Weniger ist im Retail mehr
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Diskurs
Susanne Müller
Nach Erkenntnissen von Hystreet haben sich die Passantenfrequenzen in den Innenstädten zuletzt stabilisiert: Die Menschen gehen wieder vermehrt stationär shoppen. Und dennoch machen Händlerinsolvenzen reihenweise Schlagzeilen. Woran das liegt, und was Retailer tun sollten, um sich stabil aufzustellen, weiß Handels-Zukunftsforscherin Theresa Schleicher.
Die Zeit, sich angesichts einer leichten Markterholung entsannt zurückzulehnen, ist für Einzelhändler noch längst nicht gekommen. „Retail lebt von Veränderungen und vom Fortschritt“, sagt die Expertin. „Es stimmt: Die Konsumlaune nimmt langsam zu, der Handel erholt sich peu à peu, und Lösungen tauchen am Horizont auf. Nun benötigen wir Akteure mit hoher Motivation.“
Zeichen auf Veränderung
Trotz der etwas verbesserten Rahmenbedingungen melden derzeit zahlreiche, teils auch etablierte Unternehmen ihre Geschäftsaufgabe. Leerstände in den Innenstädten vermitteln das Bild einer bröckelnden Einzelhandelslandschaft. Ein Widerspruch in sich? „Die Zeichen stehen definitiv auf Veränderung“, hat Theresa Schleicher beobachtet. „Die Gesellschaft ist im Wandel begriffen, und manche großen, klassischen Ketten wie Esprit und Galeria konnten mit dieser Entwicklung nicht Schritt halten. Das ist ein natürlicher Prozess der Auslese. Für diejenigen, die noch am Markt agieren, gilt es, ihr Konzept zu optimieren.“
Etwas Schönes zum Schwelgen
Gerade im Textilbereich sei die gesellschaftliche Mitte heute anders aufgestellt als noch vor einigen Jahren. „Früher favorisierten die 40- bis 50-jährigen Frauen aus der Mittelschicht qualitativ hochwertige, solide Kleidung in optimaler Passform. Das klingt eigentlich schon beim Hören langweilig“, schmunzelt sie. „Heute hingegen geht der Trend zu nachhaltiger, aussagekräftiger Mode mit Pfiff – ein neuer Zeitgeist hält Einzug. Viele gesellschaftliche Krisen haben das Frauenbild verändert. Angesagt ist mittlerweile etwas Leichtes, Schönes zum Schwelgen.“
Innovationen anstoßen
Dies, so Theresa Schleicher, gelte durchaus nicht nur für den Fashion-Bereich: „Sogar in Baumärkten lässt sich diese Entwicklung beobachten, und auch im Lebensmittelhandel wandeln sich die Sortimente zunehmend hin zu neuen Marken, oft auf pflanzlicher Basis.“ Da der E-Commerce nicht zuletzt durch Corona exorbitant gewachsen ist, sei es für den stationären Handel unabdingbar, als Gegengewicht neue Lösungen zu finden und Innovationen anzustoßen. Hauptspannungsfeld im Retail sei derzeit der Spagat zwischen preisbewusstem Kaufen und Investitionen in die Zukunft. „Sowohl große Handelsketten als auch kleine Stores stehen von dieser Herausforderung“, weiß Theresa Schleicher. „Verbraucher tendiern häufig zu günstigen Produkten, sodass die Preise angepasst werden müssen. Gleichzeitig ist es wichtig, interne Prozesse zu verändern, beispielsweise im Marketing.“
Rückkehr zum Wesentlichen
Konkret heiße das, sich die Frage zu stellen, „wo kann ich abschneiden“. Viele Händler hätten in den vergangenen Jahren E-Commerce-Plattformen ausgestockt underlebnisorientiertes Shopping forciert. Nun jedoch sei die Zeit gekommen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. „Und das sind letztendlich zwei Aspekte. Zum einen, sich exzellent zu machen, anstatt sich an hundert verschiedenen Baustellen zu verzetteln. Und zum anderen, personelle und zeitliche Ressourcen freizuschaufeln. Viele Händler haben intuitiv so viel Gutes erschaffen und sollten diese Errungenschaften deutlich in den Fokus stellen.“ Weniger ist also mehr, davon ist die Retail-Kennerin überzeugt. „Im Grunde sollten Händler den Reset-Knopf drücken, sich konzentrieren auf das, was sie ausmacht und wofür sie stehen.“ Das funktioniere absolut auch in kleineren Ortschaften: „Dort kann eine starke Gemeinschaft positive Ergebnisse bringen“, meint Theresa Schleicher. „Ein qualitativ guter Gegenpol zum Onlinehandel ist eine Zusammenarbeit der lokalen Akteure.“ Profilbildung und Fokussierung aufs Kerngeschäft sind angesagt. „Die ganzen Rattenschwänze an Maßnahmen verursachen lediglich Erschöpfung“, ist Theresa Schleicher überzeugt. „Retailer sollten sich auf das beschränken, was sie für ihren Erfolg wirklich brauchen.“
Augenmerk aufs Produkt
Wie sieht nun aber ein erfolgreiches Handelskonzept aus? „Das bewerten letztendlich die Kunden. Und von daher zahlt es sich aus, sich auf diese einzulassen, herauszufinden, wie sie ticken. Dies bezieht sich nicht nur auf Bestandskunden, sondern auch und vor allem auf potenzielle neue Zielgruppen. Große Erlebniswelten und spektakuläre Flagship-Stores funktionieren manchmal – doch längst nicht in allen Fällen. Uns deshalb muss das Credo lauten: Was benötigen die Menschen?“ Der Fokus müsse zurück auf die puren Produkte gehen, so Theresa Schleicher. „Sämtliche Kanäle zur Vermarktung sind letztendlich nichts weiter als Verpackung. Starke Konzerne hingegen richten ihr Augenmerk auf die Waren an sich. Sobald beispielsweise ein Influencer für einen Supermarkt einen bestimmten Artikel bewirbt, ist dieser in Nullkommanichts ausverkauft. Am Ende des Tages ist der Handel schließlich Plattform für gute Produkte.“
Langlebigkeit ist angesagt
Wie der Retail in der Zukunft aussehen wird, zeichnet sich jetzt bereits ab. „Ganz klar lässt sich eine Entwicklung hin zu langlebigen und bewussten Einkäufen beobachten. Billig zu shoppen, hat halt seine Grenzen: Einkäufe auf Plattformen wie Temu und Shein stressen irgendwann. Jahr für Jahr steigen die Temperaturen, Starkwetterereignisse nehmen zu, und Ressourcen wie beispielsweise Kakao werden teurer. Irgendwann werden die Menschen kaum noch vor die Türe gehen können, weil es einfach zu heiß ist. Und in diesem Kontext ändert sich auch das Kaufverhalten – weg vom Massenkonsum und hin zur Nachhaltigkeit.“
Refurbishment boomt
Ein ausgewogener Mix aus stationärem Handel, Online-Angeboten, Service und Dienstleistungen sei immer noch das beste Rezept zum Erfolg, so Theresa Schleicher. „Retailer sollten sich spezifisch in der Umgebung umschauen und den Blick fest auf die Bedürfnisse der Kunden richten. Ganz stark nach oben tendieren zum Beispiel Second-Hand-Verkäufe. Weil diese Produkte günstig zu haben sind, funktioniert Refurbishment in vielen Bereichen wahnsinnig gut, von Bekleidung über Elektronik bis hin zu Möbeln. Das zeigen Unternehmen wie IKEA, MediaMarkt und Zara, die solche Services anbieten. PreLoved in guter Qualität stößt bei Verbrauchern auf Interesse.“
Lust auf Neues gefragt
Als Rat gibt sie Retailern mit auf den Weg, sich von zwei Wörtern zu verabschieden: „Transformation, denn das schafft extreme Ermüdung. Besser ist, mit dem Kunden Schritt für Schritt die Dinge weiterzuentwickeln, ohne ein großes Ziel aus den Augen zu verlieren. Und Resilienz – was nichts weiter als Widerstand leisten bedeutet. Stattdessen benötigen wir Innovationskraft, eine andere Denkweise und Lust auf Neues.“
Susanne Müller