Vom Charme des schrumpfenden Geldes

Chiemgauer Noten
Chiemgauer Noten

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Glokalisierung

Richard Haimann

Regionale Komplementärwährungen wie BäRling, Chiemgauer und Sterntaler finden immer mehr Verbreitung. Weil sie an Wert verlieren, wenn sie nicht regelmäßig ausgegeben werden, bescheren sie Geschäfts­inhabern steigende Umsätze und kurbeln so die Wirtschaft vor Ort an

Dirndl, Lederhose, Leinenhemd, Joppe, Lodenhüte mit Gamsbart oder Spielhahnfedern – im Traunsteiner Fachgeschäft »Tracht & Kram« gibt es all das zu erstehen, worin sich »Madl und Bua« bei oberbayerischen Volksfesten kleiden und was Touristen gern als Urlaubserinnerung mit nach Hause nehmen. Bezahlt werden kann in dem zweigeschossigen Laden zentral am Stadtplatz im Hauptort des Chiemgaus nicht nur mit Euro. Inhaber Christian Obermeier akzeptiert auch den »Chiemgauer«.

Der »Chiemgauer« ist das größte der 45 in Deutschland aufgelegten Regio-Gelder – Komplementärwährungen, deren Wert Eins zu Eins an den Euro gekoppelt ist, die aber nur innerhalb einer einzelnen Region als Zahlungsmittel verwendet werden können. Weltweit gibt es mehr als 1.000 solcher Alternativwährungen. Vom »Waldviertler« in Österreich über den EcoRoma in Italien, das Bristol und Brixton Pfund in Großbritannien bis hin zu den BerkShares und dem Ithaca Dollar in den USA sowie dem Salt Spring Dollar in Kanada.

Das regionale Geld soll die Kaufkraft vor Ort erhalten und so die regionale Wirtschaft fördern. Für den 2019 verstorbenen früheren belgischen Zentralbanker und Co-Designer des Euro-Vorläufers ECU, Bernard Lietaer, waren diese Komplementärzahlungsmittel nichts weniger als »das Geld der Zukunft«. Neben Dollar, Euro, Franken, Pfund und Yen würden Regionalgelder künftig immer stärkere Verbreitung finden. »Für unterschiedliche Aufgaben werden in der Zukunft unterschiedliche Geldarten genutzt werden«, analysierte der 1942 geborene Lietaer, der bis 2019 an der University of California in Berkeley über nachhaltige Wirtschafts- und Finanzsysteme forschte und lehrte. »Regionalwährungen können Arbeitsplätze schaffen, lokale Firmen stärken und einen Beitrag im Kampf gegen die globale Erwärmung leisten.«

Chiemgauer-Umsatz bei mehr als sechs Millionen Euro

Wie sehr die Akzeptanz für Alternativwährungen in der Bevölkerung wächst, lässt sich an der Handelsbilanz des »Chiemgauers« ablesen: Im vergangenen Jahr wurden in den Landkreisen Rosenheim und Traunstein Waren und Dienstleistungen im Gesamtwert von mehr als sechs Millionen Euro mit dem Regio-Geld erworben. »Der Umsatz wuchs damit gegenüber 2019 um acht Prozent«, vermeldet Stefan Schütz, Vorstandsvorsitzender des Vereins Chiemgauer Regiogeld, der die Komplementärwährung herausgibt. Mehr als 600 Unternehmen akzeptieren das 2003 durch ein Schülerprojekt gestartetes Alternativgeld als Zahlungsmittel.

Für die teilnehmenden Geschäftsinhaber passt der Chiemgauer perfekt zu ihrem Waren- und Dienstleistungssortiment. »Die Tracht ist eines der nachhaltigsten Kleidungsstücke«, sagt »Tracht & Kram«-Inhaber Obermeier. Die aus Leder, Loden und Leinen gefertigten Textilien würden bei guter Pflege Dekaden der Nutzung überstehen. Den Beweis gibt es im Obergeschoss seines Geschäftes. Dort werden Second-Hand-Trachten feilgeboten: Stücke, die ihren Erstbesitzern zu groß oder zu klein geworden sind und nun auf neue Träger harren. Nachhaltig seien auch die Regio-Gelder, weil sie den Wirtschaftskreislauf vor Ort stärken und die Abwanderung von Kaufkraft in die Großstädte oder an Online-Händler wie Amazon verhindern.

Von den Währungshütern gibt es keine Einwände gegen die Komplementärwährungen. Die Bundesbank präsentiert in ihrer Ende Juni im Frankfurter Geldmuseum eröffneten Sonderausstellung »Geldmacher: Wer bestimmt, was Geld ist?« auch »Chiemgauer«-Exponate. Zwar sei der Euro die »definierende Einheit unserer Geldordnung«, sagt Johannes Beermann, Vorstandsmitglied der Bundesbank. »Preise und Löhne werden in Euro als verbindlichem Wertmaß oder Numéraire ausgedrückt.« So könnten Wertangaben schnell und direkt miteinander verglichen werden. Aber: »Tatsächlich hat Geld in der Geschichte je nach regionalen Begebenheiten und Konventionen unterschiedliche Formen angenommen und geht so auch auf eine Vielzahl von Geldmachern zurück«, sagt Beermann. Die Ausstellung zeige daher, »wie Menschen Notgeld oder Ersatzwährungen nutzen, wenn der Staat scheitert, den Geldverkehr funktionsfähig oder den Geldwert stabil zu halten«.

Die moderne Geschichte der Komplementärwährungen beginnt im Juni 1932 in Österreich. Die Große Depression hat auch im Alpenland die Wirtschaft einbrechen lassen. Hunderttausende haben ihre Arbeitsplätze verloren. In der Tiroler Kleinstadt Wörgl sucht Bürgermeister Michael Unterguggenberger einen Ausweg aus der Krise – und erfindet das »Wörgler Freigeld«: Eine sogenannte Schwundwährung für die Region, deren Scheine zu einem, fünf und zehn Schilling jeden Monat einen Prozent an Wert verloren, wenn sie nicht in einem Geschäft ausgegeben wurden. Bei jeder Transaktion bekleben die Geschäftsinhaber die Scheine mit einer Marke, die den vollen Wert des Regio-Geldes für einen weiteren Monat sicherte.

»Wunder von Wörgl«

Zunächst bezahlt die Stadtverwaltung ihre Beschäftigten mit dem »Freigeld«. Die kaufen damit in den örtlichen Geschäften ein. Deren Inhaber decken damit die Löhne ihrer Angestellten und nutzen die Alternativwährung selbst für ihre eigenen Einkäufe. Der Wirtschaftskreislauf zieht an. Unternehmen stellen wieder Mitarbeiter ein, die ebenfalls mit dem Regio-Geld entlohnt werden und es zum Konsumieren nutzen. Binnen weniger Wochen sinkt die Erwerbslosenquote von 21 auf 15 Prozent.  Österreichische Zeitungen beginnen über das »Wunder von Wörgl« zu berichten. Bald sind Reporter aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien und sogar den USA vor Ort. Frankreichs damaliger Finanzminister, der spätere Ministerpräsident Édouard Daladier reist in die Tiroler Stadt, um sich zu informieren und anschließend in der Grand Nation Kommunen aufzufordern, dass Projekt zu kopieren.

Allerdings bringt die damalige Oesterreichische Nationalbank das Vorhaben zum Scheitern. Sie pocht auf ihr alleiniges Recht auf die Ausgabe von Geldmünzen und -scheinen. Armee-Verbände werden aufgeboten, um das verhängte Verbot des »Wörgler Freigeldes« durchzusetzen. Ein paar Monate später meldet Wörgl wieder eine Arbeitslosenrate von mehr als 20 Prozent.

Schwund-Charakter puscht Ausgabelust

Auch der »Chiemgauer« ist eine Schwundwährung. Werden die Scheine binnen zwei Monaten nicht ausgegeben, verlieren sie zwei Prozent an Wert. Verloren ist das Geld aber nicht. Der dahinterliegende Eurowert wird vom Chiemgauer Regiogeld an soziale Projekte in den beiden Landkreisen gespendet. Und anders als einst in Wörgl, wo die Stadtverwaltung die Bezahlung ihrer Beschäftigten von Schilling auf Freigeld umstelle, ist die Teilnahme im Chiemgau freiwillig. Wer das Regio-Geld nutzen will, tauscht einfach Euro gegen Chiemgauer.

Dass »Chiemgauer« nicht rechtzeitig vor dem zweiprozentigen Wertverlust ausgegeben werde, komme äußerst selten vor, sagt Christian Gelleri, Vorstand der Regios-Genossenschaft in Prien am Chiemsee, die Abrechnungsdienstleistungen für den »Chiemgauer« und eine Reihe weiterer Regionalgeld-Initiativen vornimmt, darunter der in der Region Dachau zirkulierende »Amper Taler«, der Freisinger »BäRling« und der »Sterntaler« im Berchtesgadener Land. »100 Chiemgauer sind schnell ausgeben«, sagt Gelleri. Schließlich gäbe es genügend Geschäfte, die bei Besorgungen des täglichen Bedarfs die Komplementärwährung annehmen.

Durch den Schwund-Charakter habe der »Chiemgauer« zugleich einen »entscheidend psychologischen Effekt«, sagt Gelleri. »Jeder Nutzer achtet darauf, den Chiemgauer zügig auszugeben.« Das beschere den teilnehmenden Firmen Umsatz und sichere Arbeitsplätze vor Ort.

WIR-Kunden erhalten günstigere Kredite

Auf diesen psychologischen Effekt setzt auch die WIR-Bank. Das Geldinstitut in Basel managt die vom Umlauf und der Bilanzsumme her größte Alternativwährung der Welt: den Schweizer WIR. Waren, Dienstleistungen und Kredite im Gesamtwert von 5,7 Milliarden Franken, umgerechnet rund 5,31 Milliarden Euro, wurden im vergangenen Jahr in der Komplementärwährung abgerechnet – ein Plus von 3,1 Prozent gegenüber 2019 und der bisher höchste Betrag in der 87-jährigen Geschichte des eidgenössischen Privatgeldes.

Der WIR wurde 1934 vom Schweizer Ökonomen und Pädagogen Werner Zimmermann nach dem Vorbild des »Wörgler Freigeldes« gestartet. Der an den Franken gekoppelte WIR ist allerdings keine Schwundwährung. Um die in Finanzfragen zumeist konservativ agierenden eidgenössischen Firmen in der Großen Depression für das Projekt zu gewinnen, wurde das Alternativgeld so angelegt, dass es zwar nicht an Wert verliert, wenn es nicht wieder ausgegeben, sondern gespart wird. Dafür aber gibt es keine Zinsen auf WIR-Einlagen bei der WIR-Bank, die als einziges Institut im Land Sparkonten in der Alternativwährung führt.

Da WIR-Sparer keine Zinsen erhalten, konnte die WIR-Bank im Gegenzug Kredite zu deutlich günstigeren Zinsen vergeben als die übrigen Banken im Land, die nur Franken-Konten führen. Nicht nur das machte die Alternativwährung für Firmen interessant. Die WIR-Bank wurde zudem als Genossenschaft gegründet, an der sich Unternehmer beteiligen können. Dies führte dazu, dass der WIR schnell zur bevorzugten Währung im Geschäftsverkehr kleiner und mittelständischer Schweizer Unternehmen wurde. Lässt der Dachdecker seinen Firmenwagen bei einem Garagisten warten, zahlt er in WIR. Kauft der Inhaber der KFZ-Werkstatt beim Bäcker Weggli wandern ebenfalls WIR über den Tresen. Und natürlich nutzen etliche Firmen den WIR, wenn sie einen Kredit benötigen.

Bitcoin & Co sind keine Regio-Währungen

Zwar sind die Zinssätze für WIR-Darlehen heute nicht mehr niedriger als bei Franken-Krediten, weil die Schweizerische Nationalbank den Leitzins auf minus 0,75 Prozent gesenkt hat, um eine zu starke Aufwertung des Franken gegen den Euro zu verhindern. Die neue Rekord-Bilanz beim WIR-Umlauf zeigt jedoch, dass die eidgenössischen Firmen an ihrer Komplementärwährung weiter festhalten. Bereits in der ersten Hälfte dieses Jahres erzielte die WIR-Bank einen Gewinn von elf Millionen Franken, weil Darlehen in der Alternativwährung weiter stark nachgefragt werden.

In typischer Schweizer Zurückhaltung spricht WIR-Bank-Vorstandschef Bruno Stiegeler von einem »operativ erfreulichen Ergebnis« als Resultat »einer bodenständig-konservativen Geschäftspolitik«.

Mit einem sind Komplementärwährungen nicht vergleichbar: Kryptogeld. Bitcoin, Ethereum, Litecoin und andere Arten digitaler Wertmarken sind anders als Regio-Gelder nicht an die jeweilige Landeswährung gekoppelt. Das lässt ihre Notierungen gegenüber Dollar, Euro, Franken und Yen massiv schwanken, je nachdem, ob sie gerade gefragt sind oder nicht. Das mache sie für den Alltagsgebrauch ungeeignet, sagt Tim Janssen, Währungsexperte beim Hamburger Fintech-Unternehmen Finexity. »Wenn sich Woche für Woche der Wert unseres Zehn-Euro-Scheins ändern würde, positiv wie negativ, wäre die Akzeptanz und das Vertrauen in den Euro massiv geschwächt.« Noch deutlicher wird Bundesbank-Vorstand Beermann. Er sagt: Bitcoin und Co. seien »weder Geld noch Währungen – sie dienen der Spekulation«.

Ein Beitrag von
Richard Haimann,
freier Journalist