Wenn Avatare shoppen gehen ...

Bodyscanner von H&M
132 Kameras und 32 Tiefensensoren: Bodyscanner von H&M © H&M

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Richard Haimann

Mit virtuellen Umkleidekabinen wollen immer mehr Textilketten ihren Kunden den Einkauf über das Internet erleichtern. Filialisten wie H&M und Peek & Cloppenburg hoffen, mit der neuen Technik nicht nur ihr Online-Geschäft zu stärken, sondern zugleich Kunden in den stationären Handel einzubinden. Wer künftig virtuell Klamotten anprobieren will, muss seinen Körper vor Ort scannen lassen. Ein gute Gelegenheit für das ein oder andere Schnäppchen

Es ist eine der repräsentativsten Adressen in Zürich: Der Prime Tower mit seinen 126 Metern war bis vor wenigen Jahren der höchste Büroturm der Schweiz, direkt am Bahnhof Hardbrücke gelegen. Er beherbergt auf seinen 36 Stockwerken so namhafte Konzerne wie die Deutsche Bank, die Fondsgesellschaft GAM und den Software-Giganten Oracle. Demnächst zieht ein weiteres internationales Unternehmen hinzu: Der deutsche Online-Modehändler Zalando hat die komplette 23. Etage und die Hälfte des siebten Stocks gemietet, um dort virtuelle Umkleidekabinen zu programmieren.

Der Einzug des Berliner E-Commerce-Riesen mit mehr als 16.500 Mitarbeitenden und einem Jahresumsatz von rund acht Milliarden Euro im Jahr 2020 in das Zürcher Hochhaus steht für einen neuen Trend: Immer mehr Technologieunternehmen lassen sich in den besten Bürolagen der mit 422.000 Einwohnern größten Stadt der Schweiz nieder. Genau dort, wo bisher vor allem Finanzinstitute teuer residierten. »Tech-Firmen sind die neuen Banken«, sagt David Schoch, Director Research & Marketing bei der Immobilienberatungsgesellschaft CBRE in Zürich.

Grund dafür seien »die sehr gute Forschungs- und Ausbildungsleistung an den Universitäten, die hohe Lebensqualität und die im internationalen Vergleich tiefe Lohnsteuer«, sagt Daniel Stocker, Head Research bei der Immobilienberatungsgesellschaft JLL, die den Mietvertrag zwischen Zalando und dem Prime-Tower-Eigentümer Swiss Prime Site Immobilien vermittelt hat. »Diese Unternehmen benötigen hochqualifizierte Arbeitskräfte – und finden sie in Zürich.«

Das hat Tech-Giganten wie Amazon, Facebook, Google, Microsoft und Oracle bereits in die besten und teuersten Bürolagen der Schweizer Wirtschaftsmetropole gelockt. »Technologiefirmen müssen gute Pakete bieten, um die von ihnen begehrten Spezialisten für sich zu gewinnen«, sagt auch JLL-Researcher Stocker. Sie zahlten daher nicht nur Top-Löhne, sondern böten auch bestens ausgestattete Büros, die den Mitarbeitenden auch Raum für Entspannung bieten. Die teuren Mieten in den Toplagen fielen dabei für die Unternehmen kaum ins Gewicht. »Angesichts der hohen Gehälter der Programmierer machen die Büromieten in der Kostenbilanz dieser Unternehmen nicht viel aus«, sagt Stocker.

Fision: Softwareschmiede für Body-Scanning-App

Auch Zalando setzt darauf, dass sich die hohen Bürokosten im Prime Tower langfristig rentieren werden, indem die Berliner vom Zürcher Expertenreservoire profitieren können. Ende vergangenen Jahres haben die Berliner das Schweizer Start-up Fision übernommen. Eine kleine, aber feine Softwareschmiede, die eine Body-Scanning-App entwickelt hat. Freigemacht bis auf die Unterhose, können Konsumenten über einen Scanner ihre Körpermaße exakt erfassen lassen – vom Bauchumfang über die Ausprägung der gesamten Muskulatur. Diese Technologie soll nun die Basis für virtuelle Umkleidekabinen bilden.

Kunden sollen mit dem Smartphone ihren eigenen Körper exakt scannen können. Aus den Daten sollen Rechner Avatare schaffen – virtuelle Kunstfiguren, die den jeweiligen Sitz der 950.000 Schuhe und Kleidungsstücke aus dem Online-Sortiment in diversen Größen auf dem Bildschirm widerspiegeln. »Unsere Kunden sollen so Kleidungsstücke in der für sie perfekten Größe und Passform finden«, sagt Stacia Carr, Vizepräsidentin »Size and Fit« bei Zalando.

Die 20 Mitarbeitenden von Fision bilden den Kern der Entwickler-Gruppe, die nun im Prime Tower die Technologie zur endgültigen Reife bringen soll. Weitere 130 Spezialisten sollen hinzukommen. Es gehe um »eine Lösung für eine der größten Herausforderungen der Modebranche«, begründet Zalando den Schritt: »Online-Kunden zu helfen, ein Kleidungsstück auf Anhieb in der richtigen Größe und Passform zu finden.«

Retouren reduzieren, Kosten sparen

Dahinter steht das Ziel, die Zahl der Rücksendungen nicht passender Waren zu senken. »Wir wollen unnötige Retouren reduzieren«, sagt Carr. 315 Millionen Pakete von E-Commerceanbietern wurden allein in Deutschland im vergangenen Jahr retourniert, zeigen Daten des Statistikportals Statista. 50,4 Prozent der Online-Käufer senden danach bis zu zehn Prozent der von ihnen über das Internet bestellten Waren wieder an den Verkäufer zurück. Spitzenreiter mit einem Anteil von 32 Prozent sind dabei Textilien, gefolgt von Schuhen mit einem Anteil von 17 Prozent.

Für Online-Händler sind Warenrückläufe höchst kostspielig. Nicht nur wegen der Portokosten. Retournierte Produkte müssen auf Beschädigungen untersucht, mitunter gereinigt, neu ausgezeichnet und in das Lagermanagement und den Internet-Warenbestand reintegriert werden. Mitunter ist der Aufwand so hoch, dass es für E-Commerceanbieter günstiger ist, Retouren einfach zu vernichten. Nach einer Studie der Universität Bamberg wurden 2018 rund 19 Millionen rückgesandte Produkte in den Abfall geworfen.

Zwar hat die schwarz-rote Bundesregierung im Frühjahr vergangenen Jahres eine Reform des Kreislaufwirtschaftsgesetzes auf den Weg gebracht, um die Vernichtung von Retouren zu reduzieren. Doch erhebliche Teile der Rechtsverordnung sind bislang nicht umgesetzt. Das könnte sich bald ändern. Den Grünen erschien die damalige Gesetzesänderung zu lasch. »Sie geht über Absichtserklärungen nicht hinaus«, kritisierte deren Bundestagsfraktions-Vorsitzende Katrin Göring-Eckhardt. SPD und Union hätten sich »einer nachhaltigen Lösung verweigert und nur Symbolpolitik betrieben«. Nun wollen die Grünen nachbessern.

Digitaler Zwilling bei H&M

Nicht nur Zalando arbeitet an virtuellen Umkleidekabinen und Avataren. Der schwedische Textilfilialist Hennes & Mauritz (H&M) hat jüngst in einem Pilotprojekt Kunden angeboten, in seiner Berliner Filiale am Kurfürstendamm und im Hamburger Geschäft an der Spitaler Straße Avatare von sich erstellen zu lassen. Mit dem digitalen Zwilling können die teilnehmenden Konsumenten seither Produkte aus der speziell dafür abgestimmten »No fear«-Kollektion virtuell anprobieren. Die Teilnehmer wurden dazu mit einem Scanner, ausgestattet mit 132 Kameras und 32 Tiefensensoren, vermessen. Die Technologie wurde vom Berliner Avatar-Spezialisten NeXR entwickelt.

Auch die Textil-Einzelhandelskette Peek & Cloppenburg Düsseldorf will ihren Kunden den Komfort virtueller Umkleidekabinen bieten. Ihre Tochtergesellschaft International Brands Company (IB) hat dazu jüngst eine Technologiepartnerschaft mit NeXR geschlossen. Ziel sei es, die von Designern und Technical Designern entwickelten Mode-Modelle zu digitalisieren, sie auf die Avatare anzupassen und diese gleichzeitig in den Produktentwicklungsprozess einzugliedern.

Nehmen genügend Kunden teil, erfahren die Filialisten die Körperproportionen des Großteils ihrer Konsumenten und können so Textilien noch passender schneidern lassen. Die Einbindung der Avatare in das Design der Textilien schaffe »frühzeitig das Potenzial, später allen Kunden noch einfacher eine virtuelle Anprobe der Kleidungsstücke der In-House Kollektion zu ermöglichen«, sagt Stefan Zsegora, Senior Vice President von NeXR.

Während Zalando mit seiner App den Umsatz im Internet weiter ankurbeln will, versuchen Filialisten wie Anbieter H&M und Peek & Cloppenburg mit der neuen Technik nicht nur ihr Online-, sondern zugleich auch ihr stationäres Geschäft zu stärken. Die Kunden müssen in die Filialen kommen, um ihre Körper scannen zu lassen. Dabei könnten sich manche gleich noch zu einem Schnäppchenkauf verführen lassen.

Auch in Pandemiezeiten sicher Klamotten probieren

Auch international arbeiten Handelsketten an virtuellen Umkleidekabinen. Mit dabei sind der britische Einzelhandelsgigant Marks & Spencer, die US-Kaufhauskette Bloomingdale's, der südkoreanische Textilhändler Shinsegae, der US-Einzelhandelskonzern Walmart und der Internet-Gigant Ebay.

Vorreiter bei der Entwicklung digitaler Umkleidekabinen ist Macy's. Der größte Warenhausbetreiber der USA mit einem Umsatz von 25,3 Milliarden US-Dollar – umgerechnet rund 22,5 Milliarden Euro – im Jahr 2020, bot seinen Kunden bereits 2015 »Smart Fitting Rooms« in seiner Filiale im kalifornischen Nobelbadeort Manhattan Beach. Inzwischen sind sie längst auch in anderen Warenhäusern des Unternehmens zu finden.

Über Tablets können Kunden in den Kabinen zur Anprobe mitgenommene Kleidungsstücke in anderen Größen und Farben anfordern. Innerhalb von 30 Sekunden fallen die gewünschten Produkte aus einem Schacht heraus. Stücke, die nicht passen oder nicht gefallen, werden einfach in einen anderen Schacht geworfen. Zudem zeigt das Tablet zu jedem georderten Textil Empfehlungen, welche anderen Kleidungsstücke in welchen Größen sich als Kombination anbieten würden. Auch sie lassen sich per Eingabe zur Anprobe anfordern.

Heute arbeitet auch Macy's am Einsatz von Bodyscannern und Avataren. Es sei ein Trend, der nicht mehr aufzuhalten sei, sagt Ben Parr, Vorstandschef und Mitgründer der Online-Marketingplattform Octane AI im kalifornischen Tustin. »Die Vorteile virtueller Umkleidekabinen sind in der Pandemie deutlich geworden.« Sind die Körperdaten einmal eingescannt, könnten Kunden über die Apps Textilien in ihren Wunschfarben und der korrekten Größe auch von überwiegend stationär aktiven Einzelhändlern »bequem von zu Hause aus online ordern, ohne sich dem Risiko einer Corona-Infektion auszusetzen«, sagt Parr. Die Einzelhändler wiederum hätten den Vorteil, ihre Produkte auch in einem Lockdown oder einer angespannten Pandemielage verkaufen zu können, wenn viele Konsumenten sich nicht trauen würden, Geschäfte aufzusuchen – und der Verkauf funktionierte bei maximal verringerten Retouren.


Ein Beitrag von
Richard Haimann,
freier Journalist