Warten auf das Serum

Anja Karliczek
Anja Karliczek, Bundesforschungsministerin: »Mitte nächsten Jahres werden breite Teile der Bevölkerung geimpft werden können.« © Matthias Wehnert / Alamy Stock Photo

Herausforderung

Hubertus Siegfried

Die Mortalitätsrate von Corona-Infizierten ist deutlich gesunken. Das ist dem emsigen Einsatz von Medizinern zu verdanken, denen es im Laufe der Monate gelungen ist, wirksame Therapien gegen Covid-19 zu entwickeln. Um das Virus aktiv zu bekämpfen, forschen Wissenschaftler weltweit an der Entwicklung eines Impfstoffes – und schlagen dabei einen völlig neuen Weg ein

Für seine Anhänger beweist es, wie vital ihr politisches Idol ist. Mediziner sehen es nüchterner: Die schnelle Genesung des amerikanischen Präsidenten zeigt vor allem, wie weit die Therapiemöglichkeiten von Covid-19 in den zehn Monaten der Pandemie fortgeschritten sind. US-Präsident Donald Trump hat das Virus, das zum Zeitpunkt seiner Infektion bereits mehr als 200.000 Amerikanern den Tod gebracht hat, binnen Tagen scheinbar einfach so abgeschüttelt.

Am 3. Oktober wird der wegen seines Alters und Körpergewichts von 110 Kilo als Risikopatient geltende 74-jährige mit starken Symptomen in das Walter-Reed-Militärkrankenhaus verlegt. Mediziner fahren schwerste Geschütze auf: Trump erhält das Virostatika Remdesivir, den Entzündungshemmer Dexamethason und einen Antikörper-Cocktail. Drei Tage später ist der Präsident wieder im Weißen Haus und erklärt sich nach weiteren fünf Tagen für geheilt. »Es war unglaublich«, schwärmt Trump über die Therapie. »Ich habe mich sofort gut gefühlt.«

Als Ende Dezember vergangenen Jahres die Pandemie in der chinesischen Millionenmetropole Wuhan ausbricht und bald darauf um den Globus zieht, stehen Mediziner zunächst weitgehend hilflos vor jenen Patienten, bei denen die Infektion einen sehr schweren Verlauf nimmt. Ihre Lungen versagen. Nieren, Leber und Herz werden schwer geschädigt. In der Anfangsphase der Krankheitswelle beträgt die Fallsterblichkeitsrate, die Quote der entdeckten Infizierten, die ihr Leben verlieren, knapp zehn Prozent. Heute sind es im globalen Schnitt 2,84 Prozent. Inklusive der Dunkelziffer unentdeckter Infektionen verortet die Weltgesundheitsorganisation WHO die Mortalitätsrate aktuell in der Spanne zwischen 0,65 und 0,8 Prozent. Zum Vergleich: Die Sterberate der Influenza liegt bei nur 0,1 Prozent.

Mediziner haben Covid-19 jetzt besser im Griff als im April

Im internationalen Vergleich hat Deutschland bislang die Herausforderung gut gemeistert. Nach WHO-Berechnungen sind hierzulande bis Anfang Oktober 114 Menschen pro einer Million Einwohner an oder mit dem Corona-Virus gestorben – es ist der zweitniedrigste Wert in Europa nach Österreich mit 91 Verstorbenen. In Schweden sind es sind zu diesem Zeitpunkt 583, in Italien 595, in Großbritannien 624, in den USA 635, in Spanien 695 und in Belgien sogar 870 Tote pro einer Million Einwohner.

Seit August steigt zwar in Europa wieder die Zahl der Infektionen. Das Robert-Koch-Institut vermeldet am 28. Oktober für Deutschland 14.964 neue Fälle – mehr als je zuvor im Verlauf der Pandemie. Diesmal allerdings fordert das Virus weit weniger Opfer. Mitte Oktober bewegt sich die Zahl der täglich an Covid-19 Verstorbenen hierzulande im zweistelligen Bereich, während im April pro Tag Hunderte dahinschieden. Dafür gibt es drei Gründe: Erstens haben sich zu Beginn der zweiten Welle deutlich mehr jüngere Menschen infiziert, die über ein robusteres Immunsystem verfügen als Ältere, die im Frühjahr überdurchschnittlich stark betroffen waren. Zweitens sind die Testkapazitäten gegenüber dem Frühjahr verzehnfacht worden. So werden nun auch Infizierte entdeckt, die selbst keine Symptome spüren – aber dennoch das Virus weitertragen können. Im März und April hingegen wurden nur jene getestet, die aufgrund von Atemnot und schwerem Husten klare Anzeichen für eine Infektion aufwiesen.

Drittens haben Ärzte seit dem Frühjahr gelernt, wie sie Patienten effizienter therapieren können. »Die Intensivmediziner wissen heute viel mehr über erfolgreiche Behandlungsmöglichkeiten und können medikamentös gezielter eingreifen«, sagt Uwe Janssens, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) im Gespräch mit Reportern der Funke Mediengruppe.

Fünf Prozent der Patienten erkranken schwer

Wie Donald Trump erhalten heute auch in Deutschland Erkrankte mit schwerem Verlauf Remdesivir, das vom US-Pharmakonzern Gilead Science zur Bekämpfung der Ebola verursachenden Filoviridae entwickelt wurde. Tierversuche im April zeigten, dass das Medikament auch die Reproduktion des Corona-Virus hemmt. Ebenfalls eingesetzt wird der Entzündungshemmer Dexamethason. Bereits im frühen Krankheitsstadium werden bei Risikopatienten heute zudem Gerinnungs­hemmer wie Heparin verabreicht, um Thrombosen zu verhindern.

193 Impfstoff-Projekte bei der WHO gemeldet

Trotz der verbesserten Therapien ist Covid-19 nicht zur harmlosen Krankheit geworden. »Die Todeszahlen werden in den kommenden Wochen wieder steigen«, sagt Janssens. Schlichtweg, weil sich zuletzt immer mehr Menschen infiziert haben. »Bei 81 Prozent der Patienten ist der Verlauf mild, bei 14 Prozent schwer, und fünf Prozent der Patienten sind kritisch krank«, vermerkt die DIVI in ihrer aktuellen Leitlinie.

Die Hoffnung von Medizinern, Virologen, Politikern und Wirtschaftskapitänen ruht deshalb auf einem Impfstoff. In 160 Laboren von Biotech- und Pharmaunternehmen forschen Wissenschaftler nach einem geeigneten Vakzin. 193 Projekte sind, Stand Anfang Oktober, bei der WHO gemeldet. Mit dabei sind etliche deutsche Unternehmen: Artes Biotechnology, Baseclick, BioNTech, CureVac, Leukocare, Prime Vector Technologies sowie das Deutsche Zentrum für Infektionsforschung und die Universitätsklinik Tübingen.

Dass sich durch Impfungen Infektionskrankheiten eindämmen lassen, ist seit Jahrhunderten bekannt. 1549 bläst der chinesische Arzt Wan Quan Händlern, die sich vor den grassierenden Blattern schützen wollen, zermahlenen Schorf von Pockenwunden in die Nase. Das im damals erschienenen Medizinbuch Douzhen xinfa – zu deutsch: »Richtig geblasen« – geschilderte Verfahren ist die erste dokumentierte Pockenimpfung der Geschichte. Die Vakzination wirkt: Wer von Wan geimpft wurde, erkrankt kaum an der durch den Orthopox-Virus verursachten Infektionskrankheit, die die Haut mit den symptomatischen Eiterblasen überzieht und Herzmuskellähmungen sowie Lungenentzündungen hervorruft, die rund 30 Prozent der Infizierten sterben lassen.

Impfungen beschleunigen Chinas Aufschwung im 16. Jahrhundert

Die Impfung bahnt den Weg für Chinas immensen Wirtschaftsaufschwung zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Handwerk und Handel boomen. Baumwolle, Porzellan und Seide werden in immer größeren Mengen über die Seidenstraße nach Europa gebracht. Der Reisanbau wird so stark gesteigert, dass sich Chinas Bevölkerung in den folgenden 200 Jahren fast verdreifacht – auf 268 Millionen Einwohner.

Bisher werden Impfungen mit abgeschwächten oder abgetöteten Viren vorgenommen. Das Immunsystem erkennt die Krankheitserreger und bildet Antikörper gegen sie. Die patrouillieren fortan im Körper, um sofort zuzuschlagen, sollte das Virus eindringen. Doch die Herstellung dieser Vakzine ist zeitaufwändig. Für den gegen die Grippe schützenden Influenza-Impfstoff muss das Virus zunächst wochenlang in Hühnereiern vermehrt, dann entnommen, anschließend abgetötet werden. Ein Prozess, der sich über sechs Monate hinzieht.

Beim Sars-CoV-2-Impfstoff setzen die Forscher deshalb auf ein neues Konzept: Sie wollen ein RNA-Vakzin schaffen. RNA sind Ribonukleinsäuren, mit denen ein Protein hergestellt wird, das einen sehr spezifischen Teil des Virus nachbildet. Das Immunsystem soll so ebenfalls auf den echten Erreger sensibilisiert werden. Im Gegensatz zu klassischen Impfstoffen können RNA-Vakzine schnell in hoher Stückzahl produziert werden.

Sicherheit erst ab Phase III

China und Russland haben erste RNA-Vakzine bereits zugelassen und impfen täglich bereits Hunderte Landsleute. Dabei haben diese Stoffe die dritte und letzte Testphase des Zulassungsprozesses noch nicht vollständig durchlaufen. In den ersten beiden Phasen wird anhand weniger Freiwilliger geprüft, ob ein Impfstoff verträglich ist und seine optimale Dosierung ermittelt. In der letzten, mehrere Monate währenden Phase wird dann mit einigen tausend Probanden getestet, ob das Vakzin tatsächlich schützt – und keine gefährlichen Nebenwirkungen aufzeigt. »Wir brauchen die Phase-III-Daten zur Wirksamkeit und Sicherheit des Impfstoffs«, sagt Klaus Cichutekt, Präsident des für Vakzine in Deutschland zuständigen Paul-Ehrlich-Instituts.

Mehrere Impfstoffe europäischer und nordamerikanischer Pharmaunternehmen befinden sich bereits in der letzten Testphase. »Aktuell gehen wir als Forschungs­ministerium davon aus, dass Mitte nächsten Jahres breite Teile der Bevölkerung geimpft werden können«, sagt Bundesforschungsministerin Anja Karliczek.

Logistische Herausforderung: 15 Millionen Lieferungen in Kühlboxen bei minus 80 Grad

Dann kommen immense Herausforderungen auf die Logistikunternehmen zu. »Um eine weltweite Versorgung mit Covid-19-Impfstoffen sicherzustellen, werden rund 15 Millionen Lieferungen in Kühlboxen sowie 15.000 Flüge erforderlich sein«, rechnet Katja Busch, Chief Commercial Officer und Leiterin Großkundenbetreuung bei Deutsche Post DHL, vor. Das größte Problem dabei: »Üblicherweise erfolgt die Distribution von Impfstoffen bei plus zwei bis minus acht Grad«, sagt Busch. RNA-Impfstoffe müssen jedoch bei bis zu minus 80 Grad gelagert und transportiert werden, um nicht zu zerfallen.

Ein Beitrag von
Hubertus Siegfried,
freier Journalist