbonat und den gummierten Lederelementen in Rot bieten die leichten Gepäckstücke leistungsstarke Reifen mit eingebautem Kugellager.

Die gewinnträchtige Allianz hat bereits Nachahmer gefunden. Pünktlich zur Pariser Fashion Week im Oktober präsentierte das französische Taschen-Modelabel Longchamp in Zusammenarbeit mit dem japanischen Videospielunternehmen Pokémon eine luxuriöse Taschen- und Rucksacklinie mit Pikachu, dem Kult-Maskottchen der Japaner. Zu der Serie gehören auch mehrere Accessoires, darunter ein iPhone-Case und ein Seidenschal. Die Botschaft: Mit dieser Kollektion verbindet Longchamp seine kultigen, schicken Linien und den Stil mit der verspielten Haltung von Pokémon und ist so temperamentvoll und elektrisierend wie das freche Pikachu, das auf jeder Tasche eingeprägt oder aufgedruckt ist.

Ein Beitrag von
Susanne Osadnik,
Chefredaktion GCG