Wenn ich meinen Kunden nichts anderes biete als die Ware, werde ich nicht überleben

Dr. Bernd Buchholz
Dr. Bernd Buchholz © Joerg Wohlfromm / wohlfromm.studio

Interview
Herausforderung

Redaktion

Dr. Bernd Buchholz, Minister für Wirtschaft, Verkehr, Arbeit, Technologie und Tourismus des Landes Schleswig-Holstein, über »Dazu-Lernen« in Corona-Zeiten, nicht vermeidbare Insolvenzen, und warum der Einzelhandel im Norden bestens für den digitalen Ausbau gerüstet ist

Die Corona-Krise hat Sie und Ihr Ministerium in den vergangenen Monaten äußerst stark beansprucht. Was waren die größten Herausforderungen?
Dr. Bernd Buchholz: Für mich persönlich vor allem die unangenehme Herausforderung, dass ich als erster – und hoffentlich einziger – Tourismusminister vor der Aufgabe stand, den Tourismus im Land kurz vor Ostern gewissermaßen auf Null herunterzufahren. Glücklicherweise hat die Branche zumindest in weiten Teilen dann zum Sommer hin wieder kräftig aufgeholt. Eine weitere gewaltige Herausforderung war natürlich das Stemmen der Soforthilfen für die Wirtschaft, die einerseits so unbürokratisch und schnell wie möglich ausgeschüttet werden sollten, andererseits aber auch gerecht, effizient und möglichst betrugssicher. Das war und ist bis heute eine gewaltige organisatorische Herausforderung, denn der Bund stellt zwar in großem Umfang Milliardenhilfen bereit, die Abwicklung erledigen aber die Länder.

Gibt es Dinge, die Sie aus heutiger Sicht – mit sechs Monaten mehr Erfahrung – anders organisieren würden?
Na klar – nehmen Sie nur die Debatte um die Solo-Selbstständigen, die bei weggebrochenen Umsätzen in die Grundsicherung, also in Hartz 4 geschickt werden. Das ist für die Betroffenen angesichts gelockerter Zugangsvoraussetzungen zur Grundsicherung zwar kein massives finanzielles, wohl aber ein erhebliches psychologisches Problem. Das wurde unterschätzt. Geschickter wäre es gewesen, über die Finanzverwaltung bundeseinheitlich einen Pauschalbetrag von vielleicht 1500 Euro monatlich für Solo-Selbstständige auszukehren. Auch die Deckelung der ersten Soforthilfen auf Unternehmensgrößen von bis zu zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern war nicht klug. Das habe ich von vornherein kritisiert. Denn es hat beispielsweise uns in Schleswig-Holstein gezwungen, ein zusätzliches Programm aus Landesmitteln für Mittelstandsbetriebe mit bis zu 50 Beschäftigten aufzulegen. Anders organisiert hätte ich auch die aus heutiger Sicht viel zu engen Bedingungen für die ab August gezahlten Überbrückungshilfen. Damit wurden so hohe Hürden errichtet, dass viele gar nicht erst einen Antrag gestellt haben und stattdessen erst in einer weiteren Runde der Überbrückungshilfen seit Oktober zum Zuge kommen. Auch würde ich heute beispielsweise nicht nochmal einen Darlehns-Fonds allein für Betriebe des Hotel- und Gaststättengewerbes auflegen, sondern ihn branchenoffen gestalten – und zwar rein nach Kriterien der Bedürftigkeit.

In kürzester Zeit wurden auf Länder- und Bundesebene Verordnungen und Gesetze entwickelt und in Kraft gesetzt. Kann die Politik aus der Krise lernen, zukünftig schneller und effektiver zu arbeiten?
Ich glaube, der Philosoph Schopenhauer hat einmal gesagt: Die Krise ist ein unglaublich kreativer Zustand – man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen. In diesem Sinne lernen und wachsen natürlich auch Politik und Verwaltung an Krisen. Allerdings – und das zeigt sich ja aktuell besonders deutlich – ist der Föderalismus bei allen Vorteilen nicht immer geeignet, um Dinge rasch durchzupauken. Das liegt in der Natur der Sache: Ein Tourismusland wie Schleswig-Holstein hat beispielsweise beim Thema Beherbergungsverbot eine andere Position als etwa Sachsen-Anhalt. Gleichzeitig sind sich alle einig, dass bundesweit möglichst einheitliche Regeln am besten zu vermitteln und einzuhalten sind. Das gleicht zuweilen der berühmten Quadratur des Kreises. Hinzu kommt, dass der Umgang mit Covid-19 ein Prozess des ständigen Herantastens ist, was natürlich auch Fehler und ständige Kurskorrekturen bedingt. Keiner von uns hat bislang Erfahrungen mit einer weltweiten Pandemie.

Die Wirtschaft hat verschiedene Angebote der Politik erhalten, um mit unterschiedlichen Maßnahmen finanziell unterstützt durch die Corona-Krise zu kommen. Wie werden die Angebote angenommen und reichen die Mittel, um die gesamtwirtschaftlichen Folgen bevorstehender Insolvenzen und Verwerfungen abzumildern?
Wir werden Insolvenzen nicht vermeiden können und haben vermutlich auch noch einen Tunnel vor uns. Aber die derzeit vom Bund angebotenen Mittel von mehr als 20 Milliarden Euro im Zuge der Überbrückungshilfe reichen offenbar aus. Das belegen zumindest bislang die Antragszahlen, selbst nach Abmilderung der Zugangskriterien. Und auch die von uns als Land aufgelegten Härtefall-Fonds sind noch nicht in einem solchen Ausmaß nachgefragt worden, dass wir über Neuauflagen nachdenken müssten.

Wie ist Schleswig-Holsteins Wirtschaft bislang durch die Corona-Krise gekommen, und welche Prognosen haben Sie für Ihr Bundesland 2021?
Das jüngste Brutto-Inlandsprodukt hat uns gezeigt, dass wir zumindest im ersten Halbjahr von allen Bundesländern am besten durch die Krise gekommen sind – wenn auch mit einer Delle von fast Minus vier Prozent. Die sonst führenden Länder wie Baden-Württemberg oder Bayern sind dagegen erstmals am unteren Ende der Skala gelandet. Das liegt zum Teil daran, dass wir wenig Industrie und anderes verarbeitendes Gewerbe haben, zum Teil aber auch daran, dass wir als Urlaubsland im Sommer geradezu überrannt wurden – mit allen positiven ökonomischen Nebeneffekten. Denn immerhin bringt unsere Tourismusbranche mit ihren mehr als 170.000 Beschäftigten einen Umsatz von fast 10 Milliarden Euro auf die Waage. Für das zweite Halbjahr und das kommende Jahr bleibe ich ebenfalls optimistisch, auch wenn wir trotz aller staatlichen Hilfen zweifellos viele Insolvenzen erleben dürften. Schleswig-Holstein ist dank seiner stark mittelständischen Struktur und mit seinen 123.000 Unternehmen recht krisenfest aufgestellt.

Der stationäre Einzelhandel ist neben der Tourismusbranche am stärksten von den Auswirkungen der Corona-Krise betroffen. Es herrscht die Auffassung, dass die aktuelle Situation wie ein »Brandbeschleuniger« auch auf den stationären Handel wirke und in kürzester Zeit nur etwas vorweggenommen habe, was in ein paar Jahren sowieso passiert wäre. Wie sehen Sie die Entwicklung und Perspektiven?
Schon interessant, dass sich jede Branche immer selbst die stärkste oder zweitstärkste Betroffenheit attestiert. In der Aufzählung Ihrer Frage fehlen mindestens die Veranstalter, die Messebauer oder die Reisebranche, die ja auch alle neben den Einzelhändlern massiv unter den Pandemie-Folgen leiden. Und ja: Im Einzelhandel wirkt die Krise in der Tat wie ein Beschleuniger eines Strukturwandels, der nun einmal stattfindet. Aber an diesem Wandel kann der stationäre Einzelhandel erfolgreich partizipieren. Niemand dürfte mehr glauben, dass ein Umstieg des Handels auf e-Commerce oder andere digitale Kanäle noch zu stoppen ist. Und da muss der Einzelhandel seine Rolle und seinen Weg finden. Ich formuliere es mal drastisch: Wenn ich meinen Kunden nichts anderes biete als die Ware, dann werde ich nicht überleben. Es muss gelingen, ein Einkaufserlebnis zu schaffen – denn genau das habe ich nicht, wenn ich von der Couch bei Amazon oder woanders Produkte bestelle. Natürlich wird auch der stationäre Einzelhandel ohne einen verlängerten Arm im Online-Handel nicht auskommen. Und darin sehe ich vor allem eine Chance: Wenn sie nämlich dieses Feld gut ausfüllen, dann haben auch die starken örtlichen Marken im Online-Handel eine gute Chance.

Der reine Online-Handel ist mit Unternehmen wie Amazon der eindeutige Gewinner der Corona-Krise. Eine global agierende Autorität mit nahezu keinem wirklichen Wettbewerber und vergleichbaren Regeln wie im stationären Handel ist entstanden. Kann die Politik hier überhaupt noch regulierend eingreifen? Und wenn ja wie?
Warum sollte Politik Wettbewerb regulieren? Abgesehen von der Frage: Läuft der Wettbewerb fair ab? Unfair wird es aus meiner Sicht vor allem, wenn Internet-Giganten in Deutschland keine Steuern zahlen, obwohl sie große Gewinne einfahren. Und sich – anders als der stationäre Einzelhändler – hinter Steueroasen in Irland oder Liechtenstein verschanzen können. Das muss in der Tat europäisch gelöst werden, denn hier entsteht im Wettbewerb eine gewaltige Unwucht. Dem reinen Angebots-Wettbewerb hingegen muss sich jeder Marktteilnehmer tagtäglich stellen.

Ist eine Digitalsteuer nötig, um Steuerlasten fair zu verteilen? Kommen die EU-Staaten aufgrund der hohen Neuverschuldung gar nicht umhin, neue Einnahmequellen über zusätzliche Steuern zu erschließen?
Davon halte ich schlicht gar nichts, weil das eine einseitige Belastung des digitalen Handels wäre.

Die Auswirkungen der Corona-Krise werden nach heutigen Prognosen besonders die Innenstädte sichtbar treffen, da es viele Einzelhändler nicht schaffen werden, ihre Geschäfte bei niedrigen Besucherfrequenzen und geringen Umsätzen am Leben zu erhalten. Wie kann die Politik hier helfen, bessere Rahmenbedingungen zu schaffen, die es Städten, Immobilienwirtschaft und Einzelhändlern möglich macht, zueinander zu finden?
Das ist vor allem eine Aufgabe der Kommunalpolitik. Und da gibt es gerade in Schleswig-Holstein sehr schöne Beispiele für funktionierende und handelsfreundliche Innenstädte – zum Beispiel Eckernförde an der Ostsee oder Husum an der Nordsee. Leider gibt es aber auch viele Fälle, in denen es die Kommunalpolitik nicht geschafft hat, ihre Innenstädte vom Einzelhandel her attraktiv zu gestalten. Da gibt es viele Erfolgsfaktoren – zum Beispiel die verkehrliche Anbindung. Niemand wird gern und viel in einer Fußgängerzone einkaufen, wenn er es zu weit zu seinem Wagen, einem Shuttle-Service oder einem attraktiven ÖPNV-Angebot hat. Es ist letztlich auch eine Frage des Branchen-Mix. Kann ich neben einem Einkauf auch irgendwo gut sitzen, gut essen? Da hat die Kommunalpolitik enorm viele Einflussmöglichkeiten. Wir als Land begleiten das gern mit städtebaulichen Förderungen.

Der stationäre Handel muss seine Angebote künftig in Form von »Omni-Channel« anbieten können. Ohne leistungsstarkes Internet wird das nicht möglich sein. Welche Maßnahmen auf dem Weg zur besseren Digitalisierung sehen Sie als vorrangig an?
Wir schaffen ja gerade in Schleswig-Holstein durch unseren intensiven Glasfaser-Ausbau die digitalen Autobahnen, auf denen sich auch der stationäre Einzelhandel in den nächsten Jahrzehnten ohne wirkliche Grenzen bewegen kann und bewegen sollte. Mit einer Abdeckungsquote von 44 Prozent aller Haushalte sind wir schon heute bundesweit einsam an der Spitze. Den Rest muss die Wirtschaft selbst organisieren.

Nicht erst seit der Corona-Krise wird über die Erhöhung der Anzahl verkaufsoffener Sonntag kontrovers diskutiert. Eine Entzerrung der Besucherströme und die Chance auf zusätzliches Geschäft lassen Gewerkschaften und Kirchen als Argument nicht gelten – selbst in Corona-Zeiten nicht. Auch die Tatsache, dass der Sonntag der stärkste Online-Einkaufstag ist, stimmt die Gegner der Sonntagsöffnung nicht um. Wie könnte ein für alle tragbarer Kompromiss in Krisenzeiten aussehen?
Ich glaube, der einzig wirklich tragfähige Kompromiss ist der, den wir zumindest in Schleswig-Holstein aktuell haben. Das ist eine mühsam ausgehandelte Übereinkunft mit Kirchen und Gewerkschaften über unsere Regelung für Bäderorte und vier zusätzliche anlassbezogene verkaufsoffene Sonntage. Ich persönlich bin jedenfalls nicht bereit, das aufzukündigen, denn wenn erst die Gerichte entscheiden, haben wir am Ende möglicherweise deutlich weniger Öffnungszeiten als heute. Stattdessen sollten erst einmal die Möglichkeiten ausgeschöpft werden, die uns das Gesetz aktuell bietet – das passiert längst nicht in jeder Stadt.

In Schleswig-Holstein gibt es seit 2017 eine Jamaika-Koalition, in der Sie gemeinsam mit den Grünen und der CDU regieren. Ist diese Konstellation der Kompromisse eine Blaupause für künftige Regierungsbündnisse auf Bundesebene?
Ich finde schon. Denn es ist ja keineswegs nur eine Konstellation der Kompromisse, auch wenn hier zweifellos drei Partner zusammen regieren, die sehr unterschiedlich sind. Aber es sind eben auch drei Partner, die eine gemeinsame Idee haben von einer Gesellschaft, bei der Ökonomie und Ökologie versöhnlich im Einklang stehen. 

Die Fragen stellte
das GCM-Redaktionsteam

Dr. Bernd Buchholz. Seit dem 28. Juni 2017 ist der FDP-Politiker Minister für Wirtschaft, Verkehr, Arbeit, Technologie und Tourismus des Landes Schleswig-Holstein. Bis er in das Kabinett von Daniel Günther berufen wurde, war er als Jurist bei einer Hamburger Kanzlei tätig. Von 2009 bis 2012 fungierte er als Vorstandsvorsitzender der Gruner + Jahr AG & Co. KG.