Tausende Milliarden gegen die Krise

Olaf Scholz
Olaf Scholz, Bundesfinanzminister: »Größtes Hilfspaket in der Geschichte Deutschlands«. © Thomas Imo / Alamy Stock Foto

Herausforderung

Richard Haimann

Mit gigantischen Konjunkturpaketen stützen die EU-Staaten und die EZB die Wirtschaft. Besonders Deutschland scheint die Herausforderung bislang gut gemeistert zu haben: Die Arbeitslosen­rate ist niedrig geblieben, der Konsum zieht wieder an. Nicht zuletzt deshalb ist es immens wichtig, einen zweiten flächendeckenden Lockdown zu verhindern

Es hat knapp sieben Monate gedauert und Druck von liberaler Seite gebraucht: Anfang Oktober hat die FDP-Fraktion im Bundestag einen Antrag angekündigt, damit Selbstständige in der Corona-Krise mehr Hilfe erhalten. Es gehe um »die Gewährleistung eines adäquaten Unternehmerlohns« als »unbürokratische Unterstützung bei den Lebenshaltungskosten«, verkündet Reinhard Houben, wirtschaftspolitischer Sprecher der Fraktion, in der ARD. Tage später entdeckt auch Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier die bislang bei den Konjunkturpaketen vernachlässigten Organisatoren von Events und Festivals, die Messebauer, Clubbetreiber und Künstler.

Bisher sind Solo-Selbstständige und Freiberufler gezwungen, Hartz IV zu beantragen, wenn sie wegen der Pandemie nicht genügend Aufträge erhalten, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Nun will Altmaier ihnen mit einem sogenannten fiktiven Unternehmerlohn die Grundsicherung merklich aufstocken. »Wir begrüßen das Umdenken des Wirtschaftsministers und hoffen, dass es auch die Zustimmung der Ministerkollegen findet«, sagt Andreas Lutz, Vorstandsvorsitzender des Verbands der Gründer und Selbstständigen Deutschlands. Die staatlichen Konjunkturhilfen dürften dadurch um einen einstelligen Milliardenbetrag steigen – doch das sind sprichtwörtlich Peanuts.

353,3 Milliarden Euro hat die Bundesregierung bereits zur Stützung von Unternehmen und Beschäftigten bereitgestellt. Hinzukommen Garantiezusagen für Kredite über 819,7 Milliarden Euro. Ein Gesamtpaket von 1.173 Milliarden Euro. Berlin gehe »entschlossen, kraftvoll und zielgerichtet daran«, die Wirtschaft zu schützen, sagt Bundesfinanzminister Olaf Scholz und spricht vom »größten Hilfspaket in der Geschichte Deutschlands«.

»… Scharte mehr als ausgewetzt«

Die massiven Finanzhilfen haben in den vergangenen Monaten gut gewirkt. Zwar ist das deutsche Bruttoinlandsprodukt, die Summe aller produzierten Waren und erbrachten Dienstleistungen, im zweiten Quartal dieses Jahres nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes um 10,1 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum eingebrochen. Der vorübergehend verhängte Lockdown und die durch die Pandemie zeitweise unterbrochenen Lieferketten haben Konsum und Produktion kräftig geschmälert. Doch von Juli bis September ging es wieder aufwärts. Konnten deutsche Unternehmen im April nur Waren im Gesamtwert von 75,7 Milliarden Euro exportieren, meldeten die Bundesstatistiker für August, den bislang letzten ausgewerteten Monat, ein Volumen von 91,2 Milliarden Euro – ein Zuwachs von 20,5 Prozent. Der Geschäftsklima-Index des Münchner Ifo-Instituts stieg von 74,6 Zählern auf dem Tiefststand im April auf 93,4 Punkte im September.

An der Beschäftigungsfront sorgt die Kurzarbeit dafür, dass die meisten von der Krise betroffenen Unternehmen an ihren Mitarbeitenden festhalten können. Während in den USA nach Ausbruch der Pandemie pro Woche hunderttausende Arbeitnehmer ihre Jobs verlieren und die Erwerbslosenquote von März bis Mai von 3,9 auf 14,4 Prozent in die Höhe schießt, steigt die Rate in Deutschland von März bis August nur leicht von 5,1 auf 6,4 Prozent. Im September fällt die Quote wieder auf 6,2 Prozent zurück. »Die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Arbeitsmarkt sind nach wie vor sichtbar«, sagte Daniel Terzenbach, Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit. »Es zeigen sich aber leichte Zeichen der Besserung.«

Das alles kommt auch dem Konsum zugute. Seit Mai steigt Monat für Monat der Umsatz im Einzelhandel gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres. 3,7 Prozent beträgt nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes das reale Plus im August. »Damit hat der Handel die Scharte, die der Lockdown hinterlassen hat, mehr als ausgewetzt«, sagt Martin Moryson, Chefvolkswirt Europa beim Vermögensverwalter der Deutschen Bank, DWS. Die größten Gewinner sind die Versandhändler mit einem Zuwachs von mehr als 20 Prozent in den ersten acht Monaten dieses Jahres. Hingegen verlieren die Kaufhäuser in dieser Zeit knapp 13 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum.

Auch die anderen EU-Staaten greifen ihren nationalen Unternehmen mit Wirtschaftshilfen und Kreditgarantien unter die Arme. Mit dem kapitalkräftigen Deutschland können sie jedoch bei weitem nicht mithalten. Insgesamt haben die übrigen 26 Mitgliedsländer bislang 1.727 Milliarden Euro zugesagt – das sind nur 554 Millionen Euro mehr als Berlin zur Verfügung stellt.

Deutschland im Vorteil nach Corona?

Die Geldflut wird bald noch heftiger wogen. Die Bundesregierung hat zusätzliche Maßnahmen angekündigt. Die Europäische Union dreht die Schleusen ganz weit auf. Ein 1.800 Milliarden Euro schweres Konjunkturpaket haben die Regierungschefs der EU-Staaten verabschiedet. Finanziert wird es über gemeinsam per Anleihen aufgenommene Kredite. Nun wird im europäischen Parlament um die Verteilung gerungen. Klar ist, dass Deutschland, der größte Nettobeitragszahler der Staatengemeinschaft, dabei auch reichlich bedacht werden wird.

Die massiven Finanzhilfen für die deutsche Wirtschaft sorgen für Ängste in anderen EU-Staaten. Deren Unternehmen fürchten, dass ihre deutschen Konkurrenten nach der Pandemie über massive Wettbewerbsvorteile verfügen werden. EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager sieht diese Gefahr nicht. Ganz im Gegenteil: »Ich erinnere daran, dass wir Berlin die vergangenen zehn Jahre lang gebeten haben, mehr auszugeben und zu investieren, damit die deutsche Wirtschaft stärker zu einer Lokomotive für Europas Wirtschaft wird – jetzt machen sie es endlich.«

Möglich sind die immensen Hilfen, weil die Europäische Zentralbank (EZB) Anleihen der Mitgliedsstaaten und der EU indirekt in unbegrenztem Umfang aufkauft. Zwar nimmt sie nicht direkt die Schuldpapiere auf, weil ihr eine solche direkte Staatsfinanzierung untersagt ist. Sie nimmt jedoch Banken die Anleihen ab, die diese zuvor bei den Emissionen erwerben. Ebenso verfährt die Federal Reserve Bank in den USA.

Die milliardenschweren Interventionen in der Krise stoßen bei Ökonomen auf Zustimmung: »Dass die Bundesregierung massiv gegenhält, ist völlig richtig«, sagt Lars Feld, Professor für Wirtschaftspolitik an der Universität Freiburg und Vorsitzender des Rats der Wirtschaftsweisen. Notfalls müsste Berlin bereit sein, das Füllhorn noch kräftiger auszuschütten: »Ich bin in einer solchen konjunkturellen Situation kein Fan einer Schuldenbremse.«

Sorge vor Inflation unbegründet

Mit den gigantischen Hilfsprogrammen von Regierungen und Zentralbanken wachsen aber auch die Schulden der Staaten – und die Angst vor der Inflation. Welches Ausmaß die Interventionen der Notenbanken angenommen haben, zeigt ein Blick auf deren Bilanzen. In den Jahren seit der Finanzkrise hat die EZB rund 5.000 Milliarden Euro in die Finanzmärkte gepumpt und ihren Anleihebestand von rund 1.500 Milliarden Euro auf rund 6.500 Milliarden Euro angehoben – ein Zuwachs von 333 Prozent. Die Fed in den USA hat in dieser Zeit ihr Anlagevolumen sogar um 600 Prozent auf sieben Billionen US-Dollar ausgeweitet. Bei der Bank of England addiert sich der Zuwachs gar auf 750 Prozent. »Es baut sich ein Geldüberhang auf, der sich in einem Anstieg der Warenpreise entladen könnte«, warnt Franz Josef Schwarzenbök, Stratege beim deutschen Vermögensverwalter TOP Vermögen. »In Anbetracht der ungehemmten Geldvermehrung der Notenbanken zeichnet sich zunehmend ein inflationär geprägtes Szenario ab«, sagt Markus Merkel, Finanzanalyst bei der Vermögensberatung steinbeis & häcker in München.

Derartige Warnungen gibt es jedoch seit die Zentralbanken im Jahr 2002 nach dem Platzen der Internet-Blase an den Börsen erstmals begonnen haben, mit massiven Zinssenkungen und Anleihekäufen die Realwirtschaft zu stabilisieren. Dennoch ist die Teuerung bislang nirgendwo stark angestiegen. Im Gegenteil: Die Inflationsraten sind in den vergangenen Jahren tendenziell immer weiter gesunken – und zuletzt wieder in den negativen Bereich gefallen. Im September sank in Deutschland der vom Statistischen Bundesamt errechnete Verbraucherpreisindex – Barometer der Teuerung – auf minus 0,2 Prozent gegenüber dem Vormonat, in der Eurozone sogar auf minus 0,3 Prozent. »Damit ist die Inflationsrate nach minus 0,1 Prozent im Juli zum zweiten Mal in diesem Jahr unter Null gefallen«, vermelden die Bundesstatistiker.

Ziel der Notenbanken ist hingegen eine Teuerung nahe zwei Prozent. Nach der Meinung der Währungshüter bietet ein jährlicher Anstieg der Warenpreise und Löhne in diesem Umfang das ideale Gleichgewicht, um einerseits die Verbraucher zum Konsumieren zu bewegen und so die Wirtschaft anzukurbeln, während gleichzeitig die Inflation kontrollierbar bleibt. Doch davon seien Deutschland und die Eurozone weit entfernt, sagt Carsten Brzeski, Chefvolkswirt der ING Deutschland. »Inflationszahlen in der Größenordnung von zwei Prozent dürften fürs Erste weiterhin Zukunftsmusik bleiben.«

Zusätzliche Liquidität für die Banken

Ein Grund dafür ist der Euro. Die Gemeinschaftswährung ist stabiler als frühere Nationalwährungen und stärkt zudem das Wirtschaftsgefüge innerhalb Europas. Unternehmen können dadurch Rohstoffe und Vorprodukte aus anderen Teilen der Welt günstiger einkaufen und ihre Fertigwaren zu tieferen Preisen anbieten.

Ein weiterer Grund: Die von den Notenbanken aufgewendeten Milliardenbeträge zum Kauf von Staatsanleihen blähen nicht die Geldmenge auf. »Sie verbleiben im Finanzsystem und versorgen Banken indirekt mit zusätzlicher Liquidität, damit diese die Laufzeiten ausgereichter Kredite verlängern können, um Insolvenzen zu verhindern«, sagt Mathilde Lemoine, Chefvolkswirtin der Schweizer Privatbank Edmond de Rothschild. Auch der Wirtschaftsweise Feld sieht vorerst keine Inflationsgefahr: Selbst für 2022 rechne er damit, dass »die Rate noch immer unter zwei Prozent liegen wird«. Auch dann, wenn die Bundesregierung noch weitere Milliarden Euro für einen Unternehmerlohn für Selbstständige ausgeben wird.

Ein Beitrag von
Richard Haimann,
freier Journalist