Wenn wir … ein schönes Erlebnis haben, sind wir völlig schmerzbefreit, was Kosten angeht

Nicole Srock.Stanley
Nicole Srock.Stanley © dan pearlman Group

Interview
Glokalisierung

Florian Treiß

Nicole Srock.Stanley, Gründerin und CEO der Unternehmensgruppe dan pearlman Group mit Sitz in Berlin, rät Händlerinnen und Händlern, nicht mehr nur an Umsatz pro Quadratmeter zu denken, sondern Aufenthaltsqualitäten für die Kundinnen und Kunden zu schaffen und das Shopping so zum Erlebnis zu machen. Gute Beispiele dafür sind Karls Erlebnis-Dorf, das Bikini Berlin oder die koreanische Kette Gentle Monster

Frau Srock.Stanley, was ist der Unterschied zwischen Einkaufen und Shopping?
Nicole Srock.Stanley: Einkaufen ist Butter, Milch, Eier, Salz, also klassische Bedarfsdeckung. Das wird zukünftig zu hundert Prozent ein Online-Thema werden. Wenn ich weiß, was ich brauche, dann kaufe ich online. Wenn ich aber nicht weiß, was ich haben möchte, sondern nur ein vages Gefühl, dass ich mir etwas Gutes tun möchte und ich habe zwei Stunden Zeit, dann wird Shopping relevant. Da kommt jetzt gerade ein Paradigmenwechsel, den man so im Handel nicht gekannt hat. Wenn bei der Entscheidung, in den Laden zu gehen, über eine Zeitverfügbarkeit entschieden wird, sprechen wir von Freizeitindustrie. Das heißt, der ganze stationäre Handel hat klammheimlich die Industrie gewechselt – von Bedarfsdeckung zu Freizeitunternehmen.

Wie schaffen es Händler, dass Shopping für ihre Kundinnen und Kunden zum Erlebnis wird?
Auf einmal geht es nicht mehr darum, viel Umsatz pro Quadratmeter zu machen, sondern es geht um Aufenthaltsqualitäten für die Kunden. Gerade das ist eine der wichtigsten KPIs, weil diese definiert, wie lange eine Kundin im Laden bleibt. Je mehr Zeit sie verbringen kann, umso höher wird die Catchment Area, nämlich das Einzugsgebiet. Je höher das Einzugsgebiet wird, umso größer ist auch die potenzielle Zielgruppe, die zu einem kommt.

Darüber hinaus gilt: Nur was in eine schöne Geschichte verpackt wird und einer guten Dramaturgie folgt, bringt ein Erlebnis. Diese besonderen Erlebnisse sind so wichtig, weil wir mittlerweile überstimulierte Gehirne haben, sodass wir uns eigentlich schon gar nicht mehr erinnern können, was wir vorige Woche gemacht haben. Doch wenn wir uns nicht daran erinnern, dass wir in einem netten Laden waren, dann werden wir da nie wieder hingehen, außer er ist der einzige seiner Art. Das heißt, ich muss mir als Händler:in immer die Frage stellen, was möchte meine Kundin, mein Kunde, um ein schönes Erlebnis zu haben. Dann werden wieder Tugenden wichtig wie ein schönes Sortiment, gut kuratiert, gut präsentiert. Noch viel wichtiger: Die gute Kundenansprache. Schleicht sich ein Verkäufer von hinten an und sagt: »Kann ich helfen?« oder werde ich mit einem Getränk willkommen geheißen? Oder: Kann ich mich irgendwo hinsetzen? Und wo kann mein Lebenspartner, meine Partnerin warten, wenn die kein Interesse an diesem Shopping-Erlebnis haben? Entscheidend sind die soften Faktoren, die Erlebnisse kreieren.

Haben Sie da vielleicht ein, zwei Beispiele, außer gutes Sortiment, gute Beratung?
Tatsächlich haben aus unserer Sicht auf einmal kleinere, inhabergeführte Unternehmen wieder eine sehr hohe Relevanz. Da stehen die Inhaber:innen oft selbst hinter der Ladentheke und wissen auch, wer durch die Tür kommt. Sie sehen die Kunden nicht als wandelnde Portemonnaies, sondern als Individuen mit bestimmten Bedürfnissen. Das ist das, was die Kundin und der Kunde sich wieder wünschen: die Verbundenheit zu dem Ort und nicht einfach eine abstrakte Kennzahl in der Kasse zu sein.

Ein Konzept, das ich sehr interessant finde, ist Gentle Monster. Das Format kommt aus Korea, verkauft Sonnenbrillen und macht gerade einen richtigen Eroberungsfeldzug, nicht nur in den asiatischen Ländern. Das Erdgeschoss ist eine Ausstellung, die könnte auch im MOMA so stehen. Es ist wahnsinnig unterhaltsam. In der oberen Fläche haben die eigenen Produkte, die eben auch sehr State of the Art sind, Platz. Solche Retailtainment-Konzepte, also eine Mischform zwischen Warenpräsentation und Unterhaltung, werden in Zukunft extrem wichtig.

Wir waren im Urlaub im Karls Erlebnis-Dorf auf Usedom. Man denkt, man geht in einen Freizeitpark, ist hinterher auch am Shoppen und lässt als kleine Familie schnell hundert Euro da.
Karls ist der Prototyp der Zukunft des stationären Handels. Karls geht in absolute Randlagen und baut sich eine eigene Destination. Robert Dahl hatte einen Bauernhof und startete mit kleinen Erdbeerverkaufsständen. Das Geschäft hat er sukzessive ausgebaut und mittlerweile ist Karls ein Millionenkonzern, weil Dahl ganz konsequent auf die KPIs der Freizeitindustrie optimiert hat. Aber er lebt von achttausend Quadratmetern stationärem Handel pro Standort.

Wenn wir in erster Linie ein schönes Erlebnis haben, dann sind wir völlig schmerzbefreit, was Kosten angeht. Das heißt, wir kaufen dann aus einer Lust heraus, auch weil wir uns mit diesem schönen Moment belohnen wollen, weil es für uns eine kleine Flucht aus dem Alltag ist. Man kauft sich diesen schönen Moment, um ihn sich dann langfristig in das Regal zu stellen. Immer, wenn man die Erdbeermarmelade in die Hand nimmt oder Karlchen, das Kuscheltier, auf dem Bett der Kinder sieht, dann denkt man: Das war aber wirklich ein schöner Tag! Shopping ist damit Freizeitgestaltung.

Inwieweit können Händler punkten, um neben anderen Freizeitanbietern wie Kino, Konzerten oder Sportevents spannend zu bleiben?
Meine Großtante führte einen Tante-Emma-Laden. Sie hatte von Nähgarn bis Schrauben und Butter alles da. Zwar immer nur von einer Marke, aber sie hatte alles. Heutzutage gibt es eine schnelle Online-Verfügbarkeit für nahezu jedes Produkt von jeder Marke. Das heißt, es lohnt sich, spezifisch zu werden, wirklich ganz stark zuzuhören, was denn die Kundinnen und Kunden wollen und sich darauf einzulassen. Denn die Leute suchen das Spezielle. Deswegen tun sich die Kaufhäuser auch sehr schwer mit ihren Sortimenten, weil sie so beliebig geworden sind.

Ein Beispiel: Wenn ich einen Angelladen habe, dann mache ich den entweder in einem kompletten Premiumsegment oder ich spezialisiere mich z.B. auf die Würmer. Damit habe ich auch ein großes Alleinstellungsmerkmal im Netz und bekomme da noch mehr Kunden dazu. Außerdem sind dann die Leute auch bereit, sehr lange Wege in Kauf zu nehmen, weil sie zu ihrem Spezialisten kommen wollen.

Inwieweit können aus Ihrer Sicht digitale Tools helfen, die Erlebnisse zu verbessern?
Indem sie selbstverständlich werden. Im Moment haben digitale Tools oftmals ein merkwürdiges Eigenleben. Da tauchen große Screens auf, Touchtables, gestengesteuerte Tools und twitternde Spiegel. Wenn die aber so allein in den Läden herumstehen, dann sind sie nach ein paar Monaten wieder weg, weil sie nicht sinnvoll in eine Customer Journey eingebunden sind, sodass die Kundinnen und Kunden damit auch interagieren können. Letztendlich müssen diese digitalen Tools so selbstverständlich werden wie Strom.

Wenn man jetzt nicht so große Systeme hat wie ein Bonprix oder eine Otto Group, dann ist natürlich zumindest die Erreichbarkeit wichtig. Man kann mit dem Business Account von WhatsApp unmittelbar kommunizieren und muss nicht kompliziert über E-Mails gehen, man muss bei Google Inventory gefunden werden, wenn der Kunde sucht. Jeder Laden muss mit seinen Produkten in der digitalen Welt stattfinden. Wenn aber die Kundin durch die Tür kommt, dann muss der menschliche Kontakt stimmen. Dann ist wichtig, dass der Händler oder die Händlerin »brennt« für das, was er/sie tut und sich wirklich um die Kunden kümmert. Die digitalen Systeme übernehmen nur die stupiden Arbeiten der Logistik und der Inventarisierung und so weiter.

Mit Ihrem Unternehmen helfen Sie Händlern und Marken, zu expandieren, neue Flächen zu konzipieren. Wie sorgen Sie dafür, dass das Shopping zum Erlebnis wird?
Bei uns nennen wir es einen co-kreativen Prozess. Unsere Kunden wissen natürlich ziemlich alles über ihren Business Case. Wir schauen uns dann gemeinsam an, wo es Möglichkeiten gibt, das Business auf das Level der Freizeitindustrie zu heben und wo man mit welchen Mechanismen ansetzen kann.

Hier möchte ich gerne noch einmal auf Karls verweisen: Wenn man sich bei Karls umschaut, dann sieht man dort viele liebevolle Details, kleine Take-aways, die schon ganz viel bewirken können, bis hin in die liebevolle Gestaltung, das Serviceversprechen und wie die Marke aufgestellt ist. Fazit: Lösungen müssen nicht immer sehr, sehr groß sein. Oft muss man die Sachen nur liebevoller aufeinander abstimmen.

Woran denken Sie bei Retail-Konzepten noch?
Wir denken an die Familie, die morgens am Samstag am Küchentisch sitzt und die Überlegung anstellt: Wir haben zwei Stunden gemeinsame Zeit, was wollen wir tun? Bei diesen Überlegungen muss man mitspielen und ein gutes Angebot parat haben. Die Familie muss sich einig sein, dass es sich lohnt, in die Stadt zu gehen, da dort für jeden etwas dabei ist, man noch etwas essen kann und auch für Entertainment gesorgt ist. Da müssen wir hinkommen: Städte müssen die Mechanismen der Freizeitindustrie bedienen, denn die Freizeitindustrie ist sehr demokratisch, weil sie für alle da sein will und allen schöne Erlebnisse bietet.

Seit Jahren wird über die Zukunft der Innenstadt und Online-Shopping gegen stationären Handel diskutiert. Ist es denn so dramatisch, dass die Innenstädte wirklich untergehen werden?
Es ist kein neuer Prozess, dass sich der Handel durch die Digitalisierung extrem verändert. Bisher war Deutschland noch ein bisschen das Land der Seligen, weil die Kunden nicht so digitalaffin waren. Spätestens durch Corona hat jetzt aber auch meine Mutter gelernt, wie man online bestellt und das macht sie auch weiterhin fleißig. Diese Entwicklung wird man nicht mehr zurückdrehen können. Das heißt, der Evolutionszwang durch E-Commerce wird sich nun nochmal dramatisch beschleunigen. Bereits jetzt findet eine dramatische Bereinigung statt, die man unseren Innenstädten ansieht. Es ist ein bisschen wie ein Buschfeuer, das einmal alles klärt und danach Neues wachsen lässt. Aktuell kommen ganz viele junge Konzepte auf den Markt, zum Beispiel autonome Stores oder auch kuratierte Flächen wie B8ta aus den USA oder _blaenk aus Deutschland. Diese Konzepte finden günstige Mieten vor und eine andere Bereitschaft von den Vermietern, Konzepte zu wagen, die man sonst nie gemacht hätte.

Eine Studie vom EHI belegt, dass gerade die Vielfalt im Einzelhandel die lebenswerte und die liebenswerte Innenstadt ausmacht. Es trägt ganz viel dazu bei, dass man sich wohlfühlt, wenn die City schön durchmischt ist mit Handel, Gastronomie, Entertainment, kulturellen, aber auch nichtkommerziellen Angeboten.

Der Klimawandel ist in aller Munde. Was bedeutet er für die Innenstädte und den Einzelhandel in der City?
Unsere Städte müssen eine Antwort auf den Klimawandel geben und resilient werden. Das heißt, wir müssen Lösungen für die Überhitzung von Innenstädten finden. Also Autos raus und mehr Grün rein. Wir müssen Lösungen für Starkregen finden, das heißt eine »Schwammstadt« mit unversiegelten, atmenden Flächen und unversiegelten Dächern. Grün, grün, grün ist die Antwort auf die Herausforderungen der Zukunft. Über Jahrzehnte war das Auto der wichtigste Kunde der Innenstadt. Doch wir merken, die letzten Meter macht der Kunde, die Kundin immer zu Fuß. Wir brauchen jetzt eine gute Infrastruktur, sodass es kein schmerzhafter Abschied ist, wenn man das Auto nicht bis vor die Ladentür fahren kann, sondern ein sehr schöner, weil es viel mehr Qualität und interessante Angebote gibt.

Das Interview führte
Florian Treiß,
Location Insider

Erstdruck: Retail-Fachdienst locationinsider.de


Nicole Srock.Stanley gründete 1999 die dan pearlman Group, eine Gruppe inhabergeführter, strategischer Kreativagenturen mit Sitz in Berlin, und ist seitdem CEO der Unternehmensgruppe, die nicht nur für Händler und Marken aktiv ist, sondern auch Erlebnisarchitektur für Zoos, Aquarien und Freizeitparks erschafft.