Stratēgēma – Handeln aufgrund von Erkenntnissen

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Zoom hat seinen Umsatz gegenüber dem Vorjahreszeitraum vervierfacht und den Gewinn mehr als verdreißigfacht © Вадим Пастух / stock.adobe.com

Strategie

Richard Haimann

Informationen sammeln, logische Schlüsse ziehen, Ziele setzen und vorausschauend planen – die Kunst der Strategie ermöglicht es Menschen, die Zukunft nach ihren Vorstellungen zu gestalten und Herausforderungen erfolgreich zu bewältigen. Eine Fähigkeit, die gerade in der gegenwärtigen Krise besonders benötigt wird. Insbesondere der Einzelhandel braucht jetzt Weitblick, Durchhaltevermögen und Visionen. Alles in allem steht es hierzulande aber viel besser um die Geschäftswelt als stetige Unkenrufe vermuten lassen

Fiebrige Haut, pfeifende Bronchien, Auswurf, dazu Hals- und Gliederschmerzen sowie Schluckbeschwerden – 412 vor Christi werden die Einwohner der griechischen Stadt Perinthos in Ostthrakien von einer Seuche gequält. Sie geht als »Husten von Perinth« in die Medizingeschichte ein. Es ist der erste dokumentierte Ausbruch der Influenza, heute gemeinhin als Grippe bekannt. Niedergeschrieben von keinem Geringeren als Hippokrates, dem wohl berühmtesten Arzt des Altertums, in seinem Werk »Die Epidemien«.

Jahrhundertelang gelten Krankheiten im antiken Griechenland als Strafe der Götter für menschliches Fehlverhalten. Ärzte sind bis dahin vor allem Priester, betraut mit der Aufgabe, Zeus und die übrigen himmlischen Wesen im Olymp mit Räucheropfern und Gebeten gnädig zu stimmen sowie die Leiden der Erkrankten durch die Gabe von Kräutern zu mildern.

Hippokrates – der erste Stratege der Medizin

Das ändert sich mit dem um 460 vor Christi auf der Insel Kos geborenen Naturwissenschaftler und Lehrer. Hippokrates dokumentiert exakt die Symp­tome und die Reaktion der Patienten auf die Gabe von Pflanzen und Behandlungen – von Wadenwickeln gegen Fieber bis hin zu Diäten. Der Sohn des Arztes Herakleides schafft damit die Grundlagen für Diagnostik und Therapie. Seine Schriften ermöglichen es anderen Medizinern, auf Grundlage gewonnener Erkenntnisse ihre Patienten zu heilen. Hippokrates ist der erste Stratege der Medizin.

Was gibt die Kaufkraft vor Ort her?

Das altgriechische Wort στρατήγημα – stratḗgēma – bedeutet im engsten Sinne »die Kunst der Heerführung«. Zusammengestellt ist es von den Begriffen στρατός – stratós, zu deutsch: »Heer« – und ἄγειν – ágein: »führen«. Doch stratḗgēma impliziert noch mehr: Die Fähigkeit, Informationen zu sammeln, logische Schlüsse zu ziehen, Ziele zu setzen und vorausschauend zu planen, um die Ziele auch zu erreichen.

Strategen sind heute längst nicht mehr nur Feldherren. Mediziner erarbeiten Strategien, um Krankheiten eindeutig zu diagnostizieren und anschließend die passenden Therapien zu formulieren. Finanzstrategen schaffen Konzepte, um die Vermögen ihrer Kunden zu mehren. Vorstände entwickeln Strategien, um ihre Unternehmen zum wirtschaftlichen Erfolg zu führen – oder sie ohne größere Schäden durch schwere Krisen zu steuern. Selbst Besitzer kleiner Geschäfte müssen strategisch denken und agieren: Welche Waren, welche Kollektionen lassen sich an meinem Standort verkaufen – und welche nicht? Was gibt die Kaufkraft vor Ort her, wonach verlangen die Kunden im Quartier?

Selten in der Geschichte haben Unternehmen vor so großen strategischen Herausforderungen gestanden wie in diesem Jahr. Da ist zum einen der digitale Wandel, den die Industrie 4.0 mit sich bringt. Lieferketten und Herstellungsverfahren können einerseits immer effektiver durch Computer und Roboter gesteuert werden, die miteinander über das Internet vernetzt sind. Rohstoffe und Vorprodukte lassen sich damit exakt zum benötigten Zeitpunkt an Fabriken und Fließbänder liefern. Andererseits sind technologischer Aufwand und Feintuning enorm. Zudem bieten Hersteller von Soft- und Hardware eine Vielzahl konkurrierender Produkte an. Das macht es schwierig, die richtige Auswahl zu treffen. Denn heute erworbene Software muss auch morgen mit noch effektiveren Technologien kompatibel sein.

Strategie: »same-day-delivery«

Für den stationären Einzelhandel kommt noch ein weiteres Problem hinzu: E-Commerce-Anbieter werden durch die neue Technologie in die Lage versetzt, Produkte noch schneller zu den Kunden zu bringen. Same-day-delivery – tagesaktuelle Lieferungen – lautet das Ziel. Und obendrein ist zu allem Übel auch noch die Corona-Pandemie ausgebrochen ...

Mehr als dreißigfacher Gewinn für »Zoom«

»Es ist schwierig genug, den für ein Unternehmen jeweils richtigen Weg zu finden, der durch die unzähligen Technologieoptionen der Industrie 4.0 führt«, sagt Professor Ralf Seifert, Direktor des Digital-Supply-Chain-Management-Programms
des International Institute for Management Development, der renommierten privaten Wirtschaftshochschule in Lausanne. »Nun treten die Unternehmen nach dem Covid-19-Tumult im Frühjahr und der Entspannung im Sommer in eine zweite Phase tiefer Unsicherheit ein, die durch die Pandemie verursacht wird.«

Auf den ersten Blick haben sich Arbeit und Konsum mit dem Seuchenzug des SARS-CoV-2-Virus radikal gewandelt. In der Büro-Arbeitswelt verfolgen Unternehmen und Beschäftigte scheinbar eine neue Strategie: Gearbeitet wird fortan häufig im Homeoffice. Der Internet-Video-Konferenzdienstleister Zoom hat seinen Umsatz gegenüber dem Vorjahreszeitraum vervierfacht und den Gewinn mehr als verdreißigfacht. Erzielte das Unternehmen aus dem kalifornischen San José im zweiten Quartal 2019 einen Gewinn von 5,5 Millionen US-Dollar, waren es im zweiten Drei-Monats-Zeitraum dieses Jahres 186 Millionen US-Dollar.

»Es hat eine Pandemie gebraucht, um zu zeigen, was bei Internet-Konferenzen tatsächlich möglich ist«, sagt Zoom-CIO Magnus Falk. »Ein Nebeneffekt des Alptraums, in den wir geraten sind, ist, dass wir alle in dieses globale Experiment hineingestoßen wurden, das zeigt, wie wir anders tätig sein können.« Das werde dauerhaft die Arbeitswelt, aber auch das Konsumverhalten verändern. »Ein grundlegender Teil des Wandels wird darin bestehen, Menschen zu ermöglichen, zu arbeiten und zu konsumieren, wo, wann und wie sie wollen«, sagt Falk.

Konsumklima stabilisiert sich – trotz zweiter Welle

Allerdings lassen sich erfolgreiche Strategien nur entwickeln, wenn zuvor alle relevanten Fakten gesammelt und ausgewertet werden. Heerführer nutzen zur Beschaffung von Informationen Spione und Aufklärungsabteilungen. Ärzte und Phar­maunternehmen testen neue Medikamente in aufwändigen Untersuchungen, zunächst an Tieren, dann an kleinen Patientengruppen. Unternehmenslenker betreiben Marktforschung, um zu erfahren, was ihre Kunden eigentlich wollen – und ob Bedarf für ein neues Produkt besteht.
Ökonomen, die eigene Untersuchungen angestellt haben, gehen deshalb nicht konform mit der Vorstellung, dass Arbeit und Konsum auch nach dem Ende des Covid-19-Seuchenzugs überwiegend am heimischen Schreibtisch erfolgen wird. Im Gegenteil: Eine Studie der Schweizer Großbank UBS kommt zu dem Schluss, dass maximal 15 bis 20 Prozent der Bürobeschäftigten in der Lage sind, von zu Hause aus zu arbeiten – und das auch nur zeitweise. »Rund 80 Prozent von ihnen sind hingegen gezwungen, ihre Tätigkeit im Büro zu verrichten«, sagt Thomas Veraguth, Immobilieninvestment-Stratege der Schweizer Großbank. Denn zahlreiche Backoffice-Tätigkeiten erforderten, dass die Arbeiten in den besonders gegen Hackerangriffe geschützten internen Netzwerken der Unternehmen getätigt werden. »Die nötige Datensicherheit kann am heimischen Rechner nicht gewährleistet werden«, sagt Veraguth. Das Fazit der Studie: »Im besten Fall könnten Unternehmen künftig zehn Prozent ihrer Büroflächen einsparen.«

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen Untersuchungen, die die Auswirkung der Corona-Pandemie auf den stationären Einzelhandel analysieren. Obwohl im September mit Beginn der zweiten Welle die Zahl der Infektionen mit dem SARS-CoV-2-Virus wieder anwächst, sinkt die Kaufneigung der Verbraucher in Deutschland nicht, wie der Konsumklima-Index des Nürnberger Marktforschungsinstituts GfK zeigt. »Trotz steigender Infektionszahlen und der zunehmenden Furcht vor Verschärfungen pandemiebedingter Einschränkungen stabilisiert sich das Konsumklima«, sagt Rolf Bürkl von der GfK am 23. September. »Offenbar sind die umfangreichen Konjunkturpakete für Unternehmen und Verbraucher geeignete Maßnahmen, um Deutschland aus der schwersten Rezession der Nachkriegszeit zu helfen.«

Kunden kommen, wenn Schnäppchen winken

Zwar zeigen Konsumenten in der November-Umfrage letztendlich doch eine Zurückhaltung. Beim großen Schnäppchentag zum Auftakt der Weihnachtssaison, dem Black Friday, ist der Kundenandrang in etlichen deutschen Städten jedoch so stark, dass Geschäfte zeitweise ihre Pforten schließen müssen. »Trotz Corona: Dichtes Shopping-Gedränge in der City«, schlagzeilt die Hamburger Morgenpost. Von »langen Schlangen vor beliebten Kaufhäusern auf der Zeil«, berichtet die Frankfurter Rundschau. In Bielefeld habe die Stadtverwaltung am Vormittag über das Lokalradio an die Bürger appelliert, »für den Moment auf Fahrten in die Innenstadt zu verzichten und Einkäufe zu verschieben«, schildern die Ruhr-Nachrichten.

»Die Lage im stationären Einzelhandel ist nicht so dramatisch, wie sie teilweise dargestellt wird«, schlussfolgert Günter Vornholz, Professor für Immobilienökonomie an der EBZ Business School in Bochum, in einer Analyse. Die Daten zeigten, dass Kunden im Sommer in die Geschäfte zurückgekehrt seien, als die Infektionsgefahr gesunken war. Und dass sie – wie am Black Friday – auch kommen, wenn Schnäppchen winken. »Der wachsende Online-Handel geht zwar zu Lasten des stationären Einzelhandels, was die deutlich höheren Wachstumsraten beim E-Commerce zeigen«, sagt Vornholz. »Aber noch sind die absoluten Zuwächse im traditionellen Einzelhandel höher und es werden dort die wesentlich höheren Umsätze erzielt.«

Für den stationären Handel könnte es noch besser laufen, wenn die Branche Sicherheits-Strategien zum Schutz ihrer Kunden prominenter herausstellen würde. Das gelte gerade auch für die Maskenpflicht, sagt Vornholz. »Statt über die Maskenpflicht zu klagen, wäre es ratsam hervorzuheben, dass durch die Masken und die Abstandsregelungen der Einkauf sicher ist.« Motto: »Einzelhändler achten sehr sorgsam darauf, dass sich in ihren Geschäften niemand ansteckt«.

Ein Beitrag von
Richard Haimann,
freier Journalist