Trotz aller Unklarheiten ist es sinnvoll, sich mit dem Thema zu beschäftigen

Hannah Dellemann
Hannah Dellemann

Interview
Konsum

Susanne Osadnik

Hannah Dellemann, ESG-Beauftragte der auf Immobilien spezialisierten Service-KVG Intreal, über die europäische Taxonomie-Verordnung, die vom kommenden Jahr an in Kraft tritt, über Energiepass-Muffel und warum nicht jedes Shopping Center schon morgen die strengen Kriterien erfüllen muss


Frau Dellemann, was ist ein ESG-konformes Produkt, das den künftig geltenden Taxonomie-Regeln entspricht?
Im Bereich der Immobilien wird zwar nicht nach den einzelnen Assetklassen unterschieden, dafür wird aber zwischen Neubau, großen Renovierungen, bestimmten Einzelmaßnahmen und Bestand unterschieden. Durch die Erfüllung bestimmter technischer Kriterien kann eine Immobilie oder eine umgesetzte Maßnahme als »taxonomiekonform« klassifiziert werden. Der erste Schritt betrifft Maßnahmen zum Klimaschutz und zur Anpassung an den Klimawandel. In naher Zukunft muss eines dieser beiden Ziele verfolgt werden, wenn die Immobilien taxonomiekonform sein sollen. Das ist sozusagen der Auftakt ab 2022. Ab 2023 sollen dann die weiteren Umweltschutzziele in Angriff genommen werden. Dazu gehören nachhaltige Nutzung und Schutz von Wasser- und Meeresressourcen, der Übergang zur Kreislaufwirtschaft, die Vermeidung und Verminderung von Umweltverschmutzung sowie der Schutz und die Wiederherstellung der Biodiversität und der Ökosysteme.

Eine technische EU-Expertengruppe hat einen 600 Seiten starken  Kriterienkatalog erarbeitet, mit dessen Hilfe Nachhaltigkeit messbar gemacht werden soll. Ist das Ganze überhaupt praktikabel und europaweit gleichermaßen anwendbar?
In der Tat gibt es in der Praxis noch einige Hürden, die überwunden werden müssen – und auch Schwierigkeiten, die sich da­raus ergeben, dass es nationale Unterschiede gibt. Die technischen Kriterien für den Erwerb von Immobilien sehen zum Beispiel vor, dass ein Gebäude der Energieeffizienzklasse A entsprechen muss, damit es, nach den Taxonomiekriterien, einen wesentlichen Beitrag zum Klimaschutz leistet. Hierzulande haben wir bei den Energieausweisen für Nicht-Wohngebäude eine solche Aufteilung gar nicht. Eine 1:1-Umrechnung ist deshalb nicht möglich. Da jedes EU-Land mehr oder weniger seine eigenen Kriterien für Energiepässe aufgestellt hat, sind entsprechend viele Varianten im Umlauf, was die Anwendbarkeit von einheitlichen Taxonomie-Regeln schwierig macht.

Wie passt das mit dem Stimmungsbild aus der Immobilienbranche zusammen, man sei auf die neuen Anforderungen vorbereitet?
Trotz aller Unklarheiten und noch unbeantworteter Fragen ist es sinnvoll, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Und das tun zurzeit viele Unternehmen – selbst dann, wenn sie keine Taxonomiekonformität anstreben. Die gesamte Diskussion um ESG und Taxonomie hat dazu geführt, dass man sich viel intensiver mit Zahlen, Daten und Fakten im eigenen Unternehmen beschäftigt. Und dabei ist dem ein oder anderen klar geworden, dass es noch Lücken im Datenbestand gibt und man bei eventuell geplanten Sanierungen gar keine solide Bemessungsgrundlage hat, um berechnen zu können, wie effizient eine Immobilie werden könnte. Ein Teil der Problematik liegt auch in der noch nicht sehr weit fortgeschrittenen Digitalisierung von Daten und Prozessen in der Branche. Außerdem hat sich herausgestellt, dass es noch zahlreiche Unternehmen gibt, die für ihre Bestandsimmobilien gar keine Energieausweise besitzen. Das ist vor allem bei solchen Objekten der Fall, die schon lange ein und denselben Eigentümer haben. Da hat man das häufig auf die lange Bank geschoben.

Für professionelle Investoren, die mit Portfolio-Optimierungen beschäftigt sind, gilt das vermutlich nicht. Wer muss sich künftig noch mehr ins Zeug legen und mit der Taxonomie auseinander setzen?
Börsennotierte Unternehmen, große Versicherungen und Banken, aber auch nachhaltige Immobilienfonds. Alle professionellen Investoren, die verpflichtet sind, über ihre Nachhaltigkeitskriterien Rechenschaft ablegen zu müssen – und im Zuge dessen natürlich auch nachweisen müssen, wie nachhaltig ihre Investitionen gewesen sind. Derzeit beschäftigen sich sehr viele Unternehmen damit und versuchen sich auf den nächsten Schritt im Januar vorzubereiten. Der übernächste steht im Übrigen auch schon an: Von 2024 an gilt eine Berichtspflicht für Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeitern, die entweder eine Bilanzsumme von über 20 Millionen Euro oder einem Umsatz von über 40 Millionen Euro vorweisen.

Es heißt, insbesondere für Pionierunternehmen, sogenannte Early Mover, könnten sich ESG-konforme Produkte auszahlen. Erklären Sie uns, warum das so ist?
Der Bedarf ist groß, das Angebot gering. Wer als Projektentwickler jetzt schon nach Taxonomie-Kriterien plant und baut, hat einen Vorsprung gegenüber denjenigen, die das noch nicht berücksichtigen. Aber auch Proptechs, die digitale Produkte anbieten und beratend tätig sind, können jetzt und in naher Zukunft punkten. ESG, Taxonomie und Digitalisierung werden die Zukunftsthemen bleiben.

Was bedeutet Taxonomie für Käufer und Eigentümer von Handelsimmobilien?
Ganz sicher ist es ein zusätzliches Kriterium, das vor allem bei großen Fondsanbietern und institutionellen Investoren, die ihre Portfolien streng auf Nachhaltigkeit ausrichten, wichtig sein wird. Insofern haben sie auch eine gewisse Vorbildfunktion. Es ist aber keineswegs so, dass morgen keine Immobilie mehr verkauft werden kann oder überhaupt handelbar ist, wenn sie nicht taxonomiekonform ist.

Wie müssen Shopping Center künftig aussehen, wenn sie im Rahmen der Taxonomie attraktiv für Käufer/Besitzer sein wollen?
Die Taxonomie orientiert sich nicht daran, um welchen Typus Immobilie es sich handelt. Aber im Bereich Einkaufscenter wird es neben der Energieeffizienz selbst vor allem darum gehen, ein gutes Energiemanagement zu installieren. Das betrifft Be- und Entlüftung sowie Kühl- und Wärmesysteme. Wer das langfristig nicht vorweisen kann, muss mit Wertabschlägen rechnen. Aber das wird nicht morgen der Fall sein und voraussichtlich auch nicht in den kommenden Jahren.

Der Sanierungsstau bei Shopping Centern ist enorm. Viele Objekte entsprechen nicht mehr dem Zeitgeist – und schon gar nicht ökologischen Standards. Und nach der Pandemie dürften die finanziellen Spielräume eher kleiner als größer geworden sein. Wie geht man mit solchen Immobilien künftig um, wenn sie ganz klar nicht ESG/Taxonomie-konform sind und auch nicht mehr werden?
Aktuell wird das vermutlich kein Problem bei möglichen Verkäufen sein. Die Taxonomie steckt ja noch in den Kinderschuhen und wagt die ersten Schritte. Das kann gar nicht jeder sofort umsetzen. Wenn ein Center – auch aufgrund von Einbußen durch die Pandemie – finanziell gar nicht in der Lage ist, große Investitionen zugunsten von Klimaschutz und Energieeffizienz zu tätigen, dann ist das halt so. Niemand wird dadurch in naher Zukunft einen Nachteil erleiden.

Über welchen Zeithorizont reden wir aus Ihrer Sicht, um von Taxonomie-Tauglichkeit als einer Selbstverständlichkeit zu sprechen?
Auf jeden Fall wird es in den kommenden zehn Jahren ein wichtiges Thema sein. Der Gebäudesektor wird auf allen Ebenen künftig noch mehr gefordert werden. Die neue Bundesregierung unter Beteiligung der Grünen wird den Ausbau erneuerbarer Energien und die Reduzierung von CO2 weiter forcieren und entsprechende Vorgaben machen. Da kommt sicher eine Menge auf die Immobilienwirtschaft zu. Vermutlich wird es auch diverse Fördertöpfe geben. Trotzdem stehen auch zahlreiche Verschärfungen an.

Widersprechen oder ergänzen sich nationale Verschärfungen und Taxonomieforderungen?
Sie ergänzen sich eher oder werden häufig mit nationalen Forderungen verzahnt. Beispielsweise bei Neubauprojekten. Seit diesem Jahr ist es ja ohnehin schon für alle Mitgliedstaaten der EU verpflichtend, beim Neubau auf Niedrigstenergiehäuser zu setzen. Die Taxonomie geht dabei noch einen Schritt weiter: Die Neubauten müssen noch zehn Prozent effizienter sein als auf nationaler Ebene.

Es hat bei aller Innovation auch stets Kritik an ESG-Auflagen oder der Umsetzung von Taxonomieforderungen gegeben. Hätten Sie etwas anders gemacht?
Grundsätzlich ist eine europäische Taxonomie-Verordnung schon eine gute Idee, weil man auf diese Weise Kapitalflüsse gezielt in nachhaltige Investments leitet und dafür sorgt, dass sich bestimmte Kriterien nach und nach etablieren. Die Verantwortlichen im Gebäudesektor lernen, immer mehr Verantwortung zu übernehmen. Und das ist eine positive Entwicklung. Ob die Reihenfolge der Gesetze, wie sie erfolgt ist, wirklich sinnvoll war, darüber lässt sich streiten. Dass eine Offenlegungspflicht in Kraft tritt, obwohl zahlreiche Detailfragen in Bezug auf die Taxonomieverordnung und auch die Umsetzung von vielen Detailfragen vor Inkrafttreten noch nicht geklärt sind, ist das nicht ganz so glücklich …


Das Interview führte
Susanne Osadnik,
Chefredaktion Shopping Places*