Was von der Pandemie geblieben ist

Klaus Stöhr
Virologe Klaus Stöhr © privat

Interview
Perspektiven

Susanne Müller

Wie nachhaltig wird die Corona-Pandemie unsere Gesellschaft beeinflussen? Dazu äußert sich der prominente Epidemiologe und Virologe Klaus Stöhr.

Können wir uns langsam wieder locker machen?
Klaus Stöhr: Die kurze Antwort lautet: Ja. Warum? Es wird zwar wie jeden Winter eine Erkältungswelle geben, sie wird aber nicht so hoch wie in den beiden Vorjahren und so stark durch SARS-CoV-2 dominiert werden. Gegenwärtig werden Influenza, Rhino-, Metapneumo- und andere Viren viel häufiger bei Erkrankten gefunden. Die Krankheitslast durch Covid-19 ist beziehungsweise wird also vergleichbar mit der anderer Atemwegserkrankungen: Die Anzahl von Lungenentzündungen in Krankenhäusern und Intensivstationen liegt jetzt nur leicht über der vor der Pandemie in diesem Zeitraum und SARS-CoV-2 hat nur einen kleinen Anteil daran. Deshalb sollte man auch verhältnismäßig mit dieser Infektion umgehen: Wer krank ist, bleibt zu Hause, getestet wird, wenn das Ergebnis einen therapeutischen Vorteil bringt, wenn es Impfungen gibt – gegenwärtig nur Influenza und SARS-CoV-2, ab nächstem Jahr auch RSV – sollten sich die Vulnerablen vor dem Winter auffrischen lassen. In den Krankenhäusern und Pflegeheimen braucht es auch keine Sonderbehandlung mehr wegen SARS-CoV-2 über die existierenden Hygienekonzepte für Atemwegs- und andere Infektionserreger hinaus. Isolation und Quarantäne sind weder notwendig noch wirksam.

Allerdings wird wie zum Beispiel im Winter 2017 bis 2018 die Belastung für die Krankenhäuser groß werden, trotz hoher Immunitätslage durch natürliche Immunisierung und Impfen. Auch ist die Krankheitslast durch Anpassung von SARS-CoV-2 an den Menschen jetzt langsam vergleichbar mit der der bereits bekannten endemischen Coronaviren. Nichtdestotrotz gibt es anders als bei den bekannten Atemwegsinfektionen immer noch ungeimpfte, nichtgenesene ältere Personen und viele. die unter Umständen nur eine natürliche Infektion ohne Impfung hinter sich haben. Deshalb wird es auch wieder viele und zum Teil auch schwerer COVID-19-Fälle geben, und der Anteil von SARS-CoV-2 an allen Atemwegerkrankungen wird wahrscheinlich bis Februar kontinuierlich steigen.

Was hat die Weltbevölkerung von Corona weiterhin zu erwarten, und wie viel Schutz brauchen die Menschen noch?
SARS-CoV-2 ist gekommen, um zu bleiben. Das war bereits klar, nachdem die wohl weltweit härtesten Maßnahmen in Wuhan in 2020 die Ausbreitung des Erregers nicht verhindern konnten. Jetzt ist der Erreger an den Menschen weitestgehend angepasst; eine weitere Abschwächung oder plötzliche Zunahme der krankmachenden Wirkung wäre biologisch nicht plausibel. Vier endemische Coronaviren zirkulieren ja schon beim Menschen, da wird sich SARS-CoV-2 einreihen. Dann gibt es einen mehr bei den zirka 200 Atemwegserregern des Menschen. Daran erkrankt jedes Kind etwa acht- bis zwölfmal und jeder Erwachsene etwa vier- bis sechsmal jedes Jahr. Die Infektionen werden saisonal jeweils im Winter auf der Nord- und Südhalbkugel zunehmen und wie gehabt in der Aequatorialzone das ganze Jahr auf niedrigem Niveau verlaufen. Daran wird sich auch nichts ändern. In den Entwicklungsländern wird man weiterhin aus ökonomischen Gründen andere Erkrankungen priorisieren müssen – die Erkältungen agieren hier häufig „unter dem Radarschirm“. Impfungen gegen SARS-CoV-2 bleiben maximal in den entwickelten Ländern für die Vulnerablen von Interesse. Allerdings werden die große Aufmerksamkeit und die zum Teil auch in Deutschland geschürte, irrationale Angst vor der Erkrankung noch für einige Jahre für ein stärkeres Impfinteresse außerhalb der Risikogruppen sorgen. Neue Impfstoffe, die die Infektion und Ausscheidung beinahe komplett verhindern, wird es nicht oder zumindest in absehbarer Zeit nicht geben. Damit kann es auch keine Herdenimmunität geben, und die Null-Covid-Fantasie bleibt null-realistisch.
Allerdings werden weiterhin viele genetisch unterscheidbare Varianten beobachtet werden: Sie bleiben jedoch auch weiterhin sowohl medizinisch als auch für die Impfstoffentwicklung unbedeutend. Nur wenn eine immunologisch unterscheidbare Variante entstehen würde, wäre mit einer heftigeren Winterwelle zu rechnen, und der Impfstoff müsste angepasst werden. Das wird passieren. Aber: Die gesundheitlichen Auswirkungen werden dann maximal vergleichbar sein mit einem starken Influenzawinter, und gegenwärtig gibt es keine Hinweise darauf.

Wie wird sich das Virus kurz-, mittel- und langfristig auf Gesellschaft, Wirtschaft und Politik auswirken?
Kurz- und mittelfristig wird sehr viel von der nationalen politischen Risikoeinschätzung abhängen. Das sehen wir an dem breiten Bekämpfungsspektrum der europäischen Länder. Bei vergleichbaren Verhältnissen und identischem Virus gehen die Bekämpfungsansätze zum Teil diametral auseinander. Wenn man also die Auswirkungen von SARS-CoV-2 und Covid-1 auf die Gesellschaft verhältnismäßig gestalten möchte, reicht es nicht aus, die medizinischen und gesundheitsökonomischen Fakten auf den Tisch zu legen, Krankheitslasten von verschiedenen Atemwegserkrankungen zwischen den Risikogruppen zu vergleichen und die Immunitätslage national zu verifizieren. Wenn dieses Wissen nicht die politische Entscheidungssphäre penetriert und dort genutzt wird, bleibt es auch weiterhin bei den aus meiner Sicht mit der gegenwärtigen Situation nicht kompatiblen Maßnahmen wie Isolation, Maskenpflicht, Testen etc. oder noch ökonomisch unsinniger: teure Impfstoffreservierungen für die nächsten Jahre.

Was die zum Teil erratische Politik der Bundes- und Landesregierungen mit der Gesellschaft, dem sozialen Zusammenhalt, dem Vertrauen in den Staat und die Politik gemacht hat und wie hier wieder gegenzusteuern ist, muss schnell durch geförderte Forschungsprogramme evaluiert und publiziert werden. Auch wäre aus meiner Sicht eine gesundheitsökonomische Analyse der Wirkung der mehr als 520 Milliarden Euro Mehrausgaben für die Coronabekämpfung dringend notwendig. Ich verstehe auch nicht, warum noch keine Enquete-Kommission eingesetzt wurde, um die politischen Entscheidungen während der Pandemie unabhängig zu evaluieren.
Langfristig wäre es wichtig, sich von wissenschaftlich versierten Fachleuten – nicht von Grundlagenwissenschaftlern – rational und mit praxisrelevanten Maßnahmen auf die nächste, unvermeidliche Pandemie vorzubereiten. Dafür gibt es von der WHO bereits seit Jahrzehnten ausgearbeitete Konzepte zur Verstärkung der globalen Seuchenüberwachung und des gleichberechtigten Zugangs zu essenziellen Medikamenten. Dazu gehört auch, sich strukturell auf eine systematische Datenanalyse, Risikobewertung und strategische Entscheidungsfindung sowie eine transparente Krisenkommunikation vorzubereiten.

Susanne Müller